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von Julia Gusenfeld

Russischsprachige Emigranten in Berlin damals und heute

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„Vom Bahnhof geriet man in den Teil Berlins, den die Russen ‚Klein Petersburg‘ und die Deutschen ‚Charlottengrad‘ nennen. In diesem Teil von Berlin treffen sich Leute, denen Sie jahrelang nicht begegnet sind, ganz abgesehen von Ihren Bekannten; man trifft ganz Moskau und ganz Petersburg, das russische Paris, Prag, ja sogar Sofia und Belgrad; ich vermute, auch wir sind uns begegnet in diesem wahren Treibhaus der russischen Kultur von gestern […]“.1 So beschrieb der russische Symbolist Andrej Belyj das „russische Berlin“ in den 1920er-Jahren.

Vier Emigrationswellen in den Westen hatte Russland im 20. Jahrhundert erlebt; im 21. Jahrhundert spricht man aktuell von der fünften. Die erste Welle baute sich 1918 infolge der Oktoberrevolution auf; die zweite schwappte nach dem Zweiten Weltkrieg ins westliche Europa über, die dritte trieb Menschen während des Kalten Kriegs der 1970erund 1980erJahre ins Exil. Die vierte Welle der 1990erJahre wurde vom Zusammenbruch der UdSSR ausgelöst. Menschen aus verschiedenen „Nachfolge“-Staaten versuchten, dem Elend ihres Alltags zu entfliehen. Die größten Gruppen russischsprachiger Emigranten nach Deutschland stellten Zuwanderer deutscher Abstammung, die sogenannten Spätaussiedler, und jüdische Zuwanderer. Hinzu kam eine große Zahl von Arbeitsmigranten aus Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der regionalen Organisation, in der sich verschiedene Nachfolgestaaten der Sowjetunion am 8. Dezember 1991 zusammengeschlossen hatten. Die fünfte Welle – das sind Russen, die jetzt aus Putin-Russland fliehen.

 

Deutschland: eine Arche

 

Spricht man von der russischen Emigration, ist üblicherweise die erste Welle gemeint. Osteuropahistoriker Karl Schlögel konstatiert, dass „jedes Zentrum der russischen Diaspora sein eigenes Gesicht [hatte]: Sofia und Belgrad waren Städte der Weißen Armee, Prag war das ‚russische Oxford‘ […], in Riga und Reval war man fast ‚zu Hause‘, dort gab es Birken“.2

Und natürlich Berlin – die „Stiefmutter der russischen Städte“, wie es ein Emigrant der ersten Welle, Wladislaw Chodassewitsch, in seinem Gedicht „Berlin“ formuliert hat. Die kulturschaffende Intelligenzija ließ sich in Berlin nieder: Maler, Schriftsteller, Verleger, Wissenschaftler. Die Stadt war, von Russland aus gesehen, die erste westeuropäische Metropole, durch die alle Verkehrswege führten. Was unterscheidet die erste Welle von den nachfolgenden? Nahezu alle Emigranten der ersten Welle betrachteten Deutschland als Arche. Viele warteten sehnsüchtig auf den Fall der Bolschewiken, um nach Russland zurückzukehren, wie es ein deutscher Zeitzeuge 1922 festhielt: „Zwei Welten ohne Brücke, zwei streng abgegrenzte Reiche. Russen bleiben Russen, auch auf dem Nepski-Prospekt3 in Berlin W., wir Deutschen leben an unseren Stammtischen …“4

Vladimir Nabokov, der von 1922 bis 1937 in Berlin lebte, war förmlich besessen davon, die deutsche Sprache nicht zu beherrschen. Zur Begründung führte er an: „Nach meiner Übersiedlung nach Berlin wurde ich von der panischen Angst befallen, ich könnte irgendwie meinen kostbaren russischen Lack ankratzen, wenn ich fließend Deutsch sprechen lernte.“5

Im Gegensatz zu den Emigranten der ersten Welle kamen die Emigranten der vierten Welle Anfang der 1990er-Jahre, zu denen ich selbst zähle, nach Deutschland, um zu bleiben. Die meisten fanden hier ihre neue Heimat. Obwohl sie die ersten Emigranten waren, die problemlos ihr Geburtsland besuchen konnten, wollte kaum jemand zurück. Man lernte Deutsch, studierte und wurde Teil der deutschen Gesellschaft.

Ab Ende der 1990er-Jahre konnte man wieder von einem „russischen Berlin“ sprechen, obwohl die Bezeichnung „russischsprachiges Berlin“ zutreffender wäre. Wie vor hundert Jahren haben sich wieder Orte der russischsprachigen Kultur gebildet.

Berlin als Schmelztiegel russischer und ukrainischer Emigrantenkultur bekam spätestens nach der Annexion der Krim erste Risse. Seit dem 24. Februar 2022 ist eine zunehmende Distanzierung ukrainischer und russischer Kreise zu beobachten. Einerseits entstand eine gemeinsame, überwältigende Solidaritätswelle: Russen, die über den von ihrem Geburtsland angezettelten Krieg entsetzt waren, standen gemeinsam mit unter Schock stehenden Ukrainern an den Bahnhöfen, um ukrainischen Flüchtlingen bei ihrer Ankunft beizustehen. Andererseits erwuchs auch bei den russischsprachigen Ukrainern ein verstärktes Bedürfnis nach Rückbesinnung auf die eigene Sprache und Nation. Teilweise sind die in Berlin lebenden russischen Bürger über die Handlungen ihres Heimatlandes zutiefst entsetzt. Umso schmerzlicher erleben sie den Rückzug des einen oder anderen ukrainischen Freundes. Manche hegen die leise Hoffnung, dass es nach einem baldigen Sieg der Ukraine die Chance auf einen Neuanfang geben könne. Diese Auffassung wird freilich nicht von allen russischstämmigen Menschen in Deutschland und Berlin geteilt, sondern teils sogar heftig bekämpft. Putin hat unter ihnen nicht wenige Anhänger. Die Konfrontationen unter den russischen Einwanderern werden rauer, bis hinein in die Familien.

Der 24. Februar 2022 markierte ein neues Kapitel in der russischen Emigrationsgeschichte und wird wahrscheinlich als Ausgangspunkt einer fünften russischen Emigrationswelle in die Geschichte eingehen. Seit dem Überfall auf die Ukraine verlassen Menschen in Scharen die Russische Föderation. Viele sehen aus ethischen und politischen Gründen für sich keine Möglichkeit mehr, in Russland zu bleiben. Oppositionelle werden verfolgt und inhaftiert. Ihrem Exil haben die frischgebackenen Emigranten die bittere Bezeichnung „SPL“ („Solange Putin Lebt“) gegeben. Noch ist es schwierig, abzuschätzen, wie viele Menschen das Land verlassen haben; verschiedene Quellen gehen von 150.000 bis 780.000 aus. Emigrationszentren sind unter anderem Tiflis, Jerewan, Riga, Vilnius, Prag, Istanbul und Berlin.

 

Eine Wohnung, viele Schicksale

 

Anders aber als in den 1920er-Jahren begegnet man heute „ganz Moskau und Sankt Petersburg“ nicht nur in „Charlottengrad“, sondern unter anderem auch in Kreuzberg, etwa bei Olga Romanova, einer Bürgerrechtlerin und Leiterin der karitativen Stiftung „Russland hinter Gittern“ zur Unterstützung von Verurteilten und deren Familien. In ihrer bescheidenen Zweizimmerwohnung konzentriert sich die geballte Kraft der Berliner Exilanten. Hier sucht man Rat bei allen möglichen Problemen, findet Gehör, Wohnungen werden vermittelt und Rechtsanwälte empfohlen. So wie an diesem Abend: Der Tisch ist reichlich gedeckt, es werden russische Salate, Schwarzbrot und Sauergurken gereicht. Am Herd steht Professor S. und kocht Plov, ein usbekisches Nationalgericht. Man hört laute Stimmen: „Stühle, wir brauchen mehr Stühle!“ „Holt doch noch Gabeln beim Komponisten Filanovskij!“ Bald ist kein Platz mehr am Tisch, und die Gäste machen es sich auf dem Teppich und der Couch bequem. Oder sie stehen einfach am Fenster. Das alles erinnert noch an sowjetische Küchentreffen. Am Tisch werden verschiedene Schicksale der heutigen Emigranten besprochen.

