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Die Lücken der Rentenreform

von Lukas Lingenthal, Markus Dammann-Quintero

Brasilien reformiert sein Rentensystem. Doch vieles bleibt auch unbehandelt.

Der Staatshaushalt und die demographische Entwicklung Brasiliens machen eine Reform des Renten- und Pensionssystems zwingend notwendig. Schon seit den neunziger Jahren laufen die Bemühungen, das defizitäre Rentensystem zu erneuern. Am 28. März nahm die aktuelle Reform des Pensionssystems der Bundesbeamten im Senat die letzte Hürde und kann nun durch Präsidentin Rousseff in Kraft gesetzt werden. Doch zuvor wurde sie jahrelang immer wieder auf Eis gelegt, während das Defizit jährlich etwa 1,5% des BIP beträgt, die Geburtenrate zurückgeht und die Lebenserwartung steigt.

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Bislang beruht das brasilianische Rentensystem auf einer Pflichtversicherung. Grundlage bilden dabei ein Generationenvertrag, sowie die Finanzierung über Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. Das System unterscheidet drei Gruppen: Arbeitnehmer des privaten Sektors, öffentliche Angestellte und Militärangehörige. Das Instituto Nacional da Seguridade Social (INSS) ist für das allgemeine Rentensystem der privaten Arbeitnehmer zuständig und zahlt aktuell an circa 28 Millionen Personen Renten aus. Das Rentensystem des öffentlichen Sektors, das RPPS (Regime Próprio da Previdência Social), ist dezentral organisiert und unterscheidet zwischen zivilen und militärischen Beamten. Jede Gebietskörperschaft (Bund, Bundesstaaten und Gemeinden) führt eine eigene Rentenversicherung für seine Angestellten.

Der demografische Wandel in Brasilien

Die Dringlichkeit einer Rentenreform wird bei der Betrachtung der Projektion der demographischen Entwicklung bis 2050 deutlich. Zwischen 2040 und 2050 wird die Gesamtbevölkerung schrumpfen. Unter 15-jährige wird es dann 43% weniger geben als noch 2010. Auch der erwerbstätige Bevölkerungsteil zwischen 15 und 59 Jahren wird ab 2030 abnehmen. Wachsen wird hingegen die Gruppe der über 60-jährigen, so dass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung 2050 4,5 mal so hoch sein wird wie noch im Jahr 2000.

Als Folge werden weniger Berufstätige immer mehr Pensions- und Rentenbezieher versorgen müssen. 2010 standen 10 Personen ab 65 Jahren 100 berufstätigen Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren gegenüber, dieses Verhältnis wird 2050 etwa 36 zu 100 betragen.

Ein zweiter Trend ist der Anstieg des Anteils an Frauen im Rentensystem. Ihre Rolle im Arbeitsmarkt wird größer und ihre Lebenserwartung höher. In Brasilien sind Frauen mit 55 Jahren bereits im Pensionsalter, während Männer dieses erst mit 60 Jahren erreichen. Dadurch wird das eben geschilderte Problem noch weiter verschärft. Vom zunehmenden weiblichen Anteil am Arbeitsmarkt fehlen fünf Beitragsjahre im Vergleich zur Beitragszeit von Männern nicht nur, sondern erzeugen statt Beiträgen bereits fünf Jahre früher Kosten. Hinzu kommt die durchschnittlich höhere Lebenserwartung von Frauen, was den Auszahlungszeitraum noch weiter verlängert. Im internationalen Vergleich ist das Renteneintrittsalter Brasiliens eines der niedrigsten.

Die finanzielle Entwicklung des Rentensystems in Brasilien

Die demografische Entwicklung hat zu einem immer größeren Defizit des brasilianischen Rentensystems geführt. Traditionell negativ fällt die Bilanz des Rentensystems des Bundes aus, vor allem weil dort den rund 960.000 Pensionären gerade einmal 1,12 Millionen aktive Staatsdiener gegenüberstehen. Das Verhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben ist bei den Bundesbeamten somit um ein vielfaches schlechter als beim für die privaten Angestellten zuständigen INSS.

Auch entsteht das Defizit durch die Privilegierung bestimmter Einzelgruppen. Während die Angehörigen der Streitkräfte zwar sehr hohe, aber nicht die höchsten Renten beziehen, verursachen sie durch die verhältnismäßig hohe Zahl Pensionierter das relativ größte Defizit. Die Beamten der Legislative beziehen die höchsten Renten und Pensionen, die Gesamtausgaben für sie sind jedoch vergleichsweise gering.

