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von Marco Seliger

Wie „kriegstüchtig“ ist die deutsche Gesellschaft?

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Es ist der 10. Dezember 1971 in Oslo, 26 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als einem Deutschen eine große Ehre zuteilwird. Bundeskanzler Willy Brandt nimmt an der Universität der norwegischen Hauptstadt den Friedensnobelpreis entgegen. Der SPD-Politiker empfängt die angesehene Auszeichnung für seine auf Versöhnung ausgerichtete Ostpolitik. Am Tag darauf hält er an gleicher Stelle einen Vortrag zum Thema „Friedenspolitik in unserer Zeit“. Der Krieg, sagt er, dürfe kein Mittel der Politik sein. Es gehe darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. „Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio.“

Von diesem Vorbild pazifistischer Grundhaltung sind Generationen vor allem sozialdemokratischer und grüner Politiker in Deutschland sozialisiert worden. Einer dieser „Enkel“ Willy Brandts ist der heutige Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Er sagte von sich, er entstamme der Friedensbewegung, und es sei schmerzlich für ihn, nun den Krieg vorbereiten zu müssen. Pistorius wählte im November 2023 ungewöhnlich direkte Worte. „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“

Ein Faktor in dieser Aussage ist besonders bemerkenswert, weil ihn sich ambitionierte Politiker bisher kaum auszusprechen trauten: Pistorius redet von „Kriegstüchtigkeit“. Damit rührt er an ein Tabu in der politischen und gesellschaftlichen Debatte Deutschlands. Nie wieder Krieg – mit dieser pazifistischen Grundhaltung sind große Teile der Gesellschaft und der heutigen Regierung politisiert worden. Nun sollen Deutschland, seine Bürger und die Armee wieder wehrhaft werden.

In Deutschland hat man mit Begriffen wie „Krieg“ seit 1945 keine Wahlen gewonnen. Dieses Wort war gut sieben Jahrzehnte weitgehend aus dem politischen Vokabular gestrichen. Dabei war schon im Kalten Krieg klar, was der Verteidigungsfachmann der CDU, Roderich Kiesewetter, kürzlich formulierte: „Wir müssen Krieg können, um ihn zu verhindern.“ Doch zwischen dem Kalten Krieg und der heutigen Bedrohungslage in Europa seit dem russischen Überfall auf die Ukraine liegen drei Jahrzehnte, in denen sich das ambivalente Verhältnis der Deutschen zu ihrer Verteidigungsfähigkeit, ihren Streitkräften und Soldaten erheblich verstärkte. Sie waren zwar bereit, sich an Auslandseinsätzen zu beteiligen, allerdings nur, wenn es friedlich zuging.

In Afghanistan funktionierte es lange Zeit, das Kämpfen den anderen zu überlassen. Dann eskalierte auch im Einsatzgebiet der Bundeswehr die Lage. Während die Soldaten töten mussten und von Krieg sprachen, wollten die Gesellschaft und die Politik davon nichts wissen. Diese Haltung verkörperte nicht zuletzt der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU). Nüchtern, distanziert, technokratisch sprach er von Stabilisierungs- oder Friedenseinsatz. Krieg, das seien für ihn die zerstörten Städte Deutschlands 1945.

 

Je ziviler, desto besser

 

Politiker, Journalisten und Wissenschaftler gaben sich in den drei Jahrzehnten seit dem Mauerfall große Mühe, ein Bild von der Bundeswehr zu zeichnen, das nichts mit den „bösen“ Seiten des Krieges zu tun hat. Soldaten sollten Streetworker, Sozialarbeiter und Schlichter in „Post-Konflikt-Ländern“ sein, neutrale Mittler zwischen den Fronten. Als Beschützer bestünden ihre Aufgaben aus Retten, Schützen und Helfen. Als überzeugter Demokrat und werteorientierter Staatsbürger in Uniform habe der Soldat vor allem eine zivile Identität – je ziviler, desto besser.

Wie sehr den Deutschen das Kämpfen ausgetrieben werden sollte, belegen etwa Äußerungen der Theologin Angelika Dörfler-Dierken. In einem Aufsatz für das damalige Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (Identität, Selbstverständnis, Berufsbild. Implikationen der neuen Einsatzrealität für die Bundeswehr) plädierte sie im Jahr 2010 für eine neue Identität der Bundeswehr, die sich auf die Werte der Achtundsechziger und der Friedensbewegung stützen sollte. Der Soldat müsse sich als Arbeiter für den Frieden begreifen, dem er als Sicherheitsfachkraft diene.

Traditionelle militärische Tugenden, wie sie damals im Kampf gegen die Taliban gefordert waren, könnten, so schrieb die Theologin in Verkennung jeglicher Einsatzrealitäten, einer friedensorientierten, demokratischen Armee keinen Sinn mehr vermitteln. Militärische Normen und Praktiken wie Gehorsam, Kasernierung und Formaldienst seien von einer auf einem zivil-humanitären Ethos basierenden Diskussionsgemeinschaft abzulösen.

Die abstrusesten Ansichten konnten selbst im direkten Umfeld der Bundeswehr prächtig gedeihen. Elmar Wiesendahl, Politikwissenschaftler und bis 2010 Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, bezeichnete es während der Hochzeit des Afghanistankriegs als besorgniserregend, wie die Soldaten „auf ein überzeitliches Ideal des Kämpfertums“ reduziert würden. Auf diese Weise werde einem Tugendfundament das Wort geredet, das mit dem demokratischen und zivilgesellschaftlichen Wertekanon nicht vereinbar sei. Den Krieger trennten Welten vom Staatsbürger in Uniform. Politik und militärische Führung, so Wiesendahl, müssten daher verhindern, dass vorgestrige Kriegskonzepte größere Bedeutung für die Konstruktion soldatischer Berufsidentitäten gewännen.

Auf eine solche, in der deutschen Gesellschaft bis heute tief verankerte pazifistische und den Kern des Militärischen negierende Grundhaltung trifft nun Pistorius’ Aussage von der Kriegstüchtigkeit. Doch was heißt das überhaupt?

 

Wer würde kämpfen?

 

Man könnte mit einem Zitat des früheren litauischen Verteidigungsministers, Artis Pabriks, beginnen: Er sagt, Deutschlands militärische Schwäche habe mit dem Verteidigungsunwillen seiner Gesellschaft zu tun. Oder mit einer Aussage des früheren Oberkommandierenden der US-Landstreitkräfte in Europa, Ben Hodges. Er zweifele nicht an der Qualität der Bundeswehr, aber an ihrer Kampfbereitschaft, sagt der frühere US-General. Deutschland fehle der politische Wille zum Kampf.

Die beiden Aussagen berühren zwei Aspekte, die in der Debatte über die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands bisher kaum eine Rolle spielten. Der miserable materielle und strukturelle Zustand der Streitkräfte ist inzwischen vielfach beschrieben und kritisiert worden. Es gibt kaum öffentliche Zweifel am dringenden Handlungsbedarf. Welche Rolle aber Politik und Gesellschaft spielen, um Deutschland wieder wehrbereit zu machen, was geschehen muss, um die politischen Entscheidungsträger und das Volk „kriegstüchtig“ zu machen, damit hat sich die Bundesrepublik bisher kaum beschäftigt.

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA („Institut für neue soziale Antworten“) im Auftrag der Evangelischen Nachrichtenagentur wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zeigte, dass gerade einmal 29 Prozent der Deutschen ihr Land mit der Waffe verteidigen würden. Jeder Vierte gab an, im Kriegsfall die Flucht ins Ausland vorzuziehen.

Ende November 2023, der Krieg tobte seit mehr als anderthalb Jahren, ergab die jährliche Umfrage der Körber-Stiftung zur Sicht der Deutschen auf die Außen- und Sicherheitspolitik, dass 54 Prozent der Befragten der Ansicht seien, ihr Land solle sich bei internationalen Krisen stärker zurückhalten. Wenn schon internationales Engagement, dann diplomatisch. Eine militärische Führungsrolle Deutschlands in Europa, die Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Zeitenwende-Rede am 27. Februar 2022 einzunehmen ankündigte, lehnen der Körber-Stiftung zufolge zwei Drittel der Deutschen ab.

 

Nation und Wehrbereitschaft

 

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel bleibt trotz dieser Befunde gelassen. Keine Friedensgesellschaft habe es je geschafft, sich wirklich auf einen Krieg vorzubereiten, sagt er. Deutsche Soldaten marschieren heute in der Grundausbildung nicht mehr dreißig Kilometer mit Gepäck und Waffe, so wie es früher in der Bundeswehr der Fall war. Sie joggen auch nicht mehr jeden Morgen fünf Kilometer in Uniform und Stiefeln, ein Lied auf den Lippen und die Kompaniefahne in der Hand. Diese Zeiten sind vorbei. „Selbst die heutige russische Armee wäre von der Roten Armee des Zweiten Weltkriegs wahrscheinlich für ihre Verweichlichung verspottet worden“, sagt Sönke Neitzel, der an der Universität Potsdam lehrt. Die Rote Armee habe einst überwiegend aus Bauern bestanden. Sie hätten unter viel härteren Bedingungen gelebt als die Bürger Russlands heute.