Neben mir sitzt Olga Kaminer, Frau des Schriftstellers Wladimir Kaminer. Wladimir ist nicht dabei, er dreht für den Fernsehsender 3sat. Wir besprechen leise die Wohnsituation in Berlin: Noch nie war sie so angespannt wie jetzt! Olga und Wladimir haben sich gleich nach Kriegsbeginn stark für ukrainische Flüchtlinge und geflüchtete russische Antikriegsaktivisten eingesetzt. In der Couch versinkt der Kunstgeschichtsprofessor Nikolaj. Jedes Mal, wenn er zuvor in Russland der Menschenrechtsorganisation Memorial – sie steht bekanntlich auf der Liste „ausländischer Agenten“ – geholfen hatte, musste er um seine Freiheit bangen. Er führt eine lebhafte Unterhaltung mit Michail, einem ehemaligen Operndirektor und Musikhistoriker. Sie sprechen über ukrainische Flüchtlinge. Den Weg zu Romanova hat Michail direkt nach der Abendschicht in der Erstaufnahmeeinrichtung Tegel gefunden. Dort arbeitet er als Übersetzer und Koordinator. Michail sagt: „Wir müssen an unserem Nervenkostüm arbeiten. Stark werden die Nerven durch tägliche mehrstündige Trainings: Schaue dem Ex-Polizisten aus Mariupol in die Augen, dessen linkes Auge zugenäht ist! Oder führe eine Unterhaltung mit einer schwerkranken ukrainischen dementen Oma, die sich Notizen auf dem Zettel macht, um nichts zu vergessen! Du stehst dazwischen in dieser seltsamen Übersetzerrolle, und die Menschen zählen auf deine Professionalität, trotzdem wird Empathie und Mitgefühl erwartet. Du bist derjenige, der die schicksalsbestimmende Waagschale auf die richtige Seite neigen kann, aber dafür bist du gar nicht vorbereitet …“

Der Journalist Pavel, der mir gegenübersitzt, berichtet mit aufgeregter Stimme über seine Flucht aus Moskau: „Die Tage nach dem 24. Februar befand ich mich in einem Schockzustand. Alles ging den Bach runter, alle jahrelang erarbeiteten Projekte; die Menschen verloren vor Schrecken den Verstand. Als Olga Romanova mir die Möglichkeit eröffnete, nach Berlin zu kommen, überlegte ich keine Sekunde. Ich setze mich ins Auto und fuhr nach Berlin mit einem einfachen Touristenvisum. Ja, der Informationskrieg in Russland ist verloren, die Propaganda ist stark, Putins Regime ist Faschismus 2.0 und wird genauso schrecklich enden, weil es absolut böse ist, aber früher oder später wird es besiegt.“

 

Die Besten verlassen das Land

 

Sergey Lagodinsky, Abgeordneter für Deutschland im Europäischen Parlament, hört aufmerksam zu. Sergey setzt alle seine Kräfte dafür ein, den Antikriegsaktivisten aus Russland humanitäre Visa zu beschaffen. Olga Romanova entschuldigt sich kurz, um ein Videointerview zu geben. „Es sind die Besten, die das Land verlassen. Menschen mit großer Empathie und dem Gefühl einer sozialen Verantwortung“, sagt sie der Journalistin.

Marina Davydova treffe ich Ende Juni in einem italienischen Restaurant in Kreuzberg. Vor mir sitzt eine erschöpfte, aber glückliche Frau – glücklich, weil sie aus Moskau f liehen konnte. Mit dabei ist ihr Sohn Ignat. Marina Davydova ist Festivalleiterin und Theatermacherin; sie ist seit Langem auch außerhalb Russlands bekannt, man könnte sie als Kosmopolitin bezeichnen. Am 24. Februar dieses Jahres verfasste Marina eine Petition, mit der sie zum sofortigen Ende der Kriegshandlungen in der Ukraine aufrief. Schon wenige Tage später füllte sich ihr E-Mail-Postfach mit Drohungen und Beleidigungen. Tage darauf schmierte jemand das „Z“-Zeichen (das „Z“ gilt als Symbol für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine) auf ihre Eingangstür.

„Dann wurde mir klar: Ich muss hier raus!“, erzählt Marina. „Kurz nachdem ich die Grenze passiert hatte, ging ich online und fand heraus, dass Kameras für die Videobeobachtung am Haus angebracht waren. Drei verschiedene Videos zeigten mein schreckliches Verbrechen: mein Verlassen des Hauses, das Beladen des Autos und meine Abreise. Das Video wurde in zahlreichen Telegram-Kanälen hochgeladen und giftig kommentiert: ‚Seht nur, so flieht die russische Intelligenzija.‘ Ich fühlte mich gedemütigt wie Kerenskij (der letzte Chef der demokratischen provisorischen Regierung vor der Oktoberrevolution), der im Frauenkleid aus Russland floh.“

An diesem warmen Berliner Juniabend werden wir von flüchtigem Lindenduft umhüllt. Russland scheint sehr weit entfernt und ist gleichzeitig sehr nah. Marina sagt: „Jetzt haben wir alle nur ein Ziel: den Faschismus in Russland zu besiegen und den Krieg in der Ukraine zu beenden. Wir müssen uns solidarisieren und eine breite politische Abwehrbewegung bilden, mit einfach formulierten und vereinenden Parolen, mit der eindeutigen Repräsentation dieser Front in sozialen Netzwerken. Das ist die dringende Ausgabe von Intellektuellen aus Russland, es gibt jetzt nichts anderes.“

Die ewigen Fragen der Emigranten sind wieder aktuell geworden: Für immer? Komme ich jemals zurück nach Russland? Was tun? Sind die heutigen Besitzer der russischen Pässe in der Lage, aus dem Exil heraus etwas in Russland zu verändern? Ist es sinnvoll, die Erfahrung des Widerstands aus der ersten Emigrationswelle gegen den Bolschewismus zu nutzen? Leider war damals alles vergebens – die dunkle bolschewistische Wolke bedeckte das Land für Jahrzehnte.

Dennoch, die Hoffnung bleibt, und diese hat Alexander Morozov in der Augustausgabe der Novaya Gazeta so formuliert: „Die Hoffnung ist heute nicht mehr politisch oder institutionell geprägt. Die Hoffnung hat nur eine Richtung: je größer die Katastrophe, desto größer die Chance, dass sie mächtige vitalisierende Gegenkräfte mobilisiert. Katastrophen von historischem Ausmaß setzen immer ungeahnte Lebenskräfte frei, die dabei helfen, selbige Katastrophe zu überwinden.“6

 

Julia Gusenfeld, Bachelor in Bibliotheks- und Informationswissenschaft und Slawistik, Master in Kulturen Mittel- und Osteuropas, Organisatorin von Literaturprojekten, Lektorin und Bibliothekarin, Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

1 Thomas Urban: Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre. Berlin 2003, S. 79.

2 Karl Schlögel: Das russische Berlin. Ostbahnhof Europas, München 2007, S. 107.

3 Die Deutschen nannten den Kurfürstendamm in Anlehnung an den Petersburger Newski-Prospekt und in Anspielung auf Lenins „Neue Ökonomische Politik“ (russisch abgekürzt NEP) den NEPski-Prospekt; dazu vgl. Urban, a. a. O., S. 11.

4 Fritz Mierau (Hrsg.): Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film, Leipzig 1987, S. 176.

5 Vgl. Urban, a. a. O., S. 196.

6 Alexander Morozov: „Umdenken durch die Katastrophe. Sechs Thesen, warum es verfrüht ist, heute über die Wiederherstellung Russlands zu sprechen“, in: Novaya Gazeta, 09.08.2022, https://novayagazeta.eu/articles/2022/08/09/pereosmyslenie-cherez-katastrofu [letzter Zugriff: 08.09.2022].

 

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