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Veranstaltungsberichte

Die Krise im Nahen Osten: Auswirkungen auf Demokratie, Entwicklung und Sicherheit

Regionale, transnationale und externe Akteure

Im Rahmen der Experten-Workshopreihe „Die Krise im Nahen Osten: Auswirkungen auf Demokratie, Entwicklung und Sicherheit“, die gemeinsam von der Konrad-Adenauer-Stiftung Israel und dem Insitute for Counterterrorism (ICT) am Interdisciplinary Center Herzlyia (IDC) veranstaltet wurde, fand am 18. Oktober 2012 der zweite Workshop zum Thema „Regionale, transnationale und externe Akteure“ statt.

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Nicht erst seit dem „arabischen Erwachen“ tauchen im Nahen Osten verstärkt neue Akteure, Netzwerke und Gruppierungen auf, die das Machtgefüge und die Stabilität der Region massiv beeinflussen. Ihr Wirken in den Umbruchbewegungen, aber auch der Nutzen, den diese Akteure aus den Entwicklungen ziehen, waren Thema der Expertenrunde am 18.10. in Herzliya. Ferner wurde die Frage nach der Durchsetzbarkeit des staatlichen Gewaltmonopols und der Gefahr des Staatenzerfalls in verschiedenen Ländern der Region diskutiert.

Einführend ging Dr. Boaz Ganor, Gründer des Institute for Counterterrorism (ICT), in seinem Vortrag auf das Phänomen so genannter hybrider Organisationen und des modernen Terrorismus ein. Hybride Organisationen zeichne aus, dass sie neben dem militärischen Arm, der für Terroranschläge verantwortlich sei, auch mit einem politischen Arm arbeiteten. Dieser politische Bereich solle der Organisation Legitimation verleihen und es ihr ermöglichen, mit internationalen Akteuren zu kommunizieren und zu verhandeln. Zudem seien diese Organisationen durch eine soziale Komponente charakterisiert. Besonders in abgelegenen Gebieten, in denen der Staat weitgehend untätig sei, sorgten hybride Organisationen für Grundnahrungsmittel, Kindergärten, Schulen und Wohnungen - nähmen demnach Aufgaben wahr, die eigentlich der Staat erfüllen sollte. Nicht zuletzt dank dieser Arbeit verfügten hybride Organisationen über eine starke Anhängerschaft, auf deren Stimmen sie im Falle demokratischer Wahlen zählen könnten.

Das größte Gefahrenpotential hybrider Organisationen sah Dr. Ganor in kleineren Gruppierungen, die weniger pragmatisch agierten und mit einem gewaltsamen Konflikt wenig riskierten. Im Konfliktfall mache die Bevölkerung die amtierende Regierung (z.B. die Hamas im Gazastreifen) verantwortlich für Verluste. Die Hauptakteure unter den hybriden Organisationen hätten in den letzten Monaten kein Interesse an einer Eskalation des Konflikts demonstriert, stattdessen sei Zurückhaltung zu beobachten gewesen. Allerdings habe die Hamas jüngst zum ersten Mal seit längerer Zeit selbst wieder Raketen auf Israel abgefeuert. Diesen Richtungswechsel erklärten israelische Experten mit der Ankündigung der salafistischen Bewegung im Gazastreifen, eine Partei zu gründen und an Wahlen teilnehmen zu wollen. Folglich sehe sich die Hamas herausgefordert, durch Handlungen gegen Israel Profil und Muskeln zu zeigen und dadurch ihrer Wählerschaft Stärke zu beweisen.

Abschließend wies Dr. Ganor auf die großen Anstrengungen der israelischen Verteidigungsstreitkräfte zum Schutz der Zivilbevölkerung in gegnerischen Gebieten hin. Durch die Verwicklung Israels in asymmetrische Konfliktformen, in denen Zivilisten der Gegenseite immer wieder als Schutzschilder dienten, sei dies hochrelevant. Es werde von Fall zu Fall abgewogen, wie auf eine Bedrohung (Vorbereitung von Anschlägen/Raketenangriffen) reagiert werden solle.

Dr. Eitan Azani, einer der führenden Experten Israels für den Libanon, erläuterte im Anschluss daran die Struktur der Hisbollah, neben Hamas ein Paradebeispiel für eine hybride Organisation. Die Hisbollah, arabisch für die „Partei Gottes“, habe es vermocht im Libanon einen „Staat im Staat“ zu etablieren. Parallele Strukturen umfassten das Sozialwesen, den Sicherheitsapparat, das Bildungssystem und die Infrastruktur. Seit der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri und dem zweiten Libanon-Krieg 2006 sei es der Hisbollah gelungen, zur stärksten militärischen und politischen Macht im Libanon aufzusteigen. Militärisch sei die schiitische Miliz neben Iran die größte Bedrohung Israels, so Dr. Azani.

Im Anschluss analysierte Dr. Assaf Moghadam die Stellung Al Quaidas nach dem „Arabischen Frühling“. Die Organisation habe lange Zeit als Verlierer der Umbruchbewegungen gegolten. Sie sei von den Entwicklungen, die nicht aus islamistischen Antrieben hervorgegangen seien, überrascht worden. Zudem sei Al Qaida seit Jahren nicht mehr in der Lage gewesen, größere Anschläge in der westlichen Welt durchzuführen. Im Machtkampf der islamistischen Gruppierungen habe Al Qaida an Einfluss an die Muslimbrüder verloren, die durch ihr soziales Engagement viele Anhänger fänden. Die Gründe für diesen Verlust sah Dr. Moghadam in dem sehr rigorosen islamistischen System, welches Al Qaida in ihren Herrschaftszonen etabliere, und in den blutigen Attentaten, die hauptsächlich die muslimische Bevölkerung träfen. Allerdings bestehe auch die Möglichkeit, dass Al Quaida langfristig von den Umbruchbewegungen profitiere. So könne die Organisation in das Machtvakuum, das die Aufstände beispielsweise in Libyen oder Syrien hinterlassen hätten, vordringen. Ferner drohten die Erwartungen, die die junge arabische Bevölkerung in die Umbruchbewegungen gesetzt habe, enttäuscht zu werden. Aus dieser Frustration könnte die Al Quaida Nutzen ziehen. Insgesamt konstatierte Dr. Moghadam, dass sich der Charakter der Terrororganisation grundlegend verändert habe. Die Organisation sei spätestens seit dem Tod Osama Bin Ladens nicht mehr streng hierarchisch organisiert, sondern zunehmend als rein ideologischer Überbau kleinerer eigenständig operierender Zellen zu verstehen.

Die Muslimbrüder hingegen hätten im Zuge des „Arabischen Frühlings“ grundlegend an Bedeutung gewonnen. Zwar sei die Initiative der Unruhen nicht von der Bruderschaft ausgegangen, doch habe sie es vermocht, sich schnell einzuschalten und vor allem im Nachgang in Stellung zu bringen. Insbesondere in Ägypten seien die Muslimbrüder die am besten organisierte Oppositionsbewegung gewesen, was sich schließlich auch in ihrem Wahlerfolg widerspiegelte, so Dr. Reuven Paz, einer der führenden Islamwissenschaftler Israels.

Im dritten Panel befassten sich Prof. Hüseyin Bagci und Prof. Henner Fürtig mit den Rollen von Türkei und Iran.

Prof. Fürtig begann seinen Vortrag mit der These, dass Iran sich angesichts seiner natürlichen Ressourcen, geographischer Größe und militärischer Stärke nicht hinreichend im Machtgefüge des Orients repräsentiert sehe. Das Streben nach nuklearen Kapazitäten sei in diesem Kontext zu verstehen. Trotz martialischer Rhetorik sei Iran ein rationaler Akteur und ein nuklearer Angriff mithin höchst unwahrscheinlich. Die islamische Republik nutze den israelisch-palästinensischen Konflikt, um ihren Einfluss in der Region zu stärken und die islamische Welt für sich zu gewinnen. Ein möglicher Fall des Assad-Regimes sei allerdings ein großer strategischer Verlust für den Iran. Damit würde sich auch der iranische Einfluss auf den Nahost-Konflikt verringern. Die Frage, ob die „grüne“ iranische Revolution 2009 Auswirkungen auf den „Arabischen Frühling“ gehabt habe, verneinte er und betonte die oft formulierte Abgrenzung zwischen arabischen Staaten und Iran.

Prof. Bagci betonte die strategische Bedeutung der israelisch-türkischen Partnerschaft, äußerte sich jedoch eher pessimistisch hinsichtlich einer Verbesserung der Beziehungen unter den aktuellen politischen Verhältnissen. Die Wählerschaft des türkischen Ministerpräsidenten Erdogans habe daran kein Interesse. Zudem sei das Verhältnis zwischen beiden Außenministerien nicht sehr herzlich, was eine Annäherung nicht begünstige. Die Wichtigkeit der strategischen Zusammenarbeit wurde auch von den israelischen Teilnehmern des Workshops mehrfach hervorgehoben. Regional gesehen, so Prof. Bagci, habe Erdogan nach dem „Arabischen Frühling“ Einfluss in der Region verloren. Es gebe in der islamischen Welt jetzt auch andere Helden. Innenpolitisch stehe der Ministerpräsident aber konkurrenzlos da. Bezüglich der türkischen Beziehungen zum Westen betonte Prof. Bagci das enge Verhältnis zwischen den USA und der Türkei unter Erdogan. Dieser sei sehr pragmatisch und würde den Westen „nicht verlassen“.

Dr. Amichai Magen ging der Frage nach, welchen Einfluss internationale Akteure auf die aktuellen Entwicklungen in der arabischen Welt ausüben können. Die Zeit des amerikanisch-europäischen „nation building“ sei vorüber. Nach militärischen Misserfolgen und hohen Verlusten in Irak und Afghanistan sei dies wirtschaftlich nicht tragbar und der eigenen Wählerschaft nur schwer zu vermitteln. Im Gegensatz zum klassischen Realismus, welcher die Dimension der Macht in den Mittelpunkt stellt, sei nun der Regimetyp von größerer Wichtigkeit. „Demokratien führen keine Kriege gegeneinander.“ So sei es das dringendste Anliegen internationaler Akteure, voran die Vereinigten Staaten und die EU, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fördern.

In Form einer Fallstudie betrachtete Dr. Magen das Anreizsystem der Europäischen Union für potentielle Kandidaten im Rahmen der EU-Erweiterung und arbeitete Parallelen zum „Arabischen Frühling“ heraus. Durch positive und negative Anreize werde versucht, Einfluss auf Entscheidungen anderer Staaten zu nehmen. Dr. Magen warnte aber, dass die Zuweisung finanzieller Mittel oft nicht im Verhältnis mit der tatsächlichen Regelbefolgung (compliance) der Empfängerstaaten stehe. Es müsse in solchen Anreizsystemen eine stärkere Überwachung der Einhaltung von Bedingungen, an die finanzielle Hilfen geknüpft sind, geben. Zudem müsse beachtet werden, dass in den verschiedenen Kultursystemen oft sehr verschiedene Ideale herrschten. Was in westlichen Staaten als erstrebenswert gelte, könne in einer muslimischen Gesellschaft anders gewertet werden. In diesem Fall sind die Kosten für die Umsetzung der Maßnahmen für das Zielland unverhältnismäßig hoch.

Im Anschluss an den Experten-Workshop folgten Vorträge von Smadar Perry, stellvertretende Chefredakteurin für Nahost-Angelegenheiten der Zeitung Yediot Ahronot, und dem Deutschen Botschafter Andreas Michaelis.

Botschafter Michaelis wandte sich in seinem Vortrag folgenden Leitfragen zu: Zum einen der Krise der Regierungsfähigkeit und der zunehmenden Fragmentierung in der Region sowie dem Erstarken nichtstaatlicher Akteure. Zum anderen arbeitete er die Risiken und Herausforderungen dieser Entwicklungen aus deutscher bzw. europäischer Perspektive heraus.

Schon in den Jahren vor den Umbrüchen sei ein Bewusstsein für die zunehmende Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure und durch Fragmentierung des Nahen Ostens vorhanden gewesen. Man habe die Gefahr jedoch in der Annahme, autokratische Regimes würden weiterhin für Stabilität sorgen können, unterschätzt. Dem geringen Risiko traditioneller zwischenstaatlicher militärischer Konflikte, der konstanten Bedrohung durch Terrorismus und der variierenden Bedrohung durch staatlich subventionierte Konflikte nichtstaatlicher Akteure sei damals höhere Priorität eingeräumt worden als der Desintegration staatlicher Strukturen.

Botschafter Michaelis betonte, dass der Zerfall staatlicher Strukturen im Nahen Osten kein neues Phänomen sei und nicht zwingend im Zusammenhang mit den Umbrüchen in der arabischen Welt stehe. Die Transformationen, die jedoch durch die „arabische Revolution“ hervorgerufen würden, eröffneten in unterschiedlichem Ausmaß Raum für Desintegration.

Eine besondere Herausforderung bringe die Schwierigkeit der militärischen Abschreckung nichtstaatlicher Akteure mit sich. Insofern gehe eine zunehmende Schwächung staatlicher Akteure einher mit einer weniger effektiven Abschreckung. Auf kurze Sicht bärgen die Umbruchbewegungen in der arabischen Welt verschiedene sicherheitspolitische Risiken, langfristig bestehe jedoch die Möglichkeit einer nachhaltigen Transformation zu größerer Sicherheit. Ferner legte Botschafter Michaelis strategische Handlungsempfehlungen zur Begleitung des Transformationsprozesses dar. Sie umfassten das Konzept der legitimen Stabilität auf Basis einer relativen Mehrheit als beste Versicherung gegen Desintegration, die Erarbeitung eines umfassenden regionalen Ansatzes für den Nahen Osten, das Angebot politischer und wirtschaftlicher Unterstützung, die Berücksichtigung sogenannter „weicher Faktoren“ wie Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit und das sorgfältige Abwägen des Einsatzes militärischer Gewalt. Bei alledem müsse der Westen immer selbstkritisch im Blick haben, dass sein Verhalten den eigenen Werten entspreche.

Smadar Perry beschrieb, wie sich die Beziehungen zu Ägypten trotz des Friedensvertrags über die letzten Jahre weiter erschwert hätten. Anhand ihrer Erfahrungen als Nahost-Korrespondentin legte Frau Perry dar, wie karg sich die Beziehungen heute beispielsweise zwischen Ägypten und Israel darstellten. Es herrsche ein Zustand ohne Zusammenarbeit, ohne Kontakte vor. Auf arabischer Seite drohe bei Kontakten mit israelischen Staatsbürgern gesellschaftliche Stigmatisierung und Boykott. Sie berichtete auch von massivem Druck auf den neuen jordanischen Botschafter in Israel, der durch Drohungen und Bestechungsversuche davon abgehalten werden sollte, seinen Posten anzutreten.

Die Hauptrede der Veranstaltung hielt Moshe „Bogie“ Ya’alon, stellvertretender Ministerpräsident Israels und Minister für strategische Angelegenheiten. Minister Ya’alon betonte die Bedeutung der Komplexität der verschiedenen Identitäten innerhalb der arabischen Gesellschaften. Die Menschen eines Landes charakterisierten sich durch verschiedene, teilweise widersprüchliche, Identitätsschichten wie z.B. die des Stammes, der Religion, der Region und der Ideologie. Bislang sei es den diktatorischen Regimes gelungen, diese vielschichtigen Identitäten unter dem zentralen Herrschaftssystem zusammenzuhalten. Allerdings hätten lokale Gruppen es geschafft, die Abhängigkeit von der Zentralregierung, auch dank der Unterstützung von radikal-islamischen Organisationen, stark zu verringern. Es sei nunmehr von zentraler Bedeutung, radikale Elemente in der Region zu schwächen. Dafür bedürfe es mehr nachrichtendienstlicher Kapazitäten und der Demonstration von Entschlossenheit. Wo möglich, sollten Regierungen ermutigt werden, in Gebieten, die außer Kontrolle geraten sind, wieder Souveränität auszuüben. Israel halte sich jedoch streng aus allen innenpolitischen Angelegenheiten der arabischen Welt heraus.

Die Idee einer Demokratisierung der Region nach westlichem Vorbild müsse sich erst noch als realisierbar erweisen. Minister Ya’alon betonte, dass ein langer Weg „ohne Abkürzungen“ gegangen werden müsse. In der Gegenwart habe sich das System der Abschreckung für Israel als erfolgreich erwiesen, auf lange Sicht könne in einem System der Anreize und Sanktionen („sticks and carrots“) das Anreizelement vielleicht immer größeres Gewicht erlangen.

Während der ganztägigen Veranstaltung überwog insgesamt eine eher pessimistische Wahrnehmung der Transformationsprozesse in der arabischen Welt, zumindest im Blick auf die nahe Z ukunft. Die Herausforderungen im Umgang mit neuen Akteuren scheinen immens. Im Blick auf längerfristige Entwicklungen präsentierten die Workshop-Teilnehmer jedoch vorsichtig ein optimistischeres Bild mit der Möglichkeit einer nachhaltigen Transformation der Region zu mehr Sicherheit, Stabilität und demokratischer Staatlichkeit. Der Gedankenaustausch und die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen von Wissenschaftlern, Politikern und Diplomaten erwies sich als sehr sinnvoller Beitrag zur Unterstützung positiver Prozesse und damit als zukunftsweisend.

Simon Perger, Evelyn Gaiser

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