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Länderberichte

EU-Türkei-Sondergipfel: Verhaltener Optimismus trotz vieler offener Fragen

von Dr. jur. Stefan Gehrold, Kai Zenner

Europäischer Ratsgipfel vom 07.03.2016

Nur zwei Wochen nach dem letzten Ratsgipfel trafen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs am 7.3.2016 erneut in Brüssel. Gemeinsam mit dem türkischen Premierminister Davutoğlu wurde nach einem Ausweg aus der anhaltenden Flüchtlingskrise gesucht. Auch bei diesem Gipfel wurde der ursprüngliche Zeitplan massiv überzogen, insbesondere durch das Einbringen diverser neuer Forderungen durch die türkische Regierung. Eine Einigung zwischen der EU und der Türkei soll nun auf dem regulären Ratsgipfel Mitte März erfolgen.

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EU-Türkei-Sondergipfel: Verhaltener Optimismus trotz vieler offener Fragen

Nur zwei Wochen nach dem letzten Ratsgipfel trafen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs am 7. März 2016 erneut in Brüssel. Gemeinsam mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoğlu suchten sie nach einem Ausweg aus der anhaltenden Flüchtlingskrise. Die türkische Regierung, brachte diverse neue Forderungen ein: So versprach sie ein härteres Vorgehen gegen Schlepper und die Aufnahme von illegal nach Griechenland eingereisten Flüchtlingen, verlangte dafür aber zugleich mehr Geld, eine baldige Visaliberalisierung, Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen sowie die Aufnahme von registrierten syrischen Flüchtlingen durch die EU. Eine Einigung zwischen der EU und der Türkei konnte am Montag nicht erzielt werden, wird nun aber für den regulären Ratsgipfel Mitte März angestrebt. Bestehende Konflikte sollen bis dahin auf der Arbeitsebene gelöst werden.

Ursprünglich sollte das Treffen mit dem türkischen Premierminister, Ahmet Davutoğlu, schon während des Februargipfels stattfinden. Nach dem Terroranschlag in Ankara am 17. Februar 2016 sagte dieser seine Teilnahme allerdings kurzfristig ab. Die Abwesenheit Davutoğlus und die zeitlich sowie inhaltlich umfangreichen Diskussionen über den 'EU-Reform-Deal' mit Großbritannien führten dazu, dass die Staats- und Regierungschefs keine neuen Maßnahmen zur Lösung der Flüchtlingskrise vereinbarten. In seinen Schlussfolgerungen unterstrich der Europäische Rat im Februar nur die Not-wendigkeit eines effektiven Schutzes der Außengrenzen und die Bedeutung des zügigen Aufbaus von Hotspots und Aufnahmezentren. Das Treffen mit Ahmet Davutoğlu wurde schließlich Anfang März im Rahmen eines Sondergipfels nachgeholt. Als Gesprächsgrundlage für das Treffen mit dem türkischen Premier diente der sog. 'EU-Türkei-Aktionsplan' des EU-Türkei-Sondergipfels vom 29. November 2015. Die Türkei verpflichtete sich darin, die Zahl der illegalen Zuwanderer zu reduzieren, die Situation der Flüchtlinge im eigenen Land zu verbessern und enger mit der EU beim Grenzschutz zusammenzuarbeiten. Die EU versprach im Gegenzug finanzielle Unterstützung, eine Revitalisierung des EU-Beitrittsprozesses, eine Beschleunigung der Visaliberalisierung sowie eine Aufwertung der diplomatischen Beziehungen.

