Die richterliche Unabhängigkeit befindet sich in Lateinamerika in einer kritischen Phase – und Mexiko bildet dabei keine Ausnahme. Darauf wiesen Fachleute und ehemalige Mitglieder des Poder Judicial Federal beim Forum „El Futuro de la Justicia: independencia judicial en México y su entorno regional“ hin, das am 5. November im Instituto de Investigaciones Jurídicas der UNAM (IIJ-UNAM) stattfand.
Das Forum wurde vom genannten Institut, der Asociación Mexicana de Juzgadoras (AMJAC), der Fundación Konrad Adenauer (KAS), Documenta. Análisis y acción para la justicia social (Documenta), Juicio Justo, Justicia en Diálogo und Mujeres por la Justicia organisiert. Ziel war es, die aktuellen Herausforderungen der Justiz angesichts von Bedrohungen der Unabhängigkeit, politischer Einflussnahme und des Vertrauensverlustes zu analysieren sowie über Wege zur Wiederherstellung der richterlichen Unabhängigkeit und des öffentlichen Vertrauens zu reflektieren.
Zu Beginn der Veranstaltung erklärte Mónica González Contró, Direktorin des IIJ-UNAM, dass „laut der Organisation Amerikanischer Staaten Mexiko derzeit das einzige Land der Welt ist, in dem sämtliche Richterinnen und Richter durch Wahlverfahren bestimmt werden“. Sie erinnerte daran, dass „die Interamerikanische Menschenrechtskommission bereits im Bericht vom September 2024 – also vor der Verabschiedung der Reform – auf die möglichen Auswirkungen in drei zentralen Bereichen hingewiesen hatte: das Recht auf Zugang zur Justiz, die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit und die Geltung des Rechtsstaats“.
María Emilia Molina de la Puente, Präsidentin der AMJAC, betonte, dass die Verteidigung der Justiz nicht allein von den Richterinnen und Richtern ausgehen könne, sondern eine enge Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und auf internationaler Ebene erfordere.
Juan Pablo Campos González, Projektleiter der Fundación Konrad Adenauer, hob hervor, dass der demokratische Rückschritt, den Mexiko derzeit erlebt, nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern Teil eines regionalen Trends mit ähnlichen Tendenzen sei.
In diesem Zusammenhang wies Laurence Pantin, Direktorin von Juicio Justo, darauf hin, dass es in vielen Ländern des Kontinents so erscheine, als würden die Exekutivspitzen demselben „Handbuch“ folgen, um Kontrollmechanismen zu schwächen und ihre Macht zu festigen. Sie rief dazu auf, gemeinsam ein „Gegenhandbuch“ zu entwickeln, um diese Angriffe abzuwehren und die Demokratie wiederzuerlangen.
Zum Abschluss betonte Sofía González Talamantes, stellvertretende Direktorin von Documenta, die Bedeutung einer menschenzentrierten, nahbaren und mitfühlenden Justiz, die auf die Menschen hört und sie begleitet – insbesondere jene, die historisch ausgeschlossen wurden. „Richterliche Unabhängigkeit wird nicht verordnet, sie wird aufgebaut“, sagte sie. „Ihre Verteidigung bedeutet, das Recht aller Menschen auf Zugang zu einer gerechten Justiz zu schützen.“
Die Diskussion gliederte sich in zwei Gesprächsrunden, an denen nationale und internationale Fachleute, Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft sowie ehemalige Mitglieder der Justiz teilnahmen.
Die erste Runde, „El panorama de la independencia judicial en América Latina“, wurde von Francisca Pou (IIJ-UNAM) moderiert und vereinte Liliam Arrieta (El Salvador), Expertin für Rechtsstaatlichkeit und Frauenrechte; Úrsula Indacochea, Direktorin des Programms für richterliche Unabhängigkeit der Due Process of Law Foundation (Perú); sowie Sonia Rubio, Beraterin für internationales Menschenrecht (El Salvador).
Die Expertinnen warnten vor der wachsenden Gefahr durch politische Narrative, die den Justizapparat für Unsicherheit und gesellschaftliche Probleme verantwortlich machen – eine Strategie, um von den eigenen Regierungsfehlern abzulenken. Sie waren sich einig, dass der Abbau der richterlichen Unabhängigkeit Teil eines schleichenden Prozesses verfassungsrechtlicher Erosion sei. Demokratie und richterliche Unabhängigkeit seien keine dauerhaften Zustände, betonten sie, und mit jeder Erosion schwinde die Gewaltenteilung.
Diese „legal wirkende“ Auflösung, so Sonia Rubio, basiere auf der institutionellen Demontage der Justiz – etwa durch Änderungen bei Auswahl- und Disziplinarmechanismen – sowie auf ihrer politischen Vereinnahmung und dem instrumentellen Einsatz des Rechts zur Verfolgung Andersdenkender.
Úrsula Indacochea ergänzte, dass eine Folge dieser Entwicklung eine selektive Justiz sei, in der sich ein „Markt“ für gerichtliche Entscheidungen bilde. Liliam Arrieta plädierte dafür, das Bewusstsein der Bevölkerung für die Bedeutung und die Vorteile des Lebens in einer Demokratie zu stärken.
Die zweite Runde, „Independencia judicial en México: diálogo entre personas juzgadoras salientes y la academia“, wurde von Campos González moderiert. Daran nahmen Norma Lucía Piña Hernández, ehemalige Präsidentin der Suprema Corte de Justicia de la Nación, Jorge Mario Pardo Rebolledo, ehemaliger Minister, sowie die IIJ-UNAM-Akademiker Hugo Concha Cantú und Israel Santos Flores teil.
Pardo Rebolledo räumte ein, dass es im Justizsystem Reformbedarf gebe, dieser aber mit Feingefühl und nicht mit „Baggern“ angegangen werden müsse. Er betonte, dass Richterinnen und Richter nicht dazu da seien, die Interessen des Volkes zu vertreten, sondern Konflikte objektiv und unparteiisch zu lösen. Auch wenn es noch zu früh sei, um über die Auswirkungen der Reform zu urteilen, müsse die neue Justiz den verfassungsmäßigen Maßstäben gerecht werden – eine Abkopplung der Realität vom Verfassungstext wäre fatal.
Piña Hernández bezeichnete die jüngsten Ereignisse als „perfekten Sturm“ und erinnerte daran, dass Richterinnen und Richter in ganz Iberoamerika vor ähnlichen Herausforderungen stünden. Lernprozesse seien teuer, sagte sie, „denn am Ende zahlen die Bürgerinnen und Bürger den Preis“.
Hugo Concha Cantú äußerte Zweifel, ob die Reform tatsächlich die strukturellen Probleme des Justizsystems lösen könne, da nie ein klarer Befund über deren Ursachen vorgelegen habe. Das eigentliche Ziel sei offenbar die Einführung von Richterwahlen gewesen. Er regte an, darüber nachzudenken, ob das bekannte Modell der konstitutionellen Demokratie erschöpft sei – und ob es an der Zeit sei, ein neues zu entwerfen.
Das Forum endete mit einem gemeinsamen Appell, die richterliche Unabhängigkeit als Grundpfeiler des Rechtsstaats und als zentrale Garantie der Menschenrechte zu verteidigen. Die in der Region beobachteten Rückschritte sollten Mexiko als Warnung und Lernprozess dienen – insbesondere im aktuellen Kontext der Justizreform.
Die vollständigen Beiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer können im Video des Events unter folgendem Link angesehen werden.