Das aktuelle Reformprojekt im Kontext

Die aktuelle Reform bezieht sich auf die Restrukturierung des Rentensystems des Bundes. Der Reformprozess gestaltete sich extrem schwierig und langwierig auf Grund stark divergierender Interessen und Meinungen, nicht nur zwischen der Opposition und dem Regierungsbündnis, sondern auch innerhalb der Regierungskoalition. Zudem sorgten mehrere Korruptionsskandale, in die die Arbeiterpartei (PT) während Lulas erster Amtszeit als Präsident verstrickt war, für weitere Verzögerungen der Rentenreform. Die Diskussion dieser Reform war von Anfang an emotional aufgeladen und wurde daher von Lula auf die Zeit nach seiner Wiederwahl verschoben.

Erst im Juli 2011 erfuhr die Reform neuen Aufwind, als die neu gewählte Präsidentin Dilma Rousseff den Sozialminister Garibaldi Alves Filho mit der Neubearbeitung des Gesetzentwurfs zur Neustrukturierung der Rentenversicherung beauftragte. Der Grund für die Priorisierung des Vorhabens durch Rousseff zu Beginn ihrer Amtszeit ist denkbar einfach: laut Angaben des Planungsministeriums werden zwischen Januar 2012 und Dezember 2015 circa 40% der Bundesbeamten in Pension gehen, also etwa 444.000. In den nächsten drei Jahren will die Bundesregierung aber nur circa 54.000 neue Mitarbeiter einstellen. Das neue Rentenrecht soll, wenn möglich, schon für die neue Generation gelten, um den Staatshaushalt so früh wie möglich zu entlasten. Zudem dürfte es für Dilma Rousseff eine Rolle spielen, die im linken Spektrum unpopuläre Reform in der ersten Hälfte der Amtsperiode umzusetzen, um die eigenen Beliebtheitswerte nicht in zeitlicher Nähe zur nächsten Präsidentschaftswahl zu belasten.

Der Gesetzesentwurf der Regierung basiert auf der 2003 vorgenommenen Verfassungsänderung, nach der die Beamten - gleich den Versicherten aus dem privaten Sektor - zum allgemeinen Rentensystem RGPS Beiträge entrichten sollen. Der Staat wird bei Gehältern bis 3.900 Reais (ca. 1.650 Euro) pro Monat einen Betrag in Höhe von 22% des Gehalts zur Renteneinzahlung beitragen, die Beamten selbst 11%. Wer darüber hinaus seine Pensionsansprüche erhöhen möchte, kann freiwillig in eine Ergänzungskasse einzahlen, wobei es bis zu einem Betrag von 8,5% des Einkommens eine staatliche Zulage in gleicher Höhe gibt. Das neue System soll für alle gelten, die nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Ergänzungsrente in den öffentlichen Dienst eintreten. All diejenigen, die bereits im Staatsdienst stehen, können sich nun innerhalb von 24 Monaten zwischen dem alten und dem neuen System entscheiden.

Bei Gegenüberstellung der Staats- und Beamtenbeiträge ändert sich das Verhältnis somit von 2/1 zu 1/1 ab dem Deckelungsbetrag des INSS. Das Verhältnis wird aus Sicht des Beamten schlechter. Dafür sind sie ab diesem Betrag nicht mehr verpflichtet, weiterhin 11% ihres Gehaltes in die Rentenversicherung einzuzahlen und können ihre Beitragshöhe frei bestimmen.

Auf diese Weise sollen jährlich durchschnittlich 20 Milliarden Reais (ca. 850 Millionen Euro) eingespart werden. Dadurch soll das Rentensystem nach Berechnung des Finanzministeriums zwischen 2040 und 2050 eine positive Bilanz entwickeln.

Tauziehen innerhalb des Regierungslagers

Die Debatte über das von der Regierung vorgeschlagenen Modell der Ergänzungsrente erzeugte große Kontroversen innerhalb des Regierungslagers. Während die Präsidentin und der zuständige Minister angaben, mit der Einführung des Rentenergänzungsfonds den Haushalt der Bundespensionen ausgleichen zu können, argumentierten Abgeordnete der Regierungspartei PT, dass die öffentliche Rente gar nicht defizitär sei, sondern einen Überschuss von ca. 24 Milliarden Euro produziere. Das größte Problem liege bei den jährlichen Sollzinsen des Bundes in Höhe von ca. 74,4 Milliarden Euro. Die Oberstaatsanwältin von São Paulo, Zélia Luiza Perdoná argumentierte, dass das Defizit nicht vom aktuellen System verursacht werde, sondern von der Rente der Beamten, die die Pension noch nach dem System ausgezahlt bekämen, für das die in der Verfassungsänderung 2003 eingeführte Obergrenze noch nicht gelte.

