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Umdeutung von Begriffen: Die Täter-Opfer-Umkehr in der Propaganda der "Roten Armee Fraktion" (RAF)
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Die RAF verstand es meisterhaft, Begriffe umzudeuten. Frühzeitig begann sie, eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. Dazu gehörte es, RAF-Täter zu viktimisieren und RAF-Opfer zu entmenschlichen bzw. zu animalisieren – u.a. als „Kapitalisten-, Bullen- und Nazischweine“. Dadurch präsentierte die RAF die Opfer ihrer Mordanschläge als die angeblich wirklichen Täter. Um ihre Morde als „Gegengewalt“ und „Notwehr“ zu legitimieren, hatte sie bereits in ihrem „Konzept Stadtguerilla“ von 1971 proklamiert: „Stadtguerilla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren zu lassen“. Später befand sie in ihrer Auflösungserklärung 1998: „Wir haben gewalttätige Verhältnisse mit der Gewalt der Revolte beantwortet“.
Das zentrale Ziel der RAF habe darin bestanden, durch Gewalt ein angeblich gewalttätiges „System“ zu beseitigen. Daher verstand sich die RAF als „Widerstands- und Befreiungsbewegung“ gegen den vermeintlich gewalttätigen „Kapitalismus“. So hatten spätere RAF-Gründer schon die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch den Schusswaffeneinsatz des Polizisten Karl-Heinz Kurras genutzt, um zum gewalttätigen „Kampf“ gegen die Bundesrepublik aufzurufen. Hierbei hatten sie sich durchaus nicht nur auf Fiktionen, sondern partiell auch auf Fakten gestützt.
Denn zum einen hatte Kurras den unbewaffneten Studenten, der als Pazifist galt und in einer evangelischen Studentengemeinde aktiv war, von hinten erschossen. Zum anderen hatte der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Täter vor Gericht sogar einen Freispruch wegen schuldausschließender Notwehr („putative Notwehr“) errungen, weil er faktenfern glaubhaft machen können, sich durch den unbewaffneten Studenten mit einem Messer angegriffen gefühlt zu haben. Nicht nur spätere RAF-Gründer empörte damals sowohl die Tötung des Unbewaffneten als auch der Freispruch des Täters – dass der später als MfS-Zuträger enttarnte Todesschütze Kurras sein Opfer Ohnesorg im Auftrag der SED ermordet hat, lässt sich bislang nicht belegen, würde aber wenig verwundern.
Gudrun Ensslin hatte bereits kurz nach der Tötung Ohnesorgs durch Kurras appelliert: „Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Das ist die Generation von Auschwitz! Wir müssen Widerstand leisten. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden.“ Die „Bewegung 2. Juni“ instrumentalisierte das Datum der Tötung Ohnesorgs bereits in ihrer Selbstbezeichnung, um ihren Terror als „Gegengewalt“ zu legitimieren.
Im „Kampf“ gegen den angeblich strukturell gewalttätigen „Kapitalismus“ hatte Ulrike Meinhof bereits im Juni 1970 den Einsatz von Schusswaffen gegen Polizeibeamte propagiert. In ihrem „Schießbefehl“ hatte die RAF-Propagandachefin appelliert: „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. D.h. wir haben nicht mit ihm zu reden...und natürlich kann geschossen werden!“ Denn zu den Aufgaben der „Bullen“, denen sie das Menschsein abspricht, gehöre es, die „Verbrechen des Systems zu schützen“.
Einen Höhepunkt erreichte die RAF-Propaganda gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ und gegen die „kapitalistische Klassenjustiz“ 1972 nach der Verhaftung fast der gesamten Spitze der sogenannten 1. RAF-Generation. Hierzu agitierte die RAF in enger Kooperation mit ihren Anwälten zum einen mit dem Propagandabegriff der „Isolationsfolter“ („Vernichtungshaft“) und agierte zum anderen in Justizvollzugsanstalten mit „kollektiven Hungerstreiks“.
Zwar lebten Mitglieder der RAF-Kommandoebene – wie Ulrike Meinhof in einem abgelegenen Teil der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf („toter Trakt“) – im Gefängnis phasenweise unter harten Haftbedingungen, die u.a. dazu dienten, bewaffnete Befreiungsversuche, wie sie die RAF durchaus propagiert und bereits bei ihrer Gründung am 14. Mai 1970 praktiziert hatte, und Selbsttötungen von Gefangenen zu erschweren. Meinhof, die auch in dieser Zeit immer wieder in der Haftanstalt enge Bezugspersonen empfing, scheute sich damals nicht, das eigene Schicksal in Ossendorf mit den Mordfabriken in Auschwitz beinahe gleichzusetzen. Fast zeitgleich hatte sie den palästinensischen Mordanschlag auf israelische Sportler in München, mit dem auch sie freigepresst werden sollte, als „antifaschistische“ und antiimperialistische Großtat der „Menschlichkeit“ heroisiert.
Doch gerade in Stuttgart-Stammheim profitierte die RAF-Spitze von besonders generösen Haftumständen. Dort brach der Strafvollzug unter dem Druck der RAF-Sympathisantenszene mit zwei traditionellen Grundsätzen: Zum einen dem Prinzip, Männer und Frauen getrennt unterzubringen, und zum anderen der Regel, Beschuldigte eines Verfahrens ebenfalls von einander zu separieren, um Absprachen zu erschweren. Dadurch verbrachten die privilegierten Häftlinge täglich mehrere Stunden miteinander im „Umschluss“. Obendrein empfingen sie häufig Besuch, genossen eine besondere Verpflegung und erhielten Sportgeräte – nicht zuletzt, um ihre Haft- und Verhandlungsfähigkeit im RAF-Prozess zu sichern. Beachtlich war neben Fernseh- und Radiogeräten auch die Literatur in den Haftzellen der RAF-Täter, darunter nicht nur Werke von Marx, Lenin und Mao, sondern auch „Guerilla“-Literatur u.a. über moderne Sprengtechniken und polizeiliche Fachliteratur u.a. über Fahndungsmethoden.
Das alles vernebelten die ‚politischen Gefangenen‘ der RAF, die entgegen ihrer Selbstetikettierung nicht – wie in einer Diktatur – wegen ihrer politischen Überzeugungen, sondern wegen (des dringenden Verdachts) schwerster Straftaten inhaftiert waren. Die surreale RAF-Agitation gegen die „Isolationsfolter“ förderten u.a. zahlreiche RAF-Anwälte, indem sie die damalige Bundesrepublik in die Nähe des „Dritten Reiches“ rückten. Im Kern zielte die RAF insbesondere in der Debatte über die Haftbedingungen darauf, RAF-Täter zu Opfern eines „faschistischen Repressionsstaates“ zu stilisieren, um die wirklichen Opfer herabzuwürdigen und als die wahren Täter darzustellen.
Als weiteres Druckmittel der RAF gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ fungierten „kollektive“ Hungerstreiks. Gerade auch dadurch versuchte die RAF-Spitze, Täter als Opfer zu präsentieren. Hierbei kalkulierte die RAF-Spitze um Ensslin und Baader, die ihre Hungerstreiks immer wieder heimlich unterbrachen, frühzeitig mit Todesopfern unter ihren Gesinnungsgenossen, um den öffentlichen Druck auf die Politik zu erhöhen – für die Revolution war für die damalige RAF-Spitze fast alles erlaubt. Wörtlich hieß es dazu in einem Zellenzirkular von 1973: „wir brauchen eine leiche...eine leiche und wir haben was in der Hand“. Daher forderten Ensslin und Baader von ihren Mitstreitern in den Hungerstreiks immer wieder, weiter an Körpergewicht zu verlieren.
Später, im November 1974, starb Holger Meins in der Justizvollzugsanstalt Wittlich/Mosel trotz Zwangsernährung tatsächlich an den Folgen des Hungerstreiks – nach seinem Tod bemängelten Kritiker medizinische Versäumnisse bei der ärztlichen Betreuung des Inhaftierten im Hungerstreik. Das wirkmächtige Bild seines Leichnams erinnerte Birgit Hogefeld an NS-Opfer in Auschwitz und förderte die Radikalisierung nicht nur der späteren Topakteurin der sogn. 3. RAF-Generation. Nach dem Tod von Meins demonstrierten jeweils mehrere tausend Personen in mehreren Städten der Bundesrepublik gegen den demokratischen Rechtsstaat, der am Tod des Mitglieds der RAF-Kommandoebene (mit-) schuldig sei.
Letztlich versuchte die RAF durchgängig, die eigenen Verbrechen durch Verweis auf den „gewalttätigen Kapitalismus“ zu legitimieren. So heißt es in ihrer Auflösungserklärung ausgerechnet vom 20. April 1998, die RAF-Opfer faktisch komplett ausblendet, RAF-Täter weiter heroisiert und RAF-Verbrechen erneut rechtfertigt: „Wir stehen zu unserer Geschichte...Wir sind froh, Teil dieses Versuchs gewesen zu sein...Das Ende des Projektes zeigt, dass wir auf diesem Weg nicht durchkommen konnten. Aber es spricht nicht gegen die Notwendigkeit und Legitimation der Revolte...Denn der tatsächliche Terror besteht im Normalzustand des ökonomischen Systems“. Insofern qualifizierte die RAF nicht sich als terroristisch, sondern den "Kapitalismus".
Harald Bergsdorf