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"Parlamentswahlen in Belgien - Neuauflage der Regierung Verhofstadt und Ende der Regebogenkoalition?"

von Martin Brunner
In Belgien haben die Liberalen von Ministerpräsident Verhofstadt und die mitregierenden Sozialisten die Wahlen gewonnen. Die beiden Parteien waren sowohl in Flandern als auch in Wallonien erfolgreich und können nun auch ohne ihren bisherigen grünen Koalitionspartner regieren. Die christdemokratische Partei CD&V fiel in Flandern auf den dritten Platz zurück.

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In Belgien haben am Sonntag 7,5 Millionen Stimmberechtigte über die neue Zusammensetzung des Parlaments abgestimmt. Nach Auszählung fast aller Stimmen haben die Liberalen von Ministerpräsident Verhofstadt und die mitregierenden Sozialisten die Wahlen gewonnen. Sie erhalten zusammen voraussichtlich 97 der 150 Sitze im belgischen Abgeordnetenhaus. Die beiden Parteien waren sowohl in Flandern als auch in Wallonien erfolgreich und können nun auch ohne ihren bisherigen grünen Koalitionspartner regieren. Die Grünen lagen im flämischen Teil unterhalb der Fünf-Prozent Hürde. Auch in Wallonien im Süden Belgiens mussten sie Verluste hinnehmen. Die christdemokratische Partei CD&V fiel in Flandern auf den dritten Platz zurück. Zugewinne gab es erneut für den rechtsradikalen Vlaams-Block, der sich als viertstärkste politische Kraft behaupten konnte. (Quelle: DeutschlandRadio-Aktuell)

Am 18. Mai 2003 musste sich die sogenannte Regenbogenkoalition im belgischen Parlament zusammengesetzt aus Liberalen, Sozialisten und Grünen, erstmals dem Votum der Wähler stellen, die Kammer und Senat neu wählten. Das Ergebnis kann mit Abstrafung der Grünen und Bestätigung der Liberalen und der Sozialisten resümiert werden. Die Regenbogenkoalition hatte nach dem politischen Erdrutsch bei den Wahlen des Jahres 1999 seinerzeit die Regierung übernommen, während die Christdemokraten nach über vier Jahrzehnten in Regierungsverantwortung in die Opposition verbannt worden waren.

Ausgangslage der Regenbogenkoalition

Nach dem Dioxinskandal (1999) und der Affäre um den Kinderschänder Dutroux (1996), konnte es die Regierung von Premierminister Guy Verhofstadt schon als Erfolg verbuchen, die Skandalserie nach ihrem Amtsantritt nicht fortgesetzt zu haben.

Steuersenkungen und ein ausgeglichener Haushalt gehören ebenso zur Regierungsbilanz, wie eine neue ethische Ausrichtung bei der Gesetzgebung, bezüglich Zulassung von aktiver Sterbehilfe, freierem Umgang mit weichen Drogen oder Ermöglichung der gleichgeschlechtlichen Ehe.

Auch als Person konnte Guy Verhofstadt sowohl bei Flamen, als auch bei Wallonen Punkte machen und empfahl sich somit als sein eigener Nachfolger.

Getrübt wurde die Bilanz durch die nicht zu verhindernde Pleite der Fluglinie Sabena, aber auch durch offen ausgetragene Konflikte innerhalb der Regierungskoalition bei den Themen Atomausstieg, Tabakwerbeverbot, Waffenlieferungen oder auch bezüglich des Gesetzes zur „universellen Zuständigkeit in Fragen des Menschenrechts“. Dieses Gesetz erlaubte es, jede Person vor ein belgisches Gericht zu stellen, die Menschenrechte verletzt. Dieses im Prinzip als fortschrittlich gepriesene Gesetz führte zu diplomatischen Verwicklungen, als Klagen gegen den israelischen Regierungschef Ariel Sharon und auch George Bush und George W. Bush eingereicht wurden, unlängst noch gegen den Oberbefehlshaber im Irakkonflikt, General Franks. Inzwischen wurde das Gesetz entschärft.

Ihren Höhepunkt erreichten die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Koalition nur zwei Wochen vor der Wahl, als die Verkehrsministerin Isabelle Durant und der Staatssekretär für Energie Olivier Deleuze der frankophonen Grünen (Ecolo), im Zusammenhang mit dem Streit um Flugrouten von Nachtflügen über Brüssel, zurücktraten. Dies führte zu der kuriosen Situation, dass Verhofstadt eilig zwei Minister nachnominierte, um das von der Verfassung verlangte Gleichgewicht von frankophonen und flämischsprachigen Ministern wieder herzustellen. Premierminister Guy Verhofstadt sprach danach jedoch davon, dass die Beziehungen zu Ecolo deutlich unter den Gefrierpunkt gesunken seien.

Der Fortbestand der Regenbogenkoalition war somit nicht unbedingt vorprogrammiert. Der Wahlkampf ist somit durch den Wunsch nach einer Neuauflage der Regierung Verhofstadt bestimmt worden, unter Ausschluss der Grünen, deren Regierungsfähigkeit angezweifelt wurde.

Besonderheiten des Belgischen Systems:

Einige Neuerungen wurden für die Parlamentswahlen 2003 eingeführt:

So gab es am 18. Mai erstmals eine 5 Prozent-Hürde, die auf Wahlkreisebene überwunden werden muss. Auch die Einführung der Frauenquote, die die paritätische Besetzung der Wahllisten mit Männern und Frauen verlangt, wurde zum ersten Mal angewandt. Um die Anzahl der Frauen im Parlament zu erhöhen, durften außerdem die ersten drei Plätze einer jeden Liste nicht mit dem gleichen Geschlecht besetzt werden. Bisher waren in Belgien 23,3 Prozent der Abgeordneten Frauen (zum Vergleich: 31,7 Prozent im deutschen Bundestag).

Deutlich sichtbare Resultate brachten jedenfalls schon die bürokratischen Erleichterungen bezüglich der Wahlmöglichkeiten für Belgier im Ausland: Während sich 1999 nur 18 im Ausland lebende Belgier beteiligten, gaben bei diesen Wahlen über 100 000 ihre Stimme ab! In den entferntesten Erdteilen wie Australien geschah dies schon zwei Tage vorher, somit konnten alle Wahlzettel pünktlich am 18. Mai in Belgien zur Auszählung vorliegen.

Wichtig ist auch die Trennung der Parlamentswahlen (Kammer und Senat) von Regional- und Gemeinschaftswahlen, die zur Folge hat, dass die Regierungsbildung nicht mehr wie zuvor auf allen Ebenen gleichzeitig erfolgt. Bisher hatten auch Kandidaten nicht unbedingt ihre Ambitionen auf die jeweilige Ebene verkündet, sondern handelten die Posten erst im Nachhinein aus. In diesem Jahr erfolgt dies mit mehr Transparenz.

Aus deutscher Perspektive sind die Wahlpflicht (Wer seiner Wahlpflicht nicht nachkommt, hat mit empfindlichen Geldstrafen zu rechnen) und die Möglichkeit zur elektronischen Stimmabgabe bemerkenswert: In knapp der Hälfte der Wahlbüros wurden die Stimmzettel durch Magnetkarten ersetzt. Auf Grund von Computerpannen bildeten sich jedoch zum Teil lange Warteschlangen mit Wartezeiten von bis zu zwei Stunden.

Auch die Zersplitterung des Parteiensystems nach Sprachgemeinschaften ist aus dem deutschen Blickwinkel erstaunlich. Während in Deutschland die CSU als bayrische Partei bekannt ist, hat in Belgien jede politische Richtung ein regionales Pendant. Und wie dies z.B. bei den Konservativen erkennbar ist, können sich die Ausrichtungen des flämischen und frankophonen Gegenstücks durchaus unterscheiden: So steht CD&V für christlich, demokratisch und flämisch, während das französische Kürzel CDH das demokratische Zentrum und Humanismus anspricht.

Da auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen nach den Sprachgemeinschaften getrennt ist, bemängeln Kritiker, dass kaum ein Austausch zwischen Wallonen und Flamen stattfindet. Ein schönes Beispiel für „nationalen Wahlkampf“ brachte jedoch der Spitzenkandidat der frankophonen Liberalen, Außenminister Louis Michel (MR). Michel warnte in Flandern davor, dass im Falle eines Siegs der Christdemokraten in Flandern diese eine Koalition mit den sozialistischen Parteien eingehen könnten und so am Ende gar ein Frankophoner (Elio Di Rupo), der der niederländischen Sprache nicht mächtig sei, Ministerpräsident werden könne.

Senats- und Kammerreform

Das frisch gewählte Parlament wird wahrscheinlich bereits kurz nach der Regierungsbildung reformiert werden, zumindest hat die Regierung Verhofstadt die Weichen dafür gestellt: Der entsprechende Verfassungsartikel wurde vom scheidenden Parlament zur Revision freigegeben, bisher noch eine Bedingung für eine Verfassungsänderung (auch der Artikel für die Verfassungsänderung wurde zur Revision freigegeben).

In der Kammer, die in der politischen Bedeutung in etwa dem Bundestag entspricht, sollen nach den Reformplänen zu den 150 in den Wahlkreisen gewählten Abgeordneten, noch insgesamt 50 auf einer frankophonen bzw. flämischsprachigen Liste gewählte Abgeordnete hinzukommen.

Der Senat, ursprünglich eine gleichberechtigte zweite Kammer, hat im Laufe von Verfassungsreformen an Macht verloren und soll nun zu einer Vertretung der Sprachgemeinschaften werden. Wurden bisher noch 40 der 70 Mitglieder direkt gewählt, sollen künftig alle von den Gemeinschaftsparlamenten bestimmt werden. (35 Flamen, 34 frankophone und 1 deutschsprachiger Abgeordneter). Die volljährigen Königskinder, die bisher Senatoren von Rechts wegen waren, werden im neuen Senat keinen Platz mehr finden. Die neuen, direkt gewählten Abgeordneten werden wahrscheinlich in die Kammer übernommen werden, um diese auf 200 aufzustocken.

Ergebnisse

Die Wahlverlierer der Parlamentswahlen 2003 stehen eindeutig fest: Der bisherige Partner in der Regierungskoalition, die Grünen, mussten empfindliche Verluste hinnehmen. Die frankophonen Grünen von Ecolo halbierten ihr Ergebnis, während die flämischsprachigen Grünen von Agalev ihr Waterloo erlebten und nach 22 Jahren erstmals nicht einmal mehr den Sprung ins Parlament schafften. Hatte der Dioxinskandal den Grünen bei den letzten Wahlen noch viele Stimmen zugespielt, konnten aus der diesjährigen Geflügelpest keine Stimmen mehr gewonnen werden. Zu dogmatisch hatten sich die Grünen in der Regierung gezeigt.

Die Gewinner sind allerdings auch im Regierungslager zu finden: Zweistellige Zugewinne konnten die flämischen Sozialisten (SP.A-Spirit) in manchen Wahlkreisen für sich verbuchen und auch die Liberalen (VDL und MR) sowie die frankophonen Sozialisten (PS) konnten ihre Ergebnisse konsolidieren bzw. leicht verbessern. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren gingen somit Regierungsparteien gestärkt aus den Parlamentswahlen hervor, was die Spitzenpolitiker aller vier Parteien als Mandat des Wählers zum Weitermachen deuteten.