Die Gewerkschaften lehnten die Reform generell ab, da sie befürchten, dass die Pensionäre stärkeren Marktrisiken ausgesetzt werden.

Ein großes Hindernis stellte der Widerstand unter den Abgeordneten der Regierungskoalition dar. Letztlich setzten sich die Abgeordneten der PT durch. Sie hatten eine Erhöhung des staatlichen Beitrags von 7,5% auf 8,5% gefordert. Mit dem zusätzlichen Prozent soll ihrer Vorstellung nach ein Ausgleichsfond geschaffen werden, der Sonderpensionen finanziert, die unter anderem an Frauen, Polizisten und Lehrer ausgezahlt werden. Mit diesem Fond sollen auch Kosten gedeckt werden, die durch diejenigen erzeugt werden, die länger als 25 Jahre Pension beziehen. Weiterhin setzten die Abgeordneten durch, dass es drei statt nur einem Fond gibt – für Exekutive, Legislative und Judikative jeweils einen.

Mit den Stimmen der PT sowie der Oppositionsparteien PSDB und DEM wurde der Entwurf nun im Senat verabschiedet. Die Senatoren der PSDB kommentierten die Abstimmung in Anspielung auf die an der damaligen Opposition gescheiterten Reform unter Präsident Fernando Henrique Cardoso (PSDB) nach dem Motto „besser spät als nie“.

Viele Probleme bleiben bestehen

Die bisherigen Rentenreformen hatten stets nur relativ kleine Teile der Bevölkerung betroffen. Die erste, 1998 unter der Regierung Fernando Henrique Cardosos, fiel kleiner aus als zunächst geplant und änderte lediglich für das Rentensystem des privaten Sektors die Bemessungsgrundlage und hob das Mindestalter für den Renteneintritt in das Pensionssystem des öffentlichen Sektors an.

Die zweite Rentenreform, 2003 zur Regierungszeit Lulas, führte eine Obergrenze für Renten und Pensionen ein und eine Steuer von 11% auf den Teil der Renten, der über die Höchstrente des INSS hinaus geht. Die letzteren betreffen de facto nur diejenigen, die eine besonders hohe Vergütung erhalten. Außerdem gelten die Neuregelungen nicht für die bereits Pensionierten, die mittelfristig weiterhin eine hohe Belastung für den Haushalt sein werden.

Änderungen am Rentensystem sind generell ein politisch heikles Unterfangen. Es ist an vielen Stellen defizitär, so dass sich die Behandlung einzelner Problemgebiete schwierig gestaltet, da die entsprechenden Gegner die Legitimität der Reform in Frage stellen können solange nicht der Großteil der defizitären Problemzonen behandelt wird. Hinzu kommt, dass diese Reformen erst langfristig Ergebnisse zeigen. Solange die Reformbemühungen, wie bisher, nur einzelne Gruppen betreffen, werden sich diese stets als „Opfer“ für eine fadenscheinige Lösung eines gesamthaushaltswirtschaftlichen Problems darstellen können und erbitterten Widerstand leisten.

Weiter ist zu beachten, dass das brasilianische Rentensystem in der Verfassung geregelt ist, was für grundsätzliche Reformmaßnahmen eine Verfassungsänderung nötig macht. Dies brachte schon bei der letzten Reform 2003 einen komplexen Abstimmungsprozess mit sich. Weiterhin lässt das aktuelle Wirtschaftswachstum des Landes und dessen weltweiter Ruf als prosperierender BRICS-Staat viele über die Reformbedürftigkeit des Systems hinweg schauen.

Das heiße Eisen der Pensionen der Streitkräfte

Ein wichtiger Kritikpunkt an der aktuellen Reform ist, dass die Pensionen der Angehörigen des Militärs mit Abstand am defizitärsten sind. Kritiker argumentieren, dass die von der Regierung gewollte Haushaltskonsolidierung selektiv auf die Bundesbeamten angewendet werde und diese, unter anderem sogar mit Verweis auf die Haushaltskrise Griechenlands, als Sündenböcke für das Haushaltsdefizit missbraucht würden. Soll der Haushalt ernsthaft ausgeglichen werden, sollte die Reform auch die Streitkräfte mit einschließen.