In der Bundesrepublik, sagt Neitzel, sei die nationale Identität nach 1990 vor allem von linken Politikern bekämpft worden. Der Nationalstaat gelte ihnen als Vorläufer des Krieges und des Holocaust. Führende Repräsentanten des Staates wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagten nicht, dass es sich lohne, für Deutschland zu kämpfen. Sie äußerten stattdessen, es lohne sich, die Verfassung, Werte und Demokratie zu verteidigen. Doch das, sagt Neitzel, sei zu abstrakt und funktioniere nicht. „Kein Mensch setzt sich für die Verfassung einen Stahlhelm auf und zieht in den Krieg.“ Auch das gehört zum Thema „Kriegstüchtigkeit“: Die führenden Politiker des Staates müssen zur Nation stehen, sie müssen im Land ein gesellschaftliches Nationalitätsbewusstsein befördern.

Verteidigungsminister Pistorius musste sich für seine Aussage zur Kriegstüchtigkeit vorwerfen lassen, er leiste einer Militarisierung des Landes Vorschub. In einem offenen Brief schrieben ihm etwa die „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“, die von ihm geforderte Kriegstüchtigkeit sei mit dem Grundgesetz unvereinbar. Das Friedensgebot sei in dessen Präambel und in Artikel 1 fest verankert. Zudem, hieß es weiter, könnten moderne Industriestaaten wie Deutschland militärisch nicht verteidigt werden. Der Grund: Im Fall eines Krieges bestehe die Gefahr, dass in Deutschland all das vernichtet werde, was man zu verteidigen vorgebe.

 

„Schonungslose Offenheit“ erforderlich

 

Was die Autoren nicht schreiben, das sind ihre Gedanken, wie sich Deutschland denn sonst mit seinen NATO-Partnern am besten der militärischen Eroberungsgelüste Wladimir Putins erwehren könnte. Die Friedens- und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff sagt, die Politiker müssten endlich in „schonungsloser Offenheit“ darüber sprechen, was das Volk in der Zukunft erwarte. Bisher erwecke die Bundesregierung den Eindruck, als müsste sich das Land einmal noch anstrengen, um der Ukraine bei ihrem Kampf zu helfen. Dann werde sich der Krieg erledigt haben, und alles sei wieder normal. „Das ist eine Illusion“, so Deitelhoff, Direktorin des Friedensforschungsinstituts in Frankfurt am Main. Ein Blick nach Russland unterstreicht das. Putin bereitet sein Land auf einen langen Konflikt mit dem Westen vor. Wie zu Sowjetzeiten erhalten Kinder heute wieder eine vormilitärische Ausbildung. Lehrbücher propagieren, dass die Grenzen des alten russischen Reichs wiederhergestellt werden müssten. Die Armee stilisiert sich zur Schule der Nation. „Wir reden über Jahrzehnte der Konfrontation, die uns gewaltige finanzielle, möglicherweise aber auch menschliche Kosten abverlangen werden“, sagt Deitelhoff. Das müsse so gesagt werden. Damit öffne man den Blick der Bürger für die Bedrohungen und ihre Konsequenzen. Davor aber drücke sich die Politik.

Die Reaktionen auf die Äußerungen von Pistorius zeugten davon, dass die Deutschen „die Welt allmählich zur Kenntnis nehmen“, sagt Neitzel. Sie zeigten, dass die Gesellschaft viel besser wisse, was die Stunde geschlagen habe, als die Politiker dächten. Dennoch trauten sich die Politiker nicht, den Bürgern nun die Konsequenzen zu verdeutlichen.

„Die Bevölkerung ist bereit, zu kämpfen und persönliche Einschränkungen hinzunehmen, wenn man ihr erklärt, wozu das nötig ist“, äußert Neitzel. Eine strikte Ablehnung, mit der Waffe für das Land einzustehen, habe es in Deutschland nie gegeben. Das zeige etwa der NATO-Doppelbeschluss in den 1980er-Jahren. So wie es diejenigen gegeben habe, die dagegen protestierten, habe es auch diejenigen gegeben, die genau deshalb zur Bundeswehr gegangen seien.

In einem Interview mit dem Spiegel sagte der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper im März 1992, es gebe eine Paradoxie im Wohlergehen der Menschheit: Sie beruhe auf einer wirklichen Wachsamkeit gegen eine Menge Gefahren. Aber das Wohlergehen vernichte auch die Wachsamkeit. Die Freiheit werde leicht zu etwas Selbstverständlichem. Das bedeute, dass man dann eben wieder einem Diktator zum Opfer falle. Auch deshalb, so der damals 89-jährige Popper, dürfe die freiheitliche Welt nicht davor zurückschrecken, „für den Frieden Krieg zu führen“.

 

Marco Seliger, geboren 1972 in Blankenburg (Harz), seit Januar 2023 sicherheits- und verteidigungspolitischer Redakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) in Berlin.

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