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1989/90: Freiheit für ganz Deutschland

Friedliche Revolution und Deutsche Einheit

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„Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ So lautete ursprünglich der Schlusssatz der Präambel unseres 1949 verabschiedeten Grundgesetzes. Die Präambel war eine Art Wegweiser. In ihr spiegelten sich auch die Wünsche und Hoffnungen der Verfassungsväter und -mütter wider. 41 Jahre später wurde die deutsche Einheit gewaltfrei durch den Freiheitswillen der Bürgerinnen und Bürger der DDR vollendet und der Schlusssatz der Präambel neu gefasst.

Im Herbst 1989 fand keine „Wende“, sondern eine Revolution statt. Die Friedliche Revolution war ein radikaler Systemwandel ohne Blutvergießen. Im kollektiven Gedächtnis hat sich der Fall der Mauer tief eingeprägt. Aber der 9. November 1989 wäre ohne den 9. Oktober in Leipzig, ohne den 26. Oktober in Halle und ohne die Demonstrationen in Wittenberg, Magdeburg, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Plauen und in vielen anderen Orten der DDR undenkbar gewesen. Die Friedliche Revolution hatte eine breite Basis, und Protestbewegungen gab es nicht nur in den Städten. Dadurch wurde dieser Prozess unumkehrbar. Erst kam die Freiheit, dann die Einheit. Und zu dieser neuen Freiheit gehörte auch die Auseinandersetzung mit dem Unrecht in der DDR.

Die DDR war keine Kuscheldiktatur. Es gibt keinen Grund, sie nostalgisch zu verklären. Das Leben war durchstaatlicht: 9,6 Millionen Menschen gehörten dem FDGB an, und fast jeder fünfte Erwachsene war Mitglied oder Kandidat der SED. Für die Stasi arbeiteten 1989 91.000 Hauptamtliche und 180.000 Inoffizielle Mitarbeiter. In einem Staat von gut sechzehn Millionen Einwohnern entfiel auf je sechzig von ihnen ein staatlicher Bewacher oder getarnter Spitzel. Während der Honecker-Ära berichteten insgesamt 500.000 Inoffizielle Mitarbeiter über ihre Berufskollegen, Nachbarn und Familienangehörigen. Als allgegenwärtiges Überwachungsorgan war die Stasi auch im Alltag der schweigenden Mehrheit präsent. Hunderte Menschen starben an der innerdeutschen Grenze. Sie waren zwischen sechs Monaten und 81 Jahren alt. Die Zahl der politisch Verfolgten und zu Haftstrafen Verurteilten lag nach jüngsten Schätzungen zwischen 180.000 und 350.000. Mauer, Grenzsicherung und Staat waren von innen her miteinander verbunden. Wir dürfen das nicht verdrängen oder vergessen. Das sind wir den Opfern schuldig. Ihre Schicksale können uns nicht gleichgültig sein.

 

„Schwerter zu Pflugscharen“

Die freiheitliche Demokratie bleibt eine große zivilisatorische Errungenschaft. Und wer die Unfreiheit selbst erlebt hat, wird die Freiheit für immer zu schätzen wissen. Eng verbunden mit meiner politischen Biographie sind die Lutherstadt Wittenberg und die Schloss- und Stadtkirche. 1983 fand der Kirchentag in Wittenberg statt.

Dirk Eisermann / laif
„Schwerter zu Pflugscharen“: Während des evangelischen Kirchentags in Wittenberg 1983 wurde auf dem Lutherhof ein Schwert in einen Pflug umgeschmiedet. Die öffentliche Verwendung dieses pazifistischen Slogans – einschließlich des damals in Ost und West beliebten, entsprechenden Aufnähers – war zu diesem Zeitpunkt in der DDR bereits mit Repressalien belegt.

Im Lutherhof wurde damals das wichtigste Symbol der DDR-Friedensbewegung geschmiedet. Die vom Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer initiierte Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ ist weltweit beachtet worden und hat die Ereignisse des Herbstes 1989 antizipiert. Nur wenige Jahre später wurden Schloss- und Stadtkirche zu Zentren der Friedlichen Revolution in Wittenberg. Hier trafen wir uns – Christinnen und Christen, aber auch kirchenferne Oppositionelle – seit Oktober 1989 regelmäßig an jedem Dienstag. Schließlich demonstrierten am 31. Oktober 1989, am Reformationstag, 10.000 Wittenbergerinnen und Wittenberger auf dem Marktplatz. Diese Zeit hat mich sehr stark und nachhaltig geprägt.

Den Prozess der deutschen Einheit und seine Ausgestaltung habe ich von Anfang an aktiv begleitet: zunächst als stellvertretender Landrat im Landkreis Wittenberg, als Arbeitsamtsdirektor in Wittenberg, als Staatssekretär und Wirtschaftsminister im ersten beziehungsweise zweiten Kabinett von Wolfgang Böhmer und seit 2011 als Ministerpräsident. Wir standen 1990 vor enormen gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen.

