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Bewährungsprobe für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik

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Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. In Deutschland reicht diese Erschütterung besonders tief, hatte doch kaum ein anderes Land so sehr daran glauben wollen, dass partnerschaftliche, vertrauensvolle Beziehungen mit Moskau möglich seien. Wladimir Putins rücksichtsloser Krieg hat diesen Hoffnungen ein für alle Mal die Grundlage entzogen. So aufrüttelnd Russlands Angriff war, so präzedenzlos waren die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft. Viele Entscheidungen – von Sanktionen gegen die russische Zentralbank oder Kohle- und Ölembargos bis zur grundlegenden Neuaufstellung der NATO – wären noch vor einem Jahr unvorstellbar gewesen.

Das gilt auch für viele Entscheidungen der Bundesregierung. Am deutlichsten wird dies vielleicht an der Tatsache, dass heute in der Ukraine mit deutschen Waffen auf russische Panzer geschossen wird. Nachdem noch vor einigen Monaten über die Lieferung von Helmen und weiterer Schutzausrüstung diskutiert wurde, liefert die Bundesregierung jetzt schweres Gerät – bis hin zur Panzerhaubitze 2000 und den Mehrfachraketenwerfern vom Typ „Mars II“. Zudem hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner historischen Rede vom 27. Februar 2022 eine Reihe von Entscheidungen verkündet, die weit über den aktuellen Krieg in der Ukraine hinausweisen. Er hat mit seiner Rede eine Reihe scheinbar endloser Debatten der deutschen Sicherheitspolitik beendet: Die Bundesregierung plant, von nun an jedes Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Außerdem erhält die Bundeswehr bewaffnete Drohnen, und mit dem F-35-Kampfflugzeug wird ein hochmodernes Nachfolgemodell für die Tornados beschafft, das Deutschlands langfristige nukleare Teilhabe innerhalb der NATO ermöglicht. Wer hätte das vor einem halben Jahr für möglich gehalten?

In Amerika sagt man: „Only Nixon could go to China.“ Bei uns kann man sagen: Diese sicherheitspolitischen Entscheidungen konnte vermutlich nur ein sozialdemokratischer Bundeskanzler so verkünden. Schließlich beruhten einige dieser Entscheidungen auf Positionen, die weite Teile der SPD lange abgelehnt oder energisch bekämpft hatten.

 

Revolutionäre Binnenperspektive, Zweifel von außen

 

In gewisser Weise sind wir Zeugen einer sicherheitspolitischen Umwälzung, die mit atemberaubender Geschwindigkeit vor sich geht. Schließlich hat die Bundesregierung in rascher Folge Entscheidungen getroffen, die sie eigentlich nicht treffen wollte. Wir alle sehen uns mit Herausforderungen konfrontiert, die wir gern vermieden hätten. Es ist schwer zu behaupten, dass es sich bei den Beschlüssen im Bereich der Verteidigungs- und Energiepolitik nicht um grundlegende Weichenstellungen handelte. Bei den sicherheitspolitischen Entscheidungen handelt es sich um wichtige Anpassungen, die es Deutschland erlauben, seinen militärischen Verpflichtungen nachzukommen, die mit den Vereinbarungen auf dem NATO-Gipfel von Madrid weiter zugenommen haben. Und ungeachtet aller kurzfristigen Schwierigkeiten ist Deutschland entschlossen, sich aus der Abhängigkeit von russischer Energie zu lösen und damit die wichtigste Einnahmequelle des russischen Staates auszutrocknen. Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik nach der „Zeitenwende“ wird eine andere sein. Das ist die Binnenperspektive.

Von außen sieht das Ganze zum Teil anders aus. Nach anfänglicher Euphorie über die von Bundeskanzler Scholz angekündigten Maßnahmen ist zunehmend harsche Kritik an Berlin zu vernehmen. Die deutsche Politik sei zu langsam, zu zögerlich, halte nicht Schritt mit den Entwicklungen. Das, was aus der Binnenperspektive revolutionär wirkt, ist von außen betrachtet nur ein längst überfälliger Nachholprozess. Für die meisten internationalen Partner entsprechen die Ankündigungen eher dem minimal Notwendigen, das längst hätte getan werden müssen. Viele hatten darauf gehofft, dass mit der „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Scholz eine neue Ära eingeläutet worden sei und den Ankündigungen bald weitere Schritte folgen würden. Heute fürchten immer mehr Kritiker einen Rückfall in alte deutsche Reflexe oder zweifeln gar an deutscher Verlässlichkeit.

 

„Zeitenwende“ ernst nehmen

 

In Bezug auf die Waffenlieferungen verfestigt sich der Eindruck, dass Deutschland vor allem damit beschäftigt ist, Begründungen zu finden, warum etwas nicht geliefert werden kann, anstatt alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den ukrainischen Streitkräften bestmöglich zu helfen. Die an sich lobenswerte Idee des Ringtauschs ist in der Praxis ins Stocken geraten und führt in einigen Partnerländern, vor allem in Polen, zu weiterer Verstimmung, weil das Gefühl vorherrscht, dass Berlin nicht solidarisch genug agiert. So trifft auch der deutsche Wunsch nach energiepolitischer Solidarität in einigen anderen Ländern auf Widerstand, war man doch jahrelang von Deutschland belehrt worden, dass es keine energiepolitische Abhängigkeit gebe. Zwar mag die ein oder andere Wortmeldung aus dem Ausland ein wenig über das Ziel hinausschießen. Dennoch sollten wir sehr genau auf die Rückmeldungen aus unseren wichtigsten Nachbarländern und Partnerstaaten hören. Denn außenpolitisches Vertrauen geht schnell verloren. Wenn es eine Botschaft gibt, die unsere Partner immer wieder an uns herantragen, ist es diese: Bitte nehmt die „Zeitenwende“ ernst und zweifelt nicht an eurem eingeschlagenen Weg! Auf euch kommt es ganz besonders an! Von Deutschland wird nicht nur erwartet, dass wir mitmachen. Von uns wird erwartet, dass wir vorangehen.

Doch nicht nur im Ausland, auch im Inland mehren sich die Stimmen derer, die befürchten, dass aus der verkündeten „Zeitenwende“ vielleicht doch weniger Veränderung folgt, als zunächst erwartet wurde. Aus fast allen Parteien sind Wortmeldungen zu vernehmen, die die Sanktionen infrage stellen. Sollte Deutschland nicht doch nach einer Verständigung mit Russland suchen? Hält der Konsens, wenn Energiepreise weiter steigen und es gegebenenfalls zu Engpässen in der Versorgung kommt? Machen wir uns nichts vor: Die deutschen Zweifler werden auch im Ausland sehr genau registriert. Viele befürchten weiterhin, dass Deutschland das schwächste Glied in der Kette ist, das Putin allzu gern ins Visier nehmen wird. Lassen wir uns durch Putins Turbinenpolitik beeindrucken? Und wollen wir unsere militärische Unterstützung der Ukraine von befürchteten roten Linien Moskaus abhängig machen?

Die Bundesregierung, aber auch die gesamte deutsche Gesellschaft stehen daher vor einer außenpolitischen Bewährungsprobe. In den kommenden Monaten und Jahren wird sich zeigen, ob es Deutschland gelingen wird, die richtigen Antworten auf die russische Herausforderung zu finden. Eigentlich sitzen wir am längeren Hebel, denn mittel- und langfristig verfügt unser Land über die notwendige wirtschaftliche Resilienz, um Putins Revisionismus entschlossen begegnen zu können. Doch es kommt jetzt darauf an, uns nicht kurzfristig ins Wanken bringen zu lassen. Es steht viel zu viel auf dem Spiel.

Trotz aller Herausforderungen gibt es viele gute Gründe für sicherheitspolitischen Optimismus: Im Bundestag besteht von der SPD über die Grünen und die FDP bis hin zur Union ein breiter Konsens, dass die deutsche Sicherheitspolitik einer grundsätzlichen Anpassung bedarf. Die Parteien streiten beispielsweise nicht mehr darüber, ob die Bundeswehr deutlich mehr Geld benötigt, sondern allenfalls darüber, wie schnell und wie viel an welchen Stellen investiert werden muss, damit die Streitkräfte ihre Aufgaben erfüllen können. Das ist ein wesentlicher Fortschritt.

 

Voraussetzungen für echte Wendezeiten sind gegeben

 

Zudem zeigen Meinungsumfragen aus den vergangenen Monaten, dass mehr als zwei Drittel der deutschen Bevölkerung der Auffassung sind, dass wir es mit einer außenpolitischen „Zeitenwende“ zu tun haben. Daten des Munich Security Index von Mai 2022 zeigen, dass 68 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, dass die russische Invasion einen historischen Wendepunkt für unsere Außen- und Sicherheitspolitik darstellt – im Übrigen der höchste Wert in allen G7-Staaten.1 Andere Umfragen zeigen eine deutlich gestiegene Zustimmung zu erhöhten Verteidigungsausgaben oder unterstreichen die weit verbreitete Bereitschaft, für die Unterstützung der Ukraine auch erhebliche Kosten in Kauf nehmen zu wollen. In den Medien stehen außenpolitische Fragen seit Monaten im Fokus – im ganzen Land diskutiert man plötzlich über Außen- und Sicherheitspolitik.

Prinzipiell sind also alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass wir nicht bei der Feststellung einer „Zeitenwende“ stehen bleiben, sondern gemeinsam unsere Außen- und Sicherheitspolitik einer grundlegenden Überprüfung unterziehen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Das, was bislang unter dem Stichwort der „Zeitenwende“ diskutiert worden ist, kann jedenfalls nur der Anfang sein. Denn der russische Angriffskrieg ist nur die brachiale Manifestation einer „Zeitenwende“, die durch die Erosion aller wesentlichen Gewissheiten gekennzeichnet ist, auf denen die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges beruhte.2

Schließlich ist nicht nur die Vorstellung unterminiert worden, dass Russland mittelfristig zu einem Partner werde und Sicherheit in Europa nicht gegen Moskau möglich sei. Auch andere grundlegende Annahmen deutscher Außenpolitik stehen seit einigen Jahren infrage – von der Vorstellung, dass die USA auf Dauer bereit sind, die Sicherheit Europas zu garantieren und den Löwenanteil europäischer Verteidigung zu übernehmen, über die Idee, dass wirtschaftliche Verflechtung über die Zeit auch zu politischer Annäherung führt, bis hin zur Überzeugung, dass das System der liberalen Demokratie heute ohne Alternative ist und sich langfristig überall auf der Welt durchsetzen wird.