Ereignisse vor dem Gipfel: In den wenigen Tagen zwischen beiden Gipfeln wurden die Folgen der Schließung der mazedonischen Grenze immer deutlicher. So gelang es zwar, den Flüchtlingsstrom über die Balkanroute zu senken, gleichzeitig wurde aber die humanitäre Lage in Griechenland immer prekärer. Noch immer kommen tausende Flüchtlinge pro Tag nach Griechenland, können nun aber aufgrund der Grenzschließung nicht mehr weiterreisen. Die derzeit vorhandenen Auffanglager in Griechenland sind überfüllt. Auch im Nachbarland Türkei verschärfte sich die politische Lage Anfang März. Neben den anhaltenden Kämpfen der türkischen Armee gegen PKK-Kämpfer stellte die türkische Regierung die regierungskritische und auflagenstärkste Zeitung der Türkei 'Zaman' unter staatliche Zwangsverwaltung. Nachdem türkische Polizisten gewaltsam in das Zeitungshaus eingedrungen waren, gingen sie am Abend mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Demonstranten vor dem Gebäude vor. Wenige Tage vor dem EU-Türkei-Sondergipfel betonte der türkische Premierminister Davutoğlu, dass die Migrationskrise wieder einmal gezeigt habe, wie sehr die Türkei und die EU aufeinander angewiesen seien. Die Türkei wäre bereit, mit der EU zusammenzuarbeiten und bereit für eine EU-Mitgliedschaft. Angesichts der Verletzungen der Pressefreiheit und der gewaltsamen Auseinandersetzungen mit kurdischen Kämpfern, warnte der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, die Türkei davor, die historische Chance für eine Annäherung zu verspielen. Die EU würde der Türkei – trotz Migrationskrise – keine Nachsicht bei der Einhaltung der Grundwerte gewähren.

Auch innerhalb der Europäischen Union war man sich nicht einig. Österreich organisierte Ende Februar eine Konferenz mit neun südosteuropäischen Staaten. Die Teilnehmer verständigten sich auf gemeinsame Maßnahmen in der Flüchtlingspolitik und gegenseitige Unterstützung. Die Grenzen entlang der Balkanroute werden für Flüchtlinge komplett geschlossen. Die griechische Regierung bezeichnete die Konferenz im Anschluss als einen feindseligen Akt. Österreich und die anderen Balkanstaaten verstießen gegen europäisches Recht und verursachten mit ihren Alleingängen eine humanitäre Katastrophe in Griechenland. Das Mitgefühl mit der griechischen Regierung hielt sich in vielen Mitgliedstaaten allerdings in Grenzen. Monatelang hatte die Regierung Tsipras die Forderungen der EU hinsichtlich der Errichtung von Hotspots sowie von Aufnahmezentren nur schleppend umgesetzt. Ferner war es die griechische Regierung, die Flüchtlinge ohne jegliche Registrierung in Richtung der Nachbarstaaten abschob und damit den Druck auf diese und Mitteleuropa erhöhte. Auf der anderen Seite unternahmen die griechischen Behörden deutlich zu wenig, um die Schengen-Außengrenzen gegen illegale Immigration zu sichern. Einige Beobachter vertraten die Meinung, dies hätte Methode und wäre der wenig verhohlene Versuch der Regierung Tsipras die restlichen Mitgliedsstaaten unter Druck zu setzen und sie für die außer ihrer Sicht oktroyierte Sparpolitik zu "bestrafen".

Die Europäische Kommission stellte kurz vor dem Sondergipfel zwei Maßnahmenpakete zur Eindämmung einiger aktueller Probleme vor. Zum einen schlug sie ein Soforthilfepaket vor, mit dem Mitgliedstaaten (aktuell Griechenland) rasch und zielgerichtet in Notfallsituationen geholfen werden soll. Die hierfür angedachten 700 Mio. Euro werden dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) und dem Fonds für die innere Sicherheit entnommen. Zum anderen wurde ein Fahrplan zur Wiederherstellung des Schengen-Raums vorgelegt. Die Außengrenzen sollen umfassend verstärkt, die Politik des 'Durchwinkens' von Flüchtlingen beendet und die Dublin-Vorschriften wieder angewandt werden. Ziel: Die Aufhebung jeglicher Kontrollen der Binnengrenzen bis Dezember 2016 . Ratspräsident Donald Tusk unterstützte die Pakete der Kommission und zeigte sich vor dem Sondergipfel optimistisch. Auf seinen bilateralen Treffen mit Staats- und Regierungschefs habe sich gezeigt, dass sich ein Europäischer Konsens entwickelt habe.

Ergebnisse des EU-Türkei-Sondergipfels: Noch am Vorabend des Ratsgipfels sprachen Ahmet Davutoğlu, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der niederländische Premierminister Mark Rutte lange miteinander. Der türkische Premierminister überraschte seine beiden Amtskollegen mit neuen Forderungen, die von der mit Ratspräsident Tusk vereinbarten Gesprächsgrundlage für den Gipfel abwichen. Ein härteres Vorgehen gegen Menschenschmuggler und eine Rücknahme aller über die Türkei illegal in die EU eingereisten Flüchtlinge machte die türkische Regierung von der Erfüllung ihrer vier Kernforderungen abhängig:

(1) Die Türkei verlangt ab 2018 zusätzliche 3 Mrd. Euro für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in ihrem Hoheitsgebiet.

(2) Eine vollständige Visaliberalisierung – türkische Staatsbürger sollen schon ab Juni 2016 ohne Visum in die EU reisen können.

(3) Die Öffnung von fünf weiteren Kapiteln in den EU-Beitrittsverhandlungen. Dabei handelt es sich um Kapitel 15 (Energie), 23 (Grundrechte/Justiz), 24 (Sicherheit), 26 (Bildung), 31 (Außenpolitik).

(4) Die EU soll die Kosten der Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei komplett übernehmen. Zudem soll für jeden von der Türkei wieder aufgenommenen Syrer, ein in der Türkei ordnungsgemäß registrierter syrischer Flüchtling in die EU einreisen dürfen.

Der eigentliche Gipfel begann am Montagmorgen mit einem kurzen Treffen zwischen dem türkischen Premierminister, Ratspräsident Tusk, Kommissionspräsident Juncker und Parlamentspräsident Schulz. Auf der Lunch-Sitzung informierte Davutoğlu dann auch die restlichen Staats- und Regierungschefs über die neuen türkischen Forderungen, was zu einer intensiven Debatte führte. Es folgte eine Vielzahl von bilateralen Treffen. Erst gegen 0:30 Uhr morgens konnten sich die Staats- und Regierungschefs auf eine gemeinsame Stellungnahme einigen. Insbesondere die einseitige (türkische) Aufgabe der vom Ratspräsident Tusk, der türkischen Regierung und den 28 Botschaftern der EU-Mitgliedstaaten zuvor erarbeiteten Gesprächsgrundlage löste Verärgerung aus. Mehrere Mitgliedstaaten lehnten eine Zahlung von weiteren 3 Mrd. Euro an die Türkei kategorisch ab. Die Verknüpfung der Flüchtlingskrise mit der türkischen EU-Beitrittsperspektive wurde ebenfalls beanstandet. So sagte Parlamentspräsident Martin Schulz, dass eine Beitrittsperspektive weiterhin von der Erfüllung gewisser Kriterien abhinge. Zypern sprach sich aufgrund des ungelösten Konfliktes mit der Türkei gänzlich gegen die Eröffnung weiterer Beitrittskapitel aus. Ferner führte die vorläufige Formulierung, dass die Balkanroute nun für Flüchtlinge geschlossen wäre, zu Meinungsverschiedenheiten. Bundeskanzlerin Merkel konnte sich letztlich durchsetzen, dass der Passus in "irreguläre Migrantenströme über die Westbalkan-Route sind zu einem Ende gekommen" geändert wurde. Auf Drängen Italiens, Großbritanniens und Belgiens wurde im Abschlussstatement auch auf die Diskussionen über die Pressefreiheit in der Türkei hingewiesen.

Aufgrund des massiven Widerstands – die ungarische Regierung drohte am Ende des Gipfels gar mit ihrem Veto – konnten sich die Staats- und Regierungschefs nicht auf eine konkrete Annahme der türkischen Forderungen einigen. In ihrem Statement begrüßten sie die Vorschläge lediglich und einigten sich darauf, diese als Basis weiterer Diskussionen bis zum nächsten Ratsgipfel am 17./18. März zu nutzen. Kommissionspräsident Juncker zeigte sich nach dem Gipfel dennoch optimistisch und sprach von einem 'game changer'. Die neue Gesprächsgrundlage könnte die derzeitige Situation grundlegend verändern. Dem Geschäftsmodel der Menschenschmuggler wäre so die Grundlage entzogen. Dem Vorwurf, die Rückführung von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei wäre europarechts- und menschenrechtswidrig, widersprach Jean-Claude Juncker. Art. 33 und 38 der EU-Richtlinie zum Asylverfahren erlaubte es Griechenland, Flüchtlinge in einen sicheren Drittstaat (hier die Türkei) zurückzuführen. Ratspräsident Tusk und Bundeskanzlerin Merkel sprachen in ihren anschließenden Pressekonferenzen von einem Durchbruch, wiesen aber darauf hin, dass wichtige Details noch geklärt bzw. die Maßnahmen auch wirklich umgesetzt werden müssten.

