Asset-Herausgeber

von Kateryna Rietz-Rakul

Warum der Westen die ukrainische Kultur, Wissenschaft und Geschichte nicht berücksichtigt

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Immer wieder denke ich darüber nach, wie wenig man im Westen das Trauma der Gewalt versteht, unter dem in Russlands Nachbarländern die Menschen seit Generationen leiden: Einst hat meine jüdische Urgroßmutter ihren (jüdischen) Familiennamen geändert, um im damals sowjetisch besetzten Galizien für sich und ihre Töchter die Chance auf ein besseres Leben zu erhöhen. Ihr Schwiegersohn – mein Großvater, ein Holocaust-Überlebender – tat eine Generation später das Gleiche. Die andere Großmutter hat den Holodomor („Tötung durch Hunger“) im Osten des Landes knapp überlebt, ihr Vater wurde „entkulakisiert“ und vor den Augen seiner Familie erschossen, sein Bauernhof wurde konfisziert. Dennoch kämpfte sie im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee.

Ihr Ehemann, mein sibirischer Großvater (ein Mordwine), wurde von der Roten Armee zwangsrekrutiert. Bei Kriegsende war er Offizier in Transkarpatien, doch wurde seine Offizierskarriere beendet, als er die Unterdrückung der Minoritäten, die Massen- und Völkermorde und die Gulags kritisierte.

Meine Vorväter waren Ukrainer, Juden, Polen, Mordwinen und Letten. Sie wurden vertrieben, enteignet, vergewaltigt, ermordet – zunächst vom russischen, später vom sowjetischen Imperium. Jeder, der in der Sowjetunion als intellektuell und modern gelten wollte, jeder, der überleben oder Karriere machen wollte, musste seine Wurzeln vergessen oder verleugnen. Deshalb sprachen in meiner Familie bis 2014 alle Russisch.

In mehr als 300 Jahren wurde die ukrainische Sprache über einhundert Mal eingeschränkt, verboten oder abgeschafft. Allein im 20. Jahrhundert geschah dies über dreißigmal. Dazu kamen Verbote von ukrainischen Büchern, Kunstwerken, Kulturgütern und Festen.

Die Vernichtung der ukrainischen Elite war eine der zentralen Strategien des russischen Imperiums und in der Sowjetunion. Im 20. Jahrhundert galt dies unter anderem für die „Hingerichtete Renaissance“ der 1920er- und 1930er-Jahre, als Stalin die Tötung von 1.111 Künstlern befahl, aber auch für die Repressalien nach dem Tauwetter. Komponisten, Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler wurden erschossen, verhaftet, gefoltert, gebrochen, gezwungen, eigene Manuskripte zu verbrennen. Diejenigen, die versuchten, nationale Traditionen zu bewahren, wurden strafrechtlich verfolgt. 1972 wurden vierzehn Studenten und Künstler in Lwiw vom sowjetischen Geheimdienst KGB verhaftet, weil sie an einer traditionellen ukrainischen Weihnachtsfeier teilgenommen hatten.

Im 21. Jahrhundert setzt Russland die Strategie fort. Es gibt „Abschuss- und Entführungslisten“ für ukrainische Politiker, Kulturschaffende sowie Aktivistinnen und Aktivisten. Viele Menschen meines Freundes- und Kollegenkreises aus den seit 2014 besetzten Gebieten können ihre Familien dort nicht mehr besuchen, da sie auf diesen Listen stehen. Sie würden zu Tode gefoltert oder ermordet, wie der litauische Dokumentarfilmer Mantas Kvedaravičius, der von russischen Truppen gefangen genommen wurde und unter immer noch nicht aufgeklärten Umständen ums Leben kam. Oder sie kommen in Konzentrationslager, wie der ukrainische Journalist Stanislaw Asejew. Er verbrachte 28 Monate im Izoliatisia, in einem Foltergefängnis, das im ehemaligen Museum für Zeitgenössische Kunst in Donetsk nach der Vernichtung der dort ausgestellten „entarteten Kunst“ errichtet wurde. Asejew hat seine Haftzeit in seinem Buch Heller Weg. Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017–2019 beschrieben.

 

Verbrennung ukrainischer Bücher

 

Ich lebe seit zwanzig Jahren in Deutschland und muss feststellen, dass es der westlichen (akademischen) Gesellschaft bis heute nicht gelungen ist, die kolonialistische und imperialistische Perspektive abzulegen. Das erklärt das unkritische Konsumieren der russischen Sichtweise auf die Ukraine, ihre Kultur und Wissenschaft und die Tatsache, dass eines der größten Länder Europas und seine über vierzig Millionen Einwohner kaum Teil des akademischen Diskurses sind.

präsentiert von der Sara Lee Corporation, Chicago, durch die American Friends of the National Gallery, London, 1998.
Die National Gallery in London benannte das Bild von Edgar Degas „Russische Tänzerinnen“ in „Ukrainische Tänzerinnen“ um und fordert eine Diskussion über die Kennzeichnung ukrainischer Kunst und des ukrainischen Kulturerbes. (Original: Edgar Degas, „Russische Tänzerinnen“, um 1899, Pastell und Kohle auf Pauspapier, aufgelegt auf Malkarton, 73 x 59,1 cm.)