 

Künftige Weltordnung im Fokus

 

Die weltpolitischen Umwälzungen der vergangenen Jahre – und ganz besonders die radikalen Veränderungen der vergangenen Monate – unterstreichen die Notwendigkeit einer grundlegenden Überprüfung unserer außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung. Das Mindeste, was geschehen muss, ist eine zügige Umsetzung der Entscheidungen, die Bundeskanzler Scholz im Februar 2022 verkündet hat. Dies ist schon allein aufgrund der Erwartungen unserer Bündnispartner von essenziellem Interesse. Niemand darf Zweifel daran hegen, dass Deutschland seinen Verpflichtungen und seiner Verantwortung nachkommt.

Aber angesichts der Dimension, die die Veränderung der sicherheitspolitischen Lage erreicht hat, dürfen wir dabei nicht stehen bleiben. Es ist nur allzu wahrscheinlich, dass die kommenden Jahre weitere Schockmomente für unser Land bereithalten werden. Wir sollten uns daher fragen, welche Veränderungen in der Welt wir möglicherweise ebenfalls unterschätzen, und überlegen, wie unsere Antworten aussehen müssen: Wie gehen wir mit anderen möglichen Risiken am außenpolitischen Horizont um? Wie können wir beispielsweise verhindern, dass uns in unseren Beziehungen zu China Ähnliches widerfährt? Was können wir dafür tun, dass die künftige Weltordnung auf den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte basiert und nicht von den Vorstellungen der jeweiligen regionalen Hegemonialmacht abhängig ist? Wie müssen wir unsere außenpolitischen Entscheidungsstrukturen anpassen, um auf eine unübersichtlichere Welt reagieren zu können? Ist so etwas wie ein regelmäßiger außen- und sicherheitspolitischer Stresstest notwendig, mit dem verschiedene Szenarien durchgespielt werden?

Die Nationale Sicherheitsstrategie, die die Bundesregierung in einigen Monaten vorstellen möchte, bietet einen willkommenen Anlass, um einige dieser Fragen noch intensiver zu diskutieren – und zwar nicht nur innerhalb der Ministerien und Forschungsinstitutionen. Denn es reicht nicht aus, eine weltpolitische „Zeitenwende“ zu verkünden. Wenn wir echte Konsequenzen aus ihr ziehen wollen – und das müssen wir –, ist es von essenzieller Bedeutung, dass die Bevölkerung die Gründe für diese grundlegende Anpassung versteht und ihre Konsequenzen mitträgt, auch wenn sie mit größeren Kosten einhergeht.

Nicht zuletzt aus diesem Grund wird sich die Münchner Sicherheitskonferenz in Zukunft auch stärker an ein breiteres Publikum in Deutschland richten. Im Rahmen des Projekts „Zeitenwende on Tour“ werden wir mit Bürgern in allen sechzehn Bundesländern über die Herausforderungen der „Zeitenwende“ diskutieren.3 „Zeitenwende“ geht schließlich alle an. Wenn der russische Angriffskrieg als Weckruf verstanden würde, der uns hilft, uns besser auf künftige Bedrohungen unserer Sicherheit vorzubereiten, hätte er wenigstens eine positive Konsequenz.

 

Christoph Heusgen, geboren 1955 bei Neuss am Rhein, 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen, New York, seit 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und Fellow der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Tobias Bunde, geboren 1983 in Marburg, Director of Research and Policy der Münchner Sicherheitskonferenz, Postdoctoral Researcher, Centre for International Security, Hertie School of Governance, Berlin.

 

1 Tobias Bunde / Sophie Eisentraut: Zeitenwende for the G7. Insights From the Munich Security Index Special G7 Edition, Munich Security Brief 3, Juni 2022, https://doi.org/10.47342/JDIE4364 [letzter Zugriff: 04.08.2022].
2 Siehe bereits Tobias Bunde / Laura Hartmann / Franziska Stärk / Randolf Carr / Christoph Erber / Julia Hammelehle / Juliane Kabus: Zeitenwende | Wendezeiten. Sonderausgabe des Munich Security Report zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, Münchner Sicherheitskonferenz 2020, https://doi.org/10.47342/YSUC7634 [letzter Zugriff: 04.08.2022].
3 Jeweils aktuelle Informationen sind auf der Website der Münchner Sicherheitskonferenz abrufbar, https://securityconference.org/zeitenwende/ [letzter Zugriff: 04.08.2022].