Die flämischen Christdemokraten (CD&V), die es sich zum Ziel gesetzt hatten, stärkste Partei in Flandern zu werden, um somit die Regierungsbildung angetragen zu bekommen, mussten ihre Niederlage eingestehen: Entgegen der Wahlprognosen, fand der spannende Kampf um die Vorherrschaft in Flandern nur zwischen Liberalen und Sozialisten statt, der CD&V blieb abgeschlagen nur der dritte Platz.

Die frankophone Schwesterpartei (CDH) (die ihr C von „christlich“ auf „centre“ umgetauft haben) hatten sich vor den Wahlen noch Hoffnungen gemacht, von der Zwietracht innerhalb der alten Regenbogenkoalition zu profitieren und als „ernster Partner“ Ecolo zu ersetzen. Doch auch der CDH wird trotz verbesserter Ergebnisse gegenüber den Grünen nur die Opposition übrig bleiben.

Rechte Parteien

Der Vlaams Blok konnte auch bei diesen Wahlen wieder sein Ergebnis verbessern und erreicht immerhin 18 Mandate. Dieses besorgniserregende Resultat war auch schon in den Prognosen vorhergesagt worden, hat jedoch keinen direkten Einfluss auf die Machtverhältnisse in Belgien, da der Vlaams Blok von den demokratischen Parteien isoliert wird.

Auch die frankophonen Rechten haben dem Front National zu einem Mandat in der Abgeordnetenkammer verholfen. Einen Sitz gewann auch die N-VA (Nieuw-Vlaamse alliantie) aus dem flämisch-nationalistischen Lager.

Viele kleinere Parteien, wie etwa „Rassemblement Wallonie-France, Bruxelles-France“, die die Wallonie an Frankreich anschließen wollen, scheiterten an der 5 Prozent-Hürde.

Wie wird die Regierung gebildet?

Wenn die amtlichen Endergebnisse feststehen, wird der König die Initiative zur Regierungsbildung ergreifen. Zunächst berät er sich mit den Vorsitzenden von Kammer und Senat und holt zudem die Meinung von anderen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein. Auf dieser Grundlage ernennt der König einen „Informanten“, meist einen erfahrenen Politiker, der verschiedene Koalitionsmöglichkeiten prüft. Diese Ergebnisse wiederum führen zur Einsetzung eines Regierungsbildners, meist der künftige Premierminister, der ein Regierungsabkommen der verschiedenen Koalitionsparteien ausarbeitet und eine Regierungsmannschaft zusammenstellt. Nach der Ernennung der Regierung durch den König, muss diese dann noch von der Abgeordnetenkammer bestätigt werden.

Die Frage, welche Parteien die neue Regierung bilden werden, ist weniger spannend, da die Liberalen und die Sozialisten zusammen über eine stabile Mehrheit von voraussichtlich 97 von 150 Sitzen im neugewählten Parlament verfügen. Die Parteiführer haben auch zugleich erklärt, dass sie dem Wählerauftrag entsprechend die Regierungskoalition fortführen wollen, allerdings unter Ausschluss der Grünen.

Offen ist allerdings noch die Frage, wer diese neue Regierung führen wird. Guy Verhofstadt hat zwar seine Partei schon zum Sieger der Wahlen erklärt, den Posten des Premierministers allerdings noch nicht offen beansprucht.

Es wird sich zeigen, welche Partei bzw. welches Richtungslager im Endeffekt in der Wählergunst ganz vorne lag. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch sehr hoch, dass der neue Premierminister ein Flame sein wird, denn die Akzeptanz eines frankophonen Premiers wäre in Flandern laut Umfragen sehr gering. Ein frankophoner Politiker müsste das Amt des Premierministers mit einer Hypothek von 72 Prozent Ablehnung bei der größeren Sprachengemeinschaft antreten.

Während sich also bei diesen Wahlen nationale Trends bei der Stimmabgabe zeigten, ist die Trennung des Landes in Sprachgemeinschaften jedoch ständig präsent. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass Brüssel zugleich Zentrum eines vereinten Europas und Hauptstadt eines zersplitterten Landes ist.

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