„Minilateralismus“ als Ausgangspunkt
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass minilaterale Formate das Potenzial haben, Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene zu erleichtern. Voraussetzung dafür ist, dass es nicht zu einer Blockbildung aus Mitgliedstaaten mit gleichen Interessen kommt. Für einen effektiven Minilateralismus müssen Staaten zusammenarbeiten, die einerseits ein gemeinsames Grundverständnis europäischer Politik haben und in manchen Politikbereichen ähnliche Interessen teilen, in anderen Politikfeldern jedoch zu europapolitischen Kompromissen gezwungen sind.
Auf Basis einer Analyse der Regierungsprogramme beider Bundesregierungen hat der erste Wiener Dialog 2020 gezeigt, dass genau diese Konstellation gemischter Interessenlagen im deutsch-österreichischen Verhältnis gegeben ist. Das damals durchgeführte Ranking europapolitischer Top-Prioritäten zeigte ein gemischtes Bild. Einerseits fanden sich bei den Teilnehmenden aus beiden Ländern unter den fünf obersten Prioritäten „Kurs auf Weltpolitikfähigkeit“, „Überwindung der Pandemie“ und die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik/Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“. Andererseits hatten die „Europäischen Gesundheitsunion“, Digitalisierung und der „European Green Deal“ für die österreichischen Teilnehmenden eine deutlich höhere Priorität, während die deutschen Teilnehmenden der Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips und der Zusammenarbeit mit der zukünftigen Biden-Administration in den USA eine höhere Bedeutung zumessen.
Auf Basis dieser Analysen hat das Organisationsteam der Konrad-Adenauer-Stiftung in Wien und der Universität Passau vier Politikbereiche identifiziert, 2 in denen es sich lohnt die Potenziale ein deutsch-österreichischen Kooperation genauer zu eruieren:
- In der Erweiterungspolitik zeigt sich sehr deutlich das gemeinsame Interesse an einer zügigen Annäherung der Staaten des Westbalkans an die EU.
- In der Außen- und Sicherheitspolitik haben beide Staaten ähnliche strategischen Kulturen und stehen vor derselben Herausforderung, sich an einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur zu beteiligen.
- In der Wirtschaftspolitik teilen beide Regierungen das Interesse, den EU-Haushalt und die europäischen Politiken zu modernisieren. Jedoch werden die Modernisierungsprioritäten im Detail anders gesetzt.
- In der Klima- und Umweltpolitik verfolgen beide Regierungen grundsätzlich ambitionierte Ziele. Jedoch werden auch hier die Prioritäten zum Teil verschieden gesetzt.
Ergebnisse der Arbeitsgruppen
In vier Arbeitsgruppen reflektierten die Teilnehmenden des Wiener Dialogs 2021 über die europapolitischen Prioritäten in den vier Politikfeldern „European Green deal“, „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“, „Wirtschafts- und Währungsunion“ sowie „Erweiterungspolitik“. Leitfrage dabei war: Welche Ansatzpunkte für deutsch-österreichische Initiativen bestehen?
Ein Europa, das an die Zukunft denkt: der European Green Deal
In der Arbeitsgruppe zum European Green Deal bestand Einigkeit, dass die zentrale Herausforderung bei der technologischen Modernisierung zur Erreichung klimapolitischer Ziele in der Überzeugung der Bürgerinnen und Bürger besteht. Dies ist für alle diskutierten Sektoren zu bedenken: Industrie, Energieerzeugung, Mobilität, Landwirtschaft, Tourismus und Raumplanung. Insbesondere die sozialen Folgen der Transformation müssten stets mitgedacht und offen kommuniziert werden. Dies gilt ebenso für die wirtschaftlichen Kosten von Maßnahmen und Nebenfolgen einzelner Technologien. Gerade mit Blick auf die beiden letzten Aspekte wurde deshalb für den Sektor Mobilität unterstrichen, dass auf vorzeitige Festlegungen auf einzelne Technologien verzichten werden sollte. Die Transformation für die Sektoren Industrie und Energieerzeugen sei immer zusammenzudenken. Dabei böten marktbasierte Ansätze, die die Kosten negativer Externalitäten in den Marktreis einbeziehen, die stärksten Transformationsanreize. Nicht nur, aber auch für den Agrarsektor sei die Resilienz der EU in Fragen der unabhängigen Versorgung mit Produkten bei den Transformationsbemühungen wieder stärker zu bedenken.
Ein Europa, das schützt: nächste Schritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
In der Arbeitsgruppe zur GASP wurden die grundlegend ähnlichen Positionen in Deutschland und Österreich zur Nutzung außenpolitischer Instrumente herausgearbeitet: Beide Länder pflegen eine Kultur der Nichtintervention, die einen Schwerpunkt auf humanitäre Einsätze legt. Hier stelle sich jedoch zunehmend die Frage: In welchen Bereichen und in welcher Form besteht Bereitschaft zur internationalen Kooperation? In beiden Ländern sei die Westbindung unstrittig. Deutschland habe jedoch einen starken Bias zur deutsch-französischen Kooperation und zur transatlantischen Gemeinschaft. Hier stellt sich die Frage, wie künftige eine europäische Sicherheitsarchitektur und das transatlantische Bündnis verzahnt werden können. Österreich betone dagegen seine Neutralität, sodass hier besonders die Fragen nach den Formen der Mitwirkung an einer europäischen und/oder transatlantischen Sicherheitsarchitektur drängend sind. Hinsichtlich des Trendbegriffs der „strategischen Autonomie“ wurde angemahnt, dass dieser inhaltlich erst gefüllt werden muss. Autonomie welcher Akteure gegenüber wem und in welchen Bereichen? Zudem bestünde die Gefahr einer starken Abhängigkeit der Ausdeutung von wechselnden innenpolitischen Konstellationen.
Zwischen Fiskal- und Stabilitätsunion: die Wirtschafts- und Währungsunion krisenfest machen
Im Zentrum der Diskussion in der Arbeitsgruppe zur WWU standen die Maßnahmen zur Überwindung der ökonomischen Folgen der Pandemie. Es herrschte Einigkeit, dass es sich bei der Pandemie um eine politische nicht verschuldete Sondersituation handelt. „Moral hazard“ stelle damit kein akutes Problem dar. Dennoch sei dieses grundlegend anzugehen: Wenn die EU den Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die weiteