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Veranstaltungsberichte

Abgehängt oder selbstgewählte Armut?

von Stanislav Linchevsky

Konferenz über die Arbeitenden und die Armen

Zusammen mit dem Van Leer Institut, organisierte die KAS eine Konferenz über die „arbeitstätigen Armen“. Das zunehmende Phänomen wurde auf der Konferenz tiefgehend aus unterschiedlichen und widersprüchlichen Perspektiven diskutiert. Mögliche Lösungsansätze wurden von Experten und Entscheidungsträgern auf dem Gebiet präsentiert, unter anderem von Hauptredner Prof. Ronnie Schöb von der Freien Universität Berlin. Obwohl es keine klare Einigung in Bezug auf die Problematik gab, beleuchtete die Konferenz einige sehr wichtige Themen, wie Arbeitspolitik, Bildung, Löhne und Regierungsverantwortung.

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Die Konferenz wurde von Prof. Michal Strawczynski, dem Leiter des Wirtschafts- und Gesellschaftsprogramms am Van Leer Institut Jerusalem und von Dr. Michael Borchard, dem Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung Israel eröffnet. Beide hießen die Teilnehmer willkommen und führten in die Thematik ein.

Prof. Michel Strawczynski sagte, jeder, der sich mit dem Thema beschäftige, wisse, dass Armut ein langfristiges Problem darstelle, das nicht schnell gelöst werden könne. Deshalb müsse man Mittel und Programme diskutieren, welche auf lange Sicht eingesetzt werden können. Prof. Strawcynski erklärte, wie wichtig es sei, dass das Thema wieder Teil des öffentlichen Diskurses werde. Dr. Michael Borchard betonte, dass die Lücke zwischen Arm und Reich sowohl in Israel als auch in Deutschland immer grösser werde, trotz einer relativ niedrigen Arbeitslosigkeitsrate in beiden Ländern. Dr. Borchard sprach die kommenden, wirtschaftlichen Herausforderungen an und erklärte, dass beide Länder einander als Vorbild dienen können – Deutschland durch sein System der sozialen Marktwirtschaft und Israel durch seinen Mut und Optimismus.

Sitzung zu Armut, Teilzeitarbeit und Lohnauffüllung

Die erste Runde beinhaltete die Vorstellung von zwei verschiedenen Studien. Die erste Studie wurde von Prof. Michael Strawczynski und Prof. Leah Achdut vom Van Leer Institut durchgeführt in Kooperation mit Frau Miri Endeweld vom Nationalen Versicherungsinstitut. Die Studie zeigte, dass die Durchschnittszahl von „armen Arbeitenden“ in Israel in den letzten 15 Jahren um vier Prozent angestiegen ist. In Folge dessen ist die Anzahl der „armen Arbeitenden“ in der Bevölkerung von arbeitenden Familien in Israel von 9,4% im Jahr 1999 zu 13,2% im Jahr 2014 gestiegen ist. Frau Miri Endeweld stellte ihre Daten von 2004 bis 2014 vor, welche verschiedene Dimensionen der arbeitenden Armen darstellten. Ihre Studie präsentierte zudem andere Niedriglohnsektoren, bestehend aus neugekommenen Immigranten, Arabern, Haredis (Ultra-Orthodoxen), Hilfsarbeitern, Leuten im öffentlichen Sektor und denjenigen, die eine Lohnauffüllung erhalten. Frau Endeweld beendete ihren Beitrag mir mit dem Vorschlag zusätzliche Mittel zum Lohnauffüllungsprogramm (ITAC)* aufzunehmen. Prof. Michel Strawczynski empfahl, ITAC soll vom ersten Shekel (NIS) an gegeben werden. Folglich sollen die Armutsrate gesenkt und zusätzliche Teilzeitjobs geschaffen werden. Dies sei von den USA übernommen worden, wo der gleiche Zuschuss vom ersten Dollar an gegeben wird. Er erklärte, dass in Israel Leute, die Teilzeit arbeiten und weniger als 2100 NIS verdienen, den Zuschuss nicht bekommen und dass in der gegenwärtigen Situation 1/10 der Teilzeitbeschäftigten als untauglich für den Zuschuss gelte.

Kindergeld und die Ansammlung von Humankapital: Der Fall Israel

Die zweite Studie wurde von Herrn Shai Tsur von der Bank Israel vorgestellt. Herr Tsur führte eine Studie durch, die sich auf das Kindergeld in Israel spezialisiert. Seine wichtigste Forschungsfrage lautete: Welche Auswirkung hatte die Steigerung von finanziellen Mitteln auf arabische Familien? Er erklärte, dass vor 1933 Kindergeld nur an diejenigen ging, die in der Armee gedient haben (was die meisten arabischen Familien ausschloss). Nach 1933 wurde ein universelles Kindergeld eingeführt, welches arabische und orthodoxe Familien einbezog. Herr Tsur fand heraus, dass der Politikwechsel bezüglich des Kindergelds eine Steigerung der Bildungschancen für arabische Mädchen mit sich brachte. Außerdem kam er zu dem Schluss, dass die bessere Ausbildung der arabischen Mädchen ihre Integration auf dem Arbeitsmarkt wesentlich förderte. Letztendlich vergrößerte dieser Wechsel den Prozentsatz der arbeitsfähigen Kräfte und förderte somit auch eine Reduzierung von Armut.

Hauptsitzung: Reformen für die abreitenden Armen: Implikationen für Mindestlohn und Lebensqualität

Nach einer kurzen Kaffeepause hörten die Anwesenden den Hauptvortrag der Konferenz von Prof. Ronnie Schöb von der Freien Universität Berlin. Prof. Schöb präsentierte die Entwicklung von Arbeitslosigkeit in Deutschland von 1990-2005. Er nannte Langzeitarbeitslosigkeit als Hauptproblem in Deutschland während dieser Zeit. Dieses Phänomen ging erst 2015 zurück auf Grund neuer Regierungsstrukturen und durch due Hartz IV Reformen, welche darauf abzielten, Menschen zurück auf den Arbeitsmarkt zu holen. Folglich ging die Arbeitslosigkeit zurück, während andere Probleme entstanden, eines davon die „arbeitenden Armen“. In der Tat führte dies in Deutschland zur Nachfrage nach einem ausreichenden Mindestlohn. Prof. Schöb erforschte, ob die Einführung des Mindestlohns die Probleme der arbeitenden Armen verbesserte. Die ersten Ergebnisse zeigten, dass die Arbeitslosenzahlen weiterhin zurückgingen. Trotzdem sagte Prof. Schöb, dass man abwarten müsse, ob der Mindestlohn eine Erfolgsgeschichte sein werde. Er schloss damit ab, wie notwendig es sei, Arbeitsmarktreformen zu kreieren, die das Los beider „zurückgelassener“ Gruppen verbessere - das der Langzeitarbeitslosen und das der arbeitenden Armen.

Symposium: Kann der Arbeitsmarkt die einzige Medizin für die Armen sein? Einsichten aus Israel und dem Ausland

Das letzte Symposium des Tages bestand aus Sprechern, die darüber diskutierten, ob der Arbeitsmarkt die einzige Medizin für die Armen sei. Der erste Sprecher, Prof. Ronnie Schöb, sprach die gegenseitige Abhängigkeit von Regierung und Arbeitsmarkt an. Er erklärte, die deutsche Regierung biete kaum Dienste auf dem Gebiet an. Es stelle sich die Frage, wer zahlen solle um die Lebensunterhaltskosten zu garantieren – die Gesellschaft oder private Unternehmen. Das Dilemma liege zwischen der Gesellschaft, welche mit den Zurückgelassenen solidarisieren würde, und den privaten Firmen, welche die Solidarität abwälzen würden, so Prof. Schöb. Weiterhin erklärte er, in Deutschland sei die Vorstellung anerkannt, dass die Gesellschaft zahlen solle. Schließlich empfahl er als Strategiewechsel, die Reduzierung von sozialen Sicherheitsbeiträgen für Wenigverdiener, kombiniert mit einem Zahlungsaufschub bei Niedriglöhnen.

Der zweite Sprecher, Herr Yoel Naveh vom israelischen Finanzministerium untersuchte Trends von Ungleichheit und Arbeitslosigkeit während der letzten zwei Jahrzehnte in Israel. Zuerst zog er einen Vergleich zwischen westlichen Ländern und Israel und konzentrierte sich dabei auf Letzteres. Es gebe einen bedeutenden Anstieg von Menschen auf dem Arbeitsmarkt, eine Verbesserung von Einkommen und Verbrauch, einen Anstieg des Mindestlohns sowie auch der Armutsrate. Herr Naveh traf die Voraussage, dass Hilfsarbeiter besonders wegen dem geplanten Anstieg des Mindestlohns leiden werden. Er beendete seine Präsentation mit dem Statement, dass diejenigen, die mehr Leute in ihrem Haushalt haben die arbeitenden Armen seien. Er stellte die Frage, ob man die Tatsache akzeptieren solle, dass Armut in manchen Fällen selbst gewählt sei.

Dr. Sami Miaari vom Israel-Institut für Demokratie sprach die Armut im arabischen Sektor an. Dabei fokussierte er Gender-Themen innerhalb der arabischen Gesellschaft und am Arbeitsmarkt. Er stellte fest, dass die Teilnehmerrate von Arabern am Arbeitsmarkt seit 2003 kontinuierlich angestiegen sei. Trotzdem erwähnte er, dass ihre Positionen meist nicht mit ihrem Qualifikationslevel übereinstimmen. Diese Tatsache mache die Ungleichheit und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt deutlich. Er führte weiterhin die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen in Israel auf. Dr. Miaari legte dar, dass eine arabische Frau, auf Grund dieser Unterschiede, keine Garantie habe ihren Haushalt aus der Armut zu bringen, nur indem sie arbeiten gehe. Dr. Miaari schlug deshalb nicht nur vor, Frauen dazu zu ermutigen, in den Arbeitsmarkt einzutreten, sondern er plädierte ebenfalls dafür, ihnen auch eine Gleichberechtigung in Bezug auf die Arbeitsmöglichkeiten zu garantieren.

Zum Abschluss des Symposiums, sprach Michal Biran (Mitglied der Knesset) das Thema der arbeitenden Armen von einem sozialeren Standpunkt her, an. Sie stimmte der optimistischen Meinung von Herrn Naveh nicht zu und beschrieb eine eher düstere sozial-ökonomische Situation. Frau Biran legte dar, dass mehr als 40% der Mittelklasse-Familien in Israel nicht in der Lage seien, hohe, unerwartete Kosten zu bezahlen. Fast alle jungen Israelis seien finanziell von ihren Eltern abhängig und finanzielle Probleme seien allgegenwärtig, so MK Biran. Ferner beschuldigte sie die Regierung, das Phänomen der arbeitenden Armen zu verstärken, da diese Arbeitgeber ermutige, Arbeitnehmer durch außenstehende Auftragnehmer, und nicht direkt, einzustellen. Sie sagte, dass auch Leute mit besserer Bildung, die heutzutage arbeiten, neben ihrem Gehalt Unterstützung von der Regierung benötigen. MK Brian rief die Regierung dazu auf, etwas gegen die Probleme der arbeitenden Armen zu unternehmen und versprach, selbst dagegen zu kämpfen, beginnend mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Putzkräften in der Knesset.

In der Abschlussdiskussion des Symposiums konnten die Zuhörer Fragen stellen. Während es einige gegensätzliche Meinungen darüber gab, wie das Problem anzugehen sei, stimmten alle Teilnehmer in einigen Punkten überein. Erstens, dass ökonomisches Wachstum erreicht werden könne, indem man in die arabische Bevölkerung und in die Beschäftigung von Frauen investiere. Zweitens, dass Diskriminierung am Arbeitsmarkt enden muss, indem man mehr Möglichkeiten eröffnet und Quoten einführt. Die Frage nach der richtigen staatlichen Intervention in den Markt, um die arbeitenden Armen zu unterstützen, blieb offen. Es wird sich zeigen, ob das Phänomen nur ein Nebenprodukt des modernen Arbeitsmarktes ist oder eher ein Symptom für ein eine wachsende, soziale Kluft.

•Dieses Programm ist auch bekannt als Arbeits-Garantie-Programm (vorher „regressiver Einkommensteuertarif“) und soll als Anreiz dienen, dem Arbeitsmarkt beizutreten, das Einkommen derjenigen mit niedrigerem Einkommen zu erhöhen und Einkommensungleichheit reduzieren.

Translated by Teresita von Boch

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Fachkonferenz
24. Januar 2017
The Van Leer Jerusalem Institute
Jetzt lesen
The "Working Poor" Conference - Dr. Michael Borchard opening remarks
The "Working Poor" Conference - Participants during one of the sessions
The "Working Poor" Conference - Paper Session, Prof. Michel Strawczynski
The "Working Poor" Conference - Symposium, Prof. Avia Spivak presenting the speakers:\r\nProf. Dr. Ronnie Schöb\r\nDr. Sami Miaari\r\nMr. Yoel Naveh\r\nMK Michal Biran

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