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Europa muss um seine Zukunft kämpfen - Ursula von der Leyens dringlicher Appell

von Dr. Beatrice Gorawantschy, Lavinia Klarhoefer

Rede zur State of the European Union (SOTEU) am 10. September 2025

Der Kampf um die Zukunft Europas - das war das Leitmotiv der ebenso kämpferisch vorgetragenen Rede zur Lage der Europäischen Union von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die erste Rede zur Lage der Union in der zweiten Amtszeit der Präsidentin war - hinsichtlich der Vielzahl an inner- wie außereuropäischen Herausforderungen, vor denen die EU gegenwärtig steht – mit Spannung erwartet worden. Im Folgenden werden die wichtigsten Vorhaben der SOTEU 2025 nach Themenfeldern zusammengefasst und eingeordnet.

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Hintergrund

 

Aktuell sicherheitspolitisch relevante Entwicklungen am Vorabend der Rede (israelischer Militärschlag auf Hamas-Funktionäre in Qatar und das Eindringen russischer Drohnen während Angriffen auf die Ukraine in den polnischen Luftraum) stehen exemplarisch für die volatilen geostrategischen Rahmenbedingungen. Hinzu kommen eine tiefgreifende Vertrauenskrise und innereuropäische Zerrissenheit zu zentralen Fragen sowie transatlantische Beziehungen, die auf dem Prüfstand sind. Die Dauerkrise in Frankreichs Innenpolitik und der Zusammenbruch der Regierung in den Niederlanden – beides Gründungsländer der EU - belasten die Situation zusätzlich.

 

Die Rede zur Lage der Union (SOTEU) der Kommissionspräsidentin im Europäischen Parlament ist ein zentraler Moment im politischen Jahreszyklus der EU: Sie zieht Bilanz, stellt Prioritäten vor und kündigt neue Initiativen für das bevorstehende Arbeitsjahr an. Die anschließende Debatte im Plenum soll die Rechenschaftspflicht der Kommission gegenüber dem Parlament stärken.[1] Im Folgenden werden die wichtigsten Vorhaben der SOTEU 2025 nach Themenfeldern zusammengefasst. Im Vorfeld der Rede hat die Kommission ein 69-seitiges Dokument veröffentlicht, welches auf den politischen Leitlinien der Kommission für 2024-2029 basiert, diese weiterentwickelt und eine Bilanz zum ersten Jahr zieht.[2]

 

Zentrale Vorhaben[3]

 

Außen- und Sicherheitspolitik

 

Ursula von der Leyen kündigte an, beim nächsten EU-Ratsgipfel einen konkreten Zeitplan mit klar definierten Zielen für neue gemeinsame Verteidigungsprojekte bis 2030 vorzulegen.

 

Um die Ukraine mit einem Reparationsdarlehen zu unterstützen, will die Kommission liquide Anteile der eingefrorenen russischen Vermögenswerte nutzen, ohne die Vermögenswerte selbst anzutasten. Ein neues Programm „Qualitative Military Edge“ soll die militärische Schlagkraft der ukrainischen Armee unterstützen und aus dem ERA (Extraordinary Revenue Acceleration) Darlehen sollen sechs Mrd. €  vorgezogen werden, um eine Allianz zur Produktion von Drohnen mit der Ukraine einzugehen. Von der Leyen warb zudem für die Unterstützung des 19. Sanktionspakets gegen Russland, das primär fossile Brennstoffe, die russische Schattenflotte und Umgehungen der Sanktionen durch Drittländer ins Visier nimmt. Ein weiteres zentrales Projekt ist die Stärkung der Ostflanke, bspw. durch eine Eastern Flank Watch - unter anderem mittels einer weltraumgestützten Echtzeit-Überwachung. Zudem kündigte sie die Einführung eines Europäischen Verteidigungssemesters an.

 

Erweiterung bleibt als sicherheitspolitisches Projekt leistungsorientiert und soll durch eine tiefere Integration in den Binnenmarkt beschleunigt werden.

 

Mit Bezug auf den Nahen Osten verkündet die Kommissionspräsidentin den Stopp bilateraler Unterstützung an Israel (mit Ausnahme der Zivilgesellschaft und Yad Vashem) und schlägt Sanktionen gegen extremistische Minister und gewalttätige Siedler sowie eine partielle Aussetzung handelsbezogener Teile des EU-Israel Assoziierungsabkommens vor. Zudem soll eine Geber-Gruppe für Palästina und ein Instrument für den Wiederaufbau in Gaza eingerichtet werden. Ziel bleibt eine sofortige Waffenruhe und längerfristig eine Zwei-Staaten-Lösung.

 

Wettbewerbsfähigkeit

 

Um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, hat von der Leyen einen Fahrplan für den Binnenmarkt bis 2028 angekündigt, der sich auf die Bereiche Finanzen, Energie, Telekommunikation und Wissenschaft/Innovation konzentriert. Omnibus-Pakete zur Entbürokratisierung sind darauf ausgelegt, Kosten um rund acht Mrd. € pro Jahr zu senken. Das 28. Regime zur Vereinfachung europäischen Rechts sowie die Spar- und Investitionsunion dienen der Mobilisierung von Kapital. Von der Leyen erwähnte außerdem die beabsichtigte Einrichtung eines Wettbewerbsfähigkeitsfonds und die Verdopplung der Mittel für Horizon Europe im neuen Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2028-2034. Ein neuer Scale-up Europe Fund soll helfen, wichtige Technologie-Startups in Europa zu halten. Zur Stärkung europäischer KI ist unter anderem die gezielte Förderung von KI-Gigafabriken geplant.

 

Industriepolitisch besonders hervorzuheben ist die Ankündigung eines neuen Industrial Accelerator Act zur Stärkung der Industrie sowie eines Made-in-Europe-Kriteriums für die öffentliche Beschaffung. Darüber hinaus wurde das Batterie-Booster-Paket als Bestandteil des Aktionsplans für die europäische Automobilindustrie in den Fokus gerückt. Von der Leyen stellte zudem ein neues langfristiges Instrument in Aussicht, das auslaufende Schutzmaßnahmen für den europäischen Stahlsektor gegen Chinas Überkapazitäten ablösen soll.

 

Bei der Nachhaltigkeits- und Energiepolitik bekräftigte von der Leyen die ambitionierten Ziele, die eine Reduzierung der Emissionen von 55 Prozent bis 2030 und 90 Prozent bis 2040 vorsehen. Zudem kündigte sie einen sozialen Klimafonds für einen gerechten Übergang an. Zur Modernisierung der Energieinfrastruktur ist ein neues Netzpaket sowie die Initiative "Energieautobahnen", die bestehende Engpässe beseitigen soll, geplant. In Hinblick auf das Verbrenner-Verbot ab 2035 sprach von der Leyen von neuer Flexibilität für die Autoindustrie und Technologieneutralität.

 

Mit Blick auf den Außenhandel verteidigte die Kommissionspräsidentin das EU-USA-Abkommen zur Vermeidung eines Handelskrieges und unterstreicht zugleich Europas regulatorische Souveränität. Gleichermaßen sollen Diversifizierungsanstrengungen und die Bemühungen um Handelspartnerschaften gesteigert werden (Mexiko, Mercosur, Indien; Kooperation mit CPTPP-Partnern).

 

Weitere Themen

 

Sozialpolitisch sollen Pakete für erschwinglichere Lebenshaltungskosten vorgelegt werden (Wohnraum, Energie, Autos, Lebensmittel). Der Fahrplan für hochwertige Arbeitsplätze soll dazu beitragen, in einer sich rasant verändernden Wirtschaft sowohl die Wettbewerbsfähigkeit als auch die soziale Resilienz Europas zu stärken. Eine langfristige europäische Anti-Armutsstrategie bis 2050 zielt darauf ab, insbesondere Kinderarmut wirksam zu bekämpfen.

 

Zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der Umsetzung des europäischen Schutzschilds für Demokratie soll ein Europäisches Zentrum für demokratische Resilienz errichtet sowie ein neues Programm zur Förderung der Medienresilienz – inklusive zusätzlicher finanzieller Unterstützung für unabhängige Medien – auf den Weg gebracht werden. Die Rechtsstaatlichkeits-Konditionalität soll im neuen Haushalt als Bedingung für den Zugang zu Mitteln etabliert werden.

 

Zur Steuerung von Migration und dem Schutz der Außengrenzen liegt der Vorschlag vor, die Mittel für Migration und Grenzschutz im nächsten Haushalt zu verdreifachen. Ein gemeinsames europäisches Rückkehrsystem soll ausgebaut, Schleuser und Menschenhändler gezielt mit Sanktionen belegt werden. Ziel ist die vollständige Umsetzung des Migrations- und Asyl Pakts nach Inkrafttreten.

 

Für Jugendschutz online prüft ein Expertengremium bis Jahresende mögliche Altersbeschränkungen für soziale Medien nach dem Vorbild Australiens. Ein europäisches Zentrum für Brandbekämpfung   mit Sitz in Zypern soll künftig den EU-Zivilschutz verstärken.

 

Kommentar

 

Leitmotiv der Rede ist der Kampf Europas um seine Zukunft. In einem dringlichen Apell betont Ursula von der Leyen, dass es nun gilt, den Kampf fortzusetzen - um Europa als Friedensunion zu bewahren: „Europa kämpft für einen unversehrten Kontinent in Frieden, (...) für ein freies und unabhängiges Europa, (...) unsere Werte und unsere Demokratien, (...) für unsere Freiheit und dafür, dass wir selbst über unser Schicksal bestimmen können.“ Am Ende der Rede greift die Präsidentin das Motiv erneut auf und verknüpft es mit den historischen Errungenschaften, die Europa als Friedensunion auf den Weg gebracht haben: „Dieses Streben, dieser Kampf ist tief verwurzelt in unserer europäischen Identität.“

 

Ein weiteres zentrales Anliegen ist die europäische Einheit.  Die Präsidentin verdeutlicht, was für die EU auf dem Spiel steht und ruft angesichts der Tragweite der Herausforderungen eindringlich zur Geschlossenheit auf. Diese ist notwendig, um die angekündigten Vorhaben rasch umzusetzen, da der EU die Zeit davonläuft. Die Ausführungen zu Gaza markieren einen Politikwechsel in der Israelpolitik und seien laut Beobachtern als Zugeständnis an Sozialdemokraten, Grüne und Liberale zu Interpretieren. Das eloquente Jonglieren Ursula von der Leyens in drei Sprachen variierte themenbezogen.

 

Schließlich zieht sich das Leitprinzip der Unabhängigkeit der EU als roter Faden durch von der Leyens Rede:  Europa muss seine Abhängigkeiten nach außen verringern, und Vorhaben aus allen Bereichen sollen dazu beitragen - von KI bis Verteidigung zu sauberen Technologien. Sie macht deutlich: „Dies muss der Moment der europäischen Unabhängigkeit sein“ und betont mehrfach, dass Europa über sein eigenes Schicksal bestimmen können muss.

 

Auffällig ist der starke Fokus der Rede auf Außen- und Sicherheitspolitik, wobei diese Gewichtung die aktuellen geopolitischen Herausforderungen widerspiegelt und von der Leyens Bemühungen unterstreicht, die EU als außenpolitischen Akteur zu positionieren.

 

Bei Wirtschaftsthemen setzt von der Leyen auf Kontinuität. Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit wird zwar als zentrales Vorhaben dargestellt, steht aber nicht im Zentrum ihrer Rede. Die wirtschaftspolitischen Prioritäten umfassen die Weiterentwicklung der nachhaltigen Transformation mit Fokus auf saubere Technologien, eine tiefere Integration des Binnenmarkts in den genannten Bereichen, "Made in Europe" als Kriterium bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, sowie die Diversifizierung der Handelspartnerschaften. Das umstrittene US-Handelsabkommen verteidigt von der Leyen als bestmöglichen Deal mit relativen Vorteilen gegenüber Konkurrenten und stellt ihr Handeln als alternativlos dar, da ein Handelskrieg mit den USA verantwortungslos wäre.

 

Mit Blick auf die Autoindustrie nimmt die politische Debatte um die CO2 Flottengrenzwerte weiter an Fahrt auf. Die Erwartungen an die Kommission zur Abschaffung des Verbrennerverbots sind hoch. Im Vorfeld des strategischen Dialogs der europäischen Auto-CEOs in dieser Woche machte von der Leyen unmissverständlich klar: "Egal was passiert, die Zukunft ist elektrisch" und kündigte an, mit der Industrie an einer Initiative für bezahlbare E-Autos zu arbeiten.

 

Fazit

 

In den zehn Monaten Amtszeit der jetzigen Kommission wurden viele wichtige Vorhaben angekündigt und in Teilen initiiert - nun ist eine rasche Implementierung zentral. Der Titel des Dokuments, das der Rede vorausging, „From promise to progress” verdeutlicht dies. Von der Leyen hat in der SOTEU 2025 ein realistisches Bild einer Gegenwart gezeichnet, in der Europa seinen Platz in einer zunehmend feindlichen Welt behaupten muss. Anders ausgedrückt: Europa muss sich neu erfinden, um auch in dieser Zukunft bestehen zu können. Jetzt gilt es, nicht nur ein positives Narrativ zu zeichnen, welches breit anschlussfähig ist und ein Momentum der Aufbruchstimmung vermittelt, sondern auch zentrale Vorhaben zu implementieren.  Zur Umsetzung der zahlreichen Initiativen bedarf es in Teilen der Mehrheiten im Europäischen Rat und im Europaparlament. Der Schlagabtausch der Fraktionsvorsitzenden der beiden größten Fraktionen im Europäischen Parlament im Anschluss an die Rede der Präsidentin hat vorgeführt, wie groß die Herausforderung ist, die geforderte Geschlossenheit der pro-europäischen Kräfte herbeizuführen.

 

[1] Europäisches Parlament: Rede zur Lage der Europäischen Union und Debatte mit Ursula von der Leyen

[2] Europäische Kommission: State of the Union 2025: From promise to progress, 10. September

[3] Rede von Präsidentin von der Leyen zur Lage der Union 2025 (deutsche Version)

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Kontakt Dr. Beatrice Gorawantschy
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