Ausblick und Kommentar: Die Ergebnisse des Sondergipfels wurden bei vielen politischen Beobachtern mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Sitzungen der Staats- und Regierungschefs sind am erfolgversprechendsten, wenn sie umfassend vorbereitet werden. Vor dem Gipfel sind meistens nur noch einige Punkte offen, die dann von den Staats- und Regierungschefs entschieden werden. Am Ende steht schließlich der europäische Konsens. Über die letzten 12 Monate wurde dieses bewährte Verfahren allerdings gleich mehrfach außer Kraft gesetzt. Während der griechischen Schuldenkrise ließ die griechische Regierung ihre Unterhändler mehrfach Einigungen mit der EU aushandeln, erklärte diese dann auf dem Ratsgipfel als hinfällig und stellte stattdessen neue Forderungen. Premierminister Cameron überraschte seine Amtskollegen auf dem Februargipfel mit einer Reihe von neuen Forderungen, die teils erheblich von der mit Ratspräsident Tusk ausgehandelten Gesprächsgrundlage abwichen.

Die türkische Regierung hat nun eine ganz ähnliche Strategie gewählt. Diese Entwicklung ist aus mehreren Gründen problematisch:

(1) die umfassenden, qualitativ hochwertigen und unter den Mitgliedstaaten abgestimmten Vorüberlegungen können nicht mehr verwendet werden

(2) die Diskussionen der Staats- und Regierungschefs finden immer häufiger in einem emotional aufgeheizten, wenig strukturierten und hektischen Umfeld statt. Während und zwischen den Sitzungen müssen die Schlussfolgerung schnell erneuert werden. Vertagungen oder sogar Fehlentscheidungen können die Folge sein

(3)andere Akteure könnten aus den genannten Fallbeispielen schließen, dass die EU auch bei ihnen nachgeben wird und sich folglich auch nicht mehr an vorherige Verhandlungsergebnisse gebunden fühlen

(4) Verhandlungen dieser Art fördern schließlich nicht das gegenseitige Vertrauen, sondern verstärken Misstrauen und schüren innergemeinschaftliche Konflikte. Langfristige Kooperationen werden jedenfalls erschwert.

Trotz dieser eher grundsätzlichen Kritik am Verlauf des Sondergipfels sind die erzielten Ergebnisse sowie die kürzlich verkündeten europäischen Vorhaben positiv zu bewerten. Die von der Europäischen Kommission vorgestellte Roadmap zur Wiederstellung des Schengen-Raums, die Initiative zur Fortentwicklung des Dublin-Systems und der Wille zur Lösung der humanitären Notlage in Griechenland sind wichtige Schritte hin zur Eindämmung der aktuellen Krise. Die Staats- und Regierungschefs begrüßten in ihren Schlussfolgerungen die Kommissionspläne, wie auch die NATO-Aktivitäten in der Ägäis. Der aktuell diskutierte türkische Vorschlag hat das Potential, die illegale Migration zu stoppen. Flüchtlinge erhielten einen Anreiz, legale Wege nach Europa zu wählen. Der EU-Türkei-Aktionsplan in Verbund mit dem NATO-Einsatz in der Ägäis erschwerte die Aktivitäten von Menschenschleppern. Wie Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Pressekonferenz unterstrich, muss der Aktionsplan aber auch umgesetzt werden. Zwar tragen die Staats- und Regierungschefs das Grundgerüst des türkischen Vorschlags, über die Details herrscht aber noch massiver Diskussionsbedarf. Es bleibt zu hoffen, dass diese Meinungsunterschiede schon bis zum nächsten Gipfel in zehn Tagen gelöst werden können.

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