Immerhin wurde das Pensionssystem des Militärs im Jahr 2000 schon einmal geändert. Damals wurde der Pensionsbeitrag von 1% auf 7,5% des Solds erhöht. Auch existierte bis dahin die umstrittene „pensão das filhas solteiras“, durch die unverheiratete Töchter von Soldaten nach deren Tod eine Pension erhalten, bis sie heiraten. Diese “Unverheiratete-Töchter-Regelung“ der vor der Änderung in den Dienst getretenen Soldaten macht jedoch noch heute einen Teil des Defizits der Militärpensionen aus. Auch sind die Einnahmen geringer, da militärische Bundesbeamte im Gegensatz zu zivilen Bundesbeamten nur 7,5% statt 11% ihres Einkommens beitragen.

Doch die Streitkräfte sind in Brasilien auch nach dem Ende der Militärdiktatur weiterhin mächtig. Dies hat bei der Erhaltung der Privilegien sicherlich geholfen. Wohl auch, weil die Pensionsausgaben des Bundes für Soldaten mit 0,65% des BIP ein relativ kleines Haushaltsproblem darstellen, das jedoch vergleichsweise unangenehm zu behandeln ist. Eine Rentenreform für die Angehörigen der Streitkräfte würde der aktuellen Neugestaltung jedoch mehr Effektivität und Legitimität verleihen.

Strukturelle Probleme und Aussichten

Die strukturellen Probleme des Rentensystems des privaten Sektors blieben in diesem Text unbehandelt. Dennoch soll auch hier kurz auf den Reformbedarf hingewiesen werden. Das Defizit auch dieses Rentensystems ist in den letzten 15 Jahren stark angestiegen. Das wird nicht nur durch eine immer ältere Gesellschaft verursacht, sondern auch durch die Koppelung der Mindestrente an den Mindestlohn. Besonders seit Lulas Amtsantritt erhöht die Regierung regelmäßig den Mindestlohn als Teil ihrer Politik der Armutsbekämpfung. Auf diese Weise erhöht sie auch die Renten, was eine immer größere Auswirkung auf den Staatshaushalt haben wird. Für das Jahr 2012 hat die Regierung eine Erhöhung des Mindestlohns um 14% von 545 auf 622 Reais beschlossen, die höchste Realerhöhung seit 2006. Infolge dessen werden die zusätzlichen Sozialausgaben im Vergleich zu 2011 um ca. 9,3 Milliarden Euro zunehmen.

Auch dieser Themen sollte sich die Regierung möglichst bald angehen, wenn sie den Staatshaushalt konsolidieren und ihn weniger empfindlich für internationale Wirtschaftskrisen machen möchte. Brasilien ist bislang gut durch die internationale Wirtschafts- und Finanzmarktkrise gekommen. Doch orientiert sich dessen Volkswirtschaft momentan immer stärker am Export von Primärgütern.

Im Jahr 2010 war mit fast 45% der Posten für Zinsausgaben, Abschreibungen und Refinanzierung von Schulden der mit Abstand größte im brasilianischen Bundeshaushaltsplan, während die Sozialausgaben nur 22% betrugen. Ein Großteil der Bundesschulden ist im Ausland, dessen Kosten unter anderem durch eine Bewertung des Haushalts bestimmt werden. Ende 2011 lobten die Rating-Agenturen Fitch und Standard & Poors die Fiskalpolitik der brasilianischen Regierung und stuften die Klassifizierung brasilianischer Bonds von BBB- zu BBB auf. Damit ist Brasilien innerhalb des mittleren Risikobereichs aufgestiegen. Doch an einer Reform seiner strukturellen Probleme wird Brasilien nicht vorbeikommen können. Eine Konsolidierung des Haushalts, dessen Teil die Rentenreform ist, würde neben der nötigen Finanzpolitik zu einer Erhöhung der Bonität Brasiliens beitragen und die Reduzierung der immensen Bundesschulden erleichtern.

Die Reform des Pensionssystems der Bundesbeamten ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung. Stellt man allerdings die Zahl der davon betroffenen – etwa zwei Millionen Einzahler und Bezieher – den rund 195 Millionen Brasilianern der Gesamtbevölkerung gegenüber, wird klar, das noch viel zu tun ist.

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