Viele selbst ernannte „Ukraine-Experten“ haben noch nie einen Fuß in die Ukraine gesetzt, sprechen die Sprache nicht und sind eher Russland-Experten. Erst langsam ändert sich das: „Nichts über Ukraine ohne Ukrainer“, „Local Ownership für Peacebuilding“, „Ukraine als Subjekt“ – diese Forderungen hört man immer wieder. Sie reichen allerdings nicht einmal dafür, dass das aus dem Russischen abgeleitete „Kiew“ zugunsten des ukrainischen Kyjiw ersetzt wird, um das Koloniale aus der Sprache zu tilgen. Im englischsprachigen Raum hat man dagegen bereits 2014 das ukrainische „Kyiv“ übernommen.

Dabei ist der Ausweg recht einfach: indem man die Sichtweise der Ukrainerinnen und Ukrainer zu ihrem Land einholt. Künstler und Akademiker haben Instrumente und ein Vokabular entwickelt, um mit der Situation, dem neokolonialistischen Krieg, mit dem kollektiven Trauma umzugehen. Die ukrainischen Stimmen müssen ein berechtigtes Subjekt des Diskurses werden und dürfen nicht als parteiisch delegitimiert werden. Ohne diese Anerkennung ist kein Peacebuilding möglich.

Warum befinden wir uns dennoch in der Situation, dass im Westen ukrainische Kultur, Wissenschaft und Geschichte weitgehend unberücksichtigt bleiben? Einer der vielen Gründe ist die kulturelle Aneignung. Man kennt die großen Talente und ihre Werke; allerdings bezeichnet man sie als Russen. Zum Beispiel den Schriftsteller Mykola (russisch Nikolaj) Gogol, Serhij Koroliov, den Vater der praktischen Raumfahrt, den Maler Kazimir Malewitch.

Immer wieder werde ich gefragt, ob Ukrainisch eine andere Sprache als Russisch sei. Die ukrainische Sprache hat 84 Prozent ihres Wortschatzes mit Belarussisch gemeinsam, 70 Prozent mit Polnisch, 68 Prozent mit Slowakisch und nur 62 Prozent mit Russisch. Zum Vergleich: Die germanischen Sprachen Englisch und Niederländisch haben 63 Prozent gemeinsames Vokabular, Schwedisch und Norwegisch 84 Prozent.

Die Tatsache, dass diese und andere Fragen bezüglich der Existenz und Eigenständigkeit der Ukraine immer noch salonfähig sind, ist ein indirekter Grund für den 2014 begonnenen und 2022 fortgesetzten russischen Vernichtungskrieg. Den Krieg, der auch hier ungern beim Namen genannt wird und als „Ukraine-Krise“, „Ukraine-Konflikt“ oder „Ukraine-Krieg“ bezeichnet wird – ohne den eigentlichen Aggressor zu benennen.

Als Europäerin erwarte ich von Deutschland mehr Verantwortung im Umgang mit Geschichte – die sich heute vor unseren Augen wiederholt. Die Verbrennung der ukrainischen Bücher auf der besetzten Krym 2014 sollte gerade bei Deutschen alle Alarmglocken schrillen lassen. Die Vernichtung von Archiven und Büchern in den besetzten Gebieten, die Zerstörung der Museen und Kirchen sind erste Schritte, um eine Kultur zu vernichten. Die systematischen Vergewaltigungen und Verschleppungen sind Instrumente eines Genozids. Laut Angaben des Nationalen Verteidigungskontrollzentrums der Russischen Föderation Stand Juni 2022 wurden 307.423 Kinder aus der Ukraine nach Russland gebracht. Das ist einer von vielen Verstößen gegen das Völkerrecht. Es ist bezeichnend, dass sich die russische Senatorin Lilia Gumerova entsetzt zeigt, dass viele der ukrainischen Kinder „aus den befreiten Gebieten“ nicht fließend Russisch sprechen. Sie möchte sie schnellstmöglich umschulen.

 

Die Propaganda der „Entnazifizierung“

 

Besonders alarmierend ist ein Artikel, der am 3. April 2022 von der regierungskontrollierten russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti veröffentlicht wurde. Der US-Historiker Timothy Snyder nannte ihn ein „Handbuch zum Völkermord“ (Neue Zürcher Zeitung, 12. April 2022). Der Artikel ist immer noch einsehbar und wurde inzwischen mehrfach übersetzt. Sein Autor spricht darin von der Entnazifizierung der Ukraine – ein Terminus, der von der gesamten russischen Propaganda benutzt wird. Dem Dokument kann man entnehmen, dass „Entnazifizierung“ im offiziellen russischen Sprachgebrauch nichts anderes bedeutet als die komplette Auslöschung alles Ukrainischen. Laut dieser Propaganda ist jeder Ukrainer ein „Nazi“ und hat damit sein Recht auf Leben verwirkt. Demzufolge war die Gründung eines ukrainischen Staates vor dreißig Jahren die „Nazifizierung der Ukraine“, und „jeder Versuch, einen solchen Staat zu errichten“, gilt als eine „Nazi“-Tat. Die Ukrainer sollen leiden, weil sie glauben, dass sie als eigenständiges Volk existieren; nur diese Buße könne zur „Erlösung von Schuld“ führen.

In diesem Sinne ist der Vernichtungskrieg die Kulmination eines über 300 Jahre langen Kampfes. Für die Ukrainer und die Ukraine ist es ein Kampf um die Existenz, ein Kampf des Staates und jedes Einzelnen. Und genau darin liegt die treibende Kraft der ukrainischen Nationalbewegung: Es geht um die Befreiung einer unterdrückten Kolonie, die seit Jahrhunderten einen ungleichen Kampf gegen einen Hegemon führt. Es ist der Wunsch und die Not, eine eigene Kultur, Sprache, Küche, Identität haben zu dürfen. Anders als bei den imperialistischen Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts, den wir etwa aus Deutschland, Russland, Frankreich oder Großbritannien kennen, ist das Ziel nicht, andere zu unterdrücken, sondern endlich als gleichberechtigte Nation in Europa zu Freiheit und Unabhängigkeit zu finden. Die ukrainische Nationalbewegung zielt nicht auf Dominanz und Expansion, sondern auf Stabilität und sichere Grenzen.

Russland, das nachweislich zahlreiche rechtsextreme Bewegungen in Europa finanziert, verbreitet das Narrativ einer nationalistischen Ukraine, das auch hierzulande immer wieder aufgegriffen wird. Die zugrundeliegenden Thesen sind längst von Historikern, die rechtsradikale Bewegungen studieren, wie Anton Shekhovtsov, widerlegt. In den acht Jahren des Krieges verlor die rechte Bewegung in der Ukraine weiter an Bedeutung. Dies spiegelt sich in der Wahl 2019 wider: Mit etwa zwei Prozent der Wählerstimmen gelang es ihr nicht, in die Werkhowna Rada, in das nationale Parlament, einzuziehen. Paradoxerweise wird die Ukraine dennoch als ein nationalistischer Staat betrachtet.

Infolgedessen stößt jeder Versuch der Ukrainerinnen und Ukrainer, sich von Russland zu distanzieren, hier in Deutschland oftmals auf Unverständnis. Ukrainische Intellektuelle und Künstler werden immer wieder in die unangenehme Lage gebracht, zusammen mit russischen Kolleginnen und Kollegen – von denen nur die wenigsten nobel reagieren und sich zurückziehen – an Kunstresidenzen, Festivals oder Paneldiskussionen teilzunehmen. Das Problematische für die ukrainischen Kunstschaffenden ist, dass auch viele Putin-Gegner imperialistisch denken. So der Nobelpreisträger Iosif Brodsky, der große russische Dichter, der in die USA flüchtete und auf der ganzen Welt als sowjetischer Dissident gefeiert wurde. In seinem auf YouTube gelesenen Schmähgedicht „Zur Unabhängigkeit der Ukraine“ verunglimpft er die Ukraine und Ukrainer, ihre Kultur, ihren Willen zur Selbstbestimmung.

Nun kann Westeuropa nicht mehr wegschauen und ist endlich dabei, die Existenz und Subjektivität der osteuropäischen Länder wahrzunehmen und anzuerkennen. Eines der Zeichen für eine Zeitenwende ist die Erteilung des EU-Kandidatenstatus am 23. Juni 2022. Für die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer liegt darin ein willkommener nächster Schritt auf dem langen Weg ins nicht nur geografische, sondern auch politische Europa.

 

Kateryna Rietz-Rakul, geboren 1978 in Lwiw. Sie studierte Anglistik und Amerikanistik in Lwiw und Berlin und promovierte anschließend über die zeitgenössische Literatur. Sie ist Mitbegründerin der KulturNGO KUL’TURA e.V., mit der die internationale Zusammenarbeit zwischen Kreativen aus der Ukraine und anderen Ländern gefördert wird. Darüber hinaus ist sie auch als Dolmetscherin, Übersetzerin, Autorin und Kulturmanagerin tätig. Kateryna Rietz-Rakul lebt und arbeitet in Berlin.

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