 

Niedergang und Aufstieg ganzer Industriezweige

Denn die Sozialstruktur der DDR unterschied sich markant von der bundesrepublikanischen. Ein Mittelstand und eine Kultur der Selbstständigkeit existierten in der DDR nicht. Ihre Bürgerinnen und Bürger lebten in einer planwirtschaftlichen Fürsorgediktatur, in der aber auch der Mangel ungleich verteilt war. Als Kompensation für die politische Unfreiheit vermittelte der vormundschaftliche Staat seinen Bürgern das Gefühl sozialer Geborgenheit und Sicherheit. Der Preis dafür war ein schmerzlicher Verlust an individueller Freiheit.

Auch ökonomisch waren die Unterschiede zwischen beiden deutschen Staaten gewaltig. Besonders schwierig war die wirtschaftliche Ausgangssituation in unserem Bundesland. Sachsen-Anhalt hatte aufgrund der riesigen Industriekombinate im Chemiedreieck Leuna, Halle und Bitterfeld sowie am Maschinenbaustandort Magdeburg unter allen neuen Ostländern die schwierigsten Startbedingungen. Die strukturellen Probleme waren groß, und die Wandlung von einer ineffektiven Planwirtschaft zu einer wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirtschaft vollzog sich unter sehr komplizierten Voraussetzungen. Wir haben im Osten Schrumpfung und Wachstum in vielen Regionen und den Niedergang und Aufstieg von ganzen Industriezweigen erlebt. Aber wir haben auch gelernt, mit diesem Wandel umzugehen und ihn erfolgreich zu gestalten: auch dank solidarischer Hilfe aus den alten Bundesländern und der Europäischen Union.

Ein Wort zu unseren europäischen Nachbarn ist deshalb an dieser Stelle angebracht. Für Helmut Kohl waren die Einheit Deutschlands und die Einigung Europas zwei Seiten derselben Medaille. Wiedervereinigung und europäische Integration waren komplementäre Prozesse und nicht als Alternativen zu verstehen. Die deutsche Frage war nur im Einvernehmen mit den europäischen Nachbarn und nicht gegen sie dauerhaft zu lösen. Ein solches Zeitfenster eröffnete sich tatsächlich in den 1980er-Jahren.

Vorboten der Friedlichen Revolution waren unsere östlichen Nachbarstaaten. Ihre Bedeutung wird allerdings nicht immer angemessen gewürdigt. Die allererste Bresche in die Berliner Mauer schlugen Mitglieder der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Nirgends hat sich der Freiheitswille der im Ostblock unterdrückten Völker mächtiger artikuliert als in der polnischen Freiheitsbewegung Solidarność. Ihr Logo wurde nicht nur im kommunistischen Machtbereich zum Erkennungszeichen für den Freiheitswillen des polnischen Volkes.

Auch die Papstwahl 1978 und der triumphale Besuch von Johannes Paul II. in seinem Heimatland im Jahr darauf waren Ereignisse von größter psychologischer und politischer Bedeutung. Wirkmächtig war sein Bild von einem Europa mit zwei Lungenflügeln. Darüber hinaus waren die ungarischen Reformen ein Wegbereiter der Friedlichen Revolution. Und natürlich entfachten Michail Gorbatschows Wahl zum Generalsekretär der KPdSU und seine Reformpolitik die Hoffnungen der Demokratiebewegungen in Mittel- und Osteuropa. Erst die äußere Freiheit ermöglichte den Völkern Ostmitteleuropas die innere (demokratische) Freiheit. Aber Freiheit birgt nicht nur Chancen, sondern auch Risiken und Unsicherheiten. Sie offenbart die unvermeidlichen menschlichen Untiefen und Härten einer Wettbewerbsgesellschaft. Und sie kann den Einzelnen überfordern. Für die Menschen in der alten Bundesrepublik ging das Leben nach 1989 seinen gewohnten Gang. Aber in Ostdeutschland änderten sich nach dem Mauerfall viele Dinge grundsätzlich und abrupt. Nichts schien mehr so zu sein, wie es noch kurze Zeit zuvor war. Selbstverständlichkeiten des Alltags galten plötzlich nicht mehr. Viele dieser Brüche wirken ökonomisch, politisch, mental und sozial bis heute nach, und sie sind ein Grund für die nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West.

Das sind keine abstrakten Feststellungen. Anfang der 1990er-Jahre war ich als Arbeitsamtsdirektor in Wittenberg unmittelbar mit der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik befasst. Zeitweise lag die faktische Arbeitslosigkeit bei fast fünfzig Prozent. Damals mussten große und ineffiziente Betriebe und Kraftwerke schließen. Von einem zum anderen Tag verloren Menschen ihren Arbeitsplatz, und wir mussten an manchen Tagen gleichzeitig mehreren Tausend Menschen ihren Antrag auf Arbeitslosengeld aushändigen. Die Resignation in ihren Gesichtern werde ich nicht vergessen.

 

Sorgen über die Fragmentierung des Parteiensystems

Über enttäuschte Hoffnungen und biographische Brüche haben wir viel zu wenig gesprochen. Taten wir es, dann fehlte es oft an Empathie. Viele Menschen empfanden das als mangelnden Respekt vor ihren Lebensleistungen.

Und noch immer ist die Repräsentanz von Ostdeutschen in Führungspositionen äußerst unbefriedigend. Die Elite tickt westdeutsch. Spitzenpositionen sind mit Westdeutschen besetzt. Deren Netzwerke erweisen sich für Ostdeutsche nach wie vor als Karrierehemmnis. Darauf weise ich seit vielen Jahren dezidiert hin. Geändert hat sich daran jedoch bis heute fast nichts.

Sorgen bereiten mir auch die Fragmentierung und Polarisierung unseres Parteiensystems. Vor allem die AfD profitiert davon. Ursprünglich war sie, was heute gern übersehen wird, ein westdeutsches Projekt marktliberaler Eurokritiker. Von ihren Ursprüngen hat sich die Partei allerdings mittlerweile weit entfernt. Sie hat sich in den letzten Jahren immer stärker radikalisiert. Ihre Stärke beruht jedoch zum allerwenigsten auf eigenen Konzepten, sondern auf Defiziten anderer Parteien. Deshalb müssen wir uns selbstkritisch fragen: Was haben wir falsch gemacht, und was müssen wir künftig besser machen? Der Aufstieg der AfD ist nicht unaufhaltsam.

Die liberale Demokratie ist kein Selbstläufer. Für unsere Überzeugungen und Werte müssen wir stets aufs Neue entschlossen eintreten. Demokratie ist mehr als eine Regierungsform. Sie ist vor allem eine Lebensform und Ausdruck einer inneren Haltung. Und sie kann eine zivilisatorische Kraft entfalten. Das haben die Ereignisse vor gut 35 Jahren, als die Selbstdemokratisierung einer Gesellschaft eine Diktatur zum Einsturz brachte, eindrucksvoll gezeigt.

 

Die Europäische Union muss noch eigenständiger handeln

1990 wurde in der Präambel des Grundgesetzes der Wille Deutschlands festgeschrieben, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Thomas Manns Wort vom „europäischen Deutschland“ gewinnt nicht nur im historischen Kontext an Bedeutung. Es ist heute so aktuell wie vor 72 Jahren. Zwar war Europa schon in besserer Verfassung, aber Dysfunktionalität und Desintegration waren immer Teil der Geschichte europäischer Einigung. Der europäische Gedanke ist stark. Die Europäische Union muss jedoch endlich eigenständiger und entschlossener handeln. Sie muss ihre Rolle in der Welt angesichts immer akuterer Krisen neu definieren und sich auf ihre Stärken besinnen. Die Union muss vor allem ihre Resilienz festigen. Das gilt mit Blick auf die Wirtschaft ebenso wie für ihre militärischen Fähigkeiten und Institutionen. Deutsche und europäische Stärke sind zwei Seiten derselben Medaille!

Auch nach 35 Jahren Einheit bleibt noch viel zu tun. Wie könnte es auch anders sein? Befragt nach Fehlern und Versäumnissen, hat Kurt Biedenkopf einmal geantwortet: „Bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir alles besser.“ Es gab keinen Masterplan für die deutsche Einheit. Der Aufbau Ost war kein schlichter Nachbau West. Oftmals musste kurzfristig auf Entwicklungen reagiert werden, deren mittel- und langfristige Auswirkungen kaum abschätzbar waren. Nicht alles war planbar.

Aber der Sprung von Marx zu Markt, von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer freiheitlichen Marktwirtschaft gelang – trotz Entindustrialisierung und eines enormen Modernisierungsdrucks in den Anfangsjahren. Wir haben beim Aufbau Ost beachtliche Erfolge erzielt. Nicht zuletzt aus dieser Tatsache können wir Kraft und Zuversicht für die Zukunft schöpfen. Ja, es gibt sie, die blühenden Landschaften. Wer heute die Situation in Ostdeutschland mit der des Jahres 1989/90 vergleicht, erkennt, wie viel sich nachhaltig und positiv verändert hat. In den kommenden Jahren wird es vor allem um eine Stärkung der Wirtschaftskraft und um die Schaffung neuer Industriearbeitsplätze gehen. Die Energiewende muss gerecht und wettbewerbsfähig gestaltet, die Infrastruktur modernisiert und weiter ausgebaut und der ländliche Raum gestärkt werden.

Bei allen gegenwärtigen Herausforderungen und Problemen sollten wir aber nicht den Blick auf die großen und bleibenden Errungenschaften der Einheit verlieren. Endgültig beantwortet ist die deutsche Frage. Sie beeinflusste – oft mit fatalen Folgen – jahrhundertelang das europäische Mächtegleichgewicht. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind für alle Menschen in Deutschland zur Realität geworden. Allein das macht den 3. Oktober 1990 zu einem ganz großen und stolzen Tag unserer Geschichte.

 

Reiner Haseloff, geboren 1954 in Bülzig (Kreis Wittenberg), Staatssekretär und Minister a. D., Mitglied der CDU-Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalt, seit 2011 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt.