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Länderberichte

Vor der Wahl im Irak

von PD Dr. Martin Beck, Luciane Fangalua

Zum schiitisch-sunnitischen Faktor

Zum dritten Mal seit dem Sturz des repressiven Regimes Saddam Husseins werden am 7. März 2010 nationale Parlamentswahlen im Irak abgehalten. Dieser generell positive Befund sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im irakischen System viele problematische Entwicklungen zu verzeichnen sind, und dies nicht nur bei Sicherheitsfragen, sondern auch im politischen Bereich. Während des Wahlkampfes wurde erneut deutlich, dass die tiefe Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten immer noch ungelöst ist.

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Der Tod des im August 2009 an Lungenkrebs verstorbenen Abdul Aziz al-Hakim hat ein Vakuum in der politischen Szene des Irak hinterlassen. Er war Vorsitzender der von den USA unterstützten schiitischen Partei Islamischer Hoher Rat des Irak (ISCI), die der schiitischen Irakischen Nationalen Allianz (INA) angehört. Abdul Aziz al-Hakim war für die neue politische Rolle der Schiiten und die Etablierung der Regierung unter schiitischer Führung zentral, genoss die Unterstützung sowohl der USA als auch Irans, und unter seiner Führung bestand Hoffnung darauf, dass neue Standards für die interethnische und interreligiöse Zusammenarbeit gesetzt würden. Obwohl er für seine Zusammenarbeit mit den USA und Iran innenpolitisch kritisiert wurde, war er maßgeblich am Wahlsieg der schiitisch geführten Vereinigten Irakischen Allianz, der Vorgängerorganisation der INA, bei den Parlamentswahlen im Januar und Dezember 2005 beteiligt.

Mit dem Tod von Abdul Aziz verbunden ist das Problem, anti-amerikanische Tendenzen einzudämmen, insbesondere in der Partei von Muqtada al-Sadr. Die Schwächung des ISCI könnte zu einer Stärkung radikaler schiitischer Kräfte führen, während moderate politische Vorstellungen ins Hintertreffen geraten könnten. Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, ob der nominelle Nachfolger des ISCI, Amma al-Hakim, der Sohn von Abdul Aziz, wirklich die Kontrolle über seine Organisation besitzt oder ob er Gefahr läuft, von Radikalen im ISCI dominiert zu werden. Sollte letztere Entwicklung eintreten, könnte dies auch die traditionelle Allianz zwischen den sunnitischen Kurden und den Schiiten schwächen. Diese ist auf die historische Entscheidung Ayatollah Muhsin al-Hakims, des Vaters von Abdul Aziz, zurückzuführen, der den Schiiten per religiösem Dekret die Teilnahme am Krieg gegen die Kurden im Jahr 1965 verbot. Allerdings deuten Gespräche Ammar al-Hakims vom Januar darauf hin, dass er auch weiterhin auf die Unterstützung des kurdischen Präsidenten Masud Barzani hoffen kann.

Die schiitischen muslimischen Parteien des Irak haben sich in Form der INA zu einer Allianz vereinigt, der u.a. die zersplitterte ISCI, Anhänger des anti-amerikanischen Politikers Muqtada al-Sadr, Führer der Mahdi-Miliz, sowie der Irakische Nationalkongress von Ahmad Chalabi angehören. Allerdings hat sich die Dawa-Partei von Ministerpräsident Nouri al-Maliki vom Bündnis distanziert. Freilich ist die Koalition nicht auf schiitische Parteien beschränkt: Dem Block gehören auch eine kleine Zahl sunnitischer Gruppierungen aus der westlichen Provinz Anbar an (die während der US-Invasion eine zentrale Rolle spielten).

Als Hauptstreitpunkt, der zur Verzögerung des Wahltermins führte, stellte sich das Wahlgesetz heraus, welches zum Vehikel religiöser und ethnischer Kämpfe innerhalb des irakischen Parlaments werden sollte. Während schiitische und kurdische Parteien die Anzahl sunnitischer Parlamentssitze zu verringern suchten, strebten die Sunniten eine stärkere Repräsentanz von (vorwiegend sunnitischen) Irakern an, die aufgrund des Krieges und seiner Folgen aus dem Irak geflohen waren. Das viel diskutierte Wahlgesetz wurde im November 2009 vom Parlament verabschiedet. Allerdings erhob der sunnitische Vizepräsident Tariq al-Hashemi am 18. November Einspruch gegen das Gesetz, wodurch das Parlament unter Druck geriet, rasch zu einer Einigung zu gelangen, um die verfassungsgemäße Frist für die Wahlen einzuhalten. Al-Hashemi, der die Sitze für Minderheiten wie zum Beispiel Christen und Iraker in der Diaspora im Parlament von fünf auf fünfzehn Prozent erhöhen wollte, begründete sein Veto mit der Besorgnis, dass Iraker in der Diaspora im politischen System des Irak unterrepräsentiert seien. Schiiten und Kurden nahmen diese Position angesichts der Privilegierung der sunnitischen Minderheit während der autoritären Herrschaft Saddam Husseins indes mit Besorgnis wahr.

Im Mai 2008 hatte die irakische Regierung einen Zensus vorgeschlagen, der Ende 2009 – und damit rechzeitig vor der Wahl 2010 – abgehalten werden sollte. Diese Volkszählung sollte laut Planungsminister Ali Baban alle notwendigen Informationen zur Feststellung der Wahlberechtigung beschaffen. Die Volkszählung hätte es zudem ermöglicht, die pro Provinz zu vergebenden Parlamentssitze in Abhängigkeit von ihrer Bevölkerungsanzahl zu ermitteln. Allerdings wurden die Pläne für eine Volkszählung im August 2009 auf unbestimmte Zeit verschoben, da befürchtet wurde, dass es als deren Ergebnis zwischen Arabern und Kurden zu Unruhen kommen könnte, insbesondere in den umstrittenen Gebieten im Norden und hier insbesondere in der erdölreichen Region Kirkuk. Gleichwohl fand ersatzweise eine Zählung statt, die auf früheren Befragungen – der letzte Zensus war 1997 durchgeführt worden – und Schätzungen des Bevölkerungswachstums in den jeweiligen Gebieten beruhte. Die kurdischen Provinzen monierten daraufhin, eine zu geringe Anzahl von Sitzen zugewiesen bekommen zu haben, während ihre sunnitischen Kontrahenten eine erhebliche Sitzerhöhung für die Wahl 2010 erhielten. Beispielsweise bekam die kurdische Provinz Sulaymaniya keinen neuen Sitz, wohingegen die sunnitische Provinz Nineveh ihren Anteil von 19 Sitzen im Jahre 2005 auf 31 für die Wahlen im Jahre 2010 fast verdoppelte.

Die interethnischen Auseinandersetzungen und konfessionellen Machtkämpfe um das Wahlgesetz konnten dank Zugeständnissen von kurdischer Seite, die auf Intervention der USA zustande kamen, schließlich kurz vor Ablauf der Frist am 6. Dezember 2009 beigelegt werden. Die Kurden, die von den USA unmittelbar nach dem Sturz Saddam Husseins gegenüber den Schiiten tendenziell vernachlässigt wurden, spielten eine Schlüsselrolle bei der Verabschiedung des Wahlgesetzes und konnten von US-Präsident Barack Obama zum Einlenken gebracht werden. Gleichsam in letzter Minute rief Obama am Vorabend der Frist zur Verabschiedung des Wahlgesetzes den kurdischen Präsidenten Masud Barzani an und versprach ihm Unterstützung bei der Lösung zentraler Zukunftsprobleme, insbesondere bei der Durchführung einer Volkszählung in den kurdischen Provinzen und der Klärung des Status der umkämpften Stadt Kirkuk, die die Blockade ausgelöst hatte. Daraufhin konnte das Wahlgesetz verabschiedet werden, wobei die Sitze im Parlament von 275 auf 325 erhöht wurden, um den Ansprüchen der Sunniten und Kurden entgegenzukommen.

Ein weiterer Faktor, der die Phase des Wahlkampfes beeinträchtigte, war die Kontroverse über die „De-Baathifzierung“ des Irak. Nach dem Einmarsch der USA und dem Sturz Saddam Husseins im Mai 2003 bestand die erste Verordnung des von den USA eingesetzten Verwalters L. Paul Bremer im Verbot der Baath-Partei. Stoßrichtung des Konzepts der De-Baathifizierung war das Bestreben, Parteimitglieder der vier höchsten (von insgesamt sechs) Ebenen von Posten in der irakischen Verwaltung auszuschließen. Sieben Jahre sind seit Bremers berühmter „Order No. 1“ vergangen, und noch immer sorgen die Auswirkungen für Spannungen und Auseinandersetzungen. Im Januar 2008 wurde das „Justice and Accountability“-Gesetz, das den Zugang ehemaliger Mitglieder der Baath-Partei zu Verwaltungspositionen regelt, verabschiedet, um das striktere Vorgängergesetz, das Gesetz zur De-Baathifizierung, zu modifizieren. Das neue Gesetz verschloss nur den ersten drei Führungsriegen der Partei die Positionen in der irakischen Verwaltung. Somit waren ca. 30.000 ehemalige Mitglieder der Partei berechtigt, in den Staatsdienst eintreten. Gleichwohl sorgte die von Schiiten geleitete „Justice und Accountability“-Kommission (JAC), die mit der Umsetzung des „Justice and Accountability“-Gesetzes betraut wurde, vor den Wahlen am 7. März 2010 für eine politische Krise, indem sie fünfhundert Kandidaten von der Teilnahme an den Wahlen ausschloss, da diese Saddam Husseins Baath-Partei angehört hatten. Auch im Zentrum der Öffentlichkeit stehende Politiker, so der gegenwärtige Regierungssprecher Ali al-Dabbagh und Verteidigungsminister Abdul Kader Jassem al-Obaidi, wurden vom Verbot der JAC nicht verschont. Ebenso wurde der Abgeordnete Dhafer al-Ani – ein starker Kritiker des iranischen Einflusses auf den Irak – von der Teilnahme an den Wahlen 2010 ausgeschlossen. Zusätzlich befanden sich der sunnitische Parlamentarier Saleh al-Mutlaq und seine Partei, die Front für Nationalen Dialog, auf der Liste, die eine Teilnahme an den Wahlen 2010 ausschloss. Begründet wurde dies mit dessen Zugehörigkeit zur Baath-Partei – al-Mutaq beteuerte freilich, diese bereits in den 1970er Jahren verlassen zu haben. Bemerkenswert erscheint hierbei, dass Saleh al-Mutlaq zusammen mit seinem schiitischen Partner, dem ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Ayad Allawi, einer der prominentesten sunnitischen Mitglieder der Irakischen Nationalbewegung (INM) ist. Diese stellt eine durchaus ernstzunehmende Herausforderung für Ministerpräsident al-Malikis Bündnis – der Allianz für den Rechtsstaat – bei den bevorstehenden Wahlen dar. Mit der Disqualifizierung al-Mutlaqs muss Allawi die Herausforderung nun alleine schultern.

Aufgrund der Auseinandersetzungen um die Entscheidung der JAC, Kandidaten von den anstehenden Parlamentswahlen auszuschließen, sah sich die sunnitische Seite veranlasst, die USA einzuschalten. Der Vorsitzende der JAC, der Schiit Ali Al-Lami, und der schiitische Ministerpräsident al-Maliki warnten die USA vor zu großer Einmischung, wohingegen die Sunniten – insbesondere solche, die von der Wahl ausgeschlossen wurden – darauf insistierten, dass die USA vermittelten. Die Glaubwürdigkeit der JAC wurde von Kritikern wegen parteilicher, massiver Verbannung von Baath-Mitgliedern heftig in Frage gestellt. Al-Lami’s politische Gegner haben die Entscheidung der Kommission als eine Hexenjagd bezeichnet, initiiert von Mitgliedern der schiitisch geführten JAC, die gleichzeitig als Kandidaten der INA zu den Wahlen antreten.

Als die zwei prominenten sunnitischen Kandidaten al-Mutlaq und Dhafer al-Ani von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen wurden, kontaktierte US-Vizepräsident Joseph Biden Premierminister al-Maliki und Präsident Jalal Talabani sowie den irakischen Parlamentssprecher Ayad al-Samarai, um seiner Besorgnis über den Ausschluss der bekannten Politiker von den irakischen Wahlen Ausdruck zu verleihen und deutlich zu machen, dass die USA eine Korrektur der irakischen Regierungspolitik erwarteten. Indirekt gaben die USA zu verstehen, dass sich der Zeitpunkt des militärischen Abzuges über den anvisierten Termin im August 2011 hinaus verzögern könnte, wenn der Irak durch die Entscheidung der JAC nach den Wahlen in ein politisches Chaos stürzen sollte.

Die heftigen Auseinandersetzungen um die Entscheidung der JAC, fehlende klare Nachweise für Baath-Mitgliedschaften ausgeschlossener Kandidaten, internationaler Druck und die Befürchtung um negative Auswirkungen auf die Legitimität der Wahlen im März 2010 führten zu einer Korrektur der Entscheidung der JAC: Am 3. Februar hob ein Berufungsgericht deren Entscheidung auf und erlaubte 511 disqualifizierten Kandidaten, nun doch an den Wahlen im März 2010 teilzunehmen. Allerdings hat Premierminister al-Maliki seine Unzufriedenheit mit der Entscheidung des Berufungsgerichtes ausgedrückt und diese als verfassungswidrig und illegal bezeichnet. Ammar al-Hakims ISCI schloss sich al-Maliki an und sprach sich für eine Wiedereinsetzung des Verbots aus. Dies erklärt sich damit, dass sowohl die Parteien al-Malikis als auch al-Hakims von der Umsetzung der Entscheidung der JAC profitiert hätten. Freilich bedeutet die Aufhebung der Entscheidung der JAC nicht für alle Kandidaten Entwarnung, da nicht alle Fragen endgültig gelöst werden konnten und eine endgültige Klärung teilweise auf die Zeit nach den Wahlen verschoben wurde. Nach der Aufhebung des Verbots revidierte al-Mutlaq seine Entscheidung, seine gesamte Liste von der Wahl abzuziehen: Am 25. Februar erklärte er, dass seine Partei trotz seines persönlichen Ausschlusses zu den Wahlen antreten werde.

Die Periode vor den Wahlen im März 2010 war durch Spannungen entlang religiös aufgeladener Konflikte gekennzeichnet, die im Irak abermals an Bedeutung gewonnen haben. Die jüngsten Entwicklungen zwischen Sunniten und Schiiten, aber auch innerhalb schiitischer Gruppen sind kaum dazu geeignet, zu Fortschritten beim nation building und einem konstruktiven Staatsaufbau beizutragen. Die Politisierung der De-Baathifizierung während des Wahlkampfes könnte sich sehr wohl als langfristig kostspielig erweisen, da sie die Zersplitterung zwischen den politischen Lagern vertieft hat. Außerdem könnten einige sunnitische Führer die Legitimität der Wahlen in Frage stellen. In ihrem aktuellen Bericht fasst die International Crisis Group treffend zusammen: "The focus on electoral politics is good, no doubt, but the run-up has highlighted deep-seated problems that threaten the fragile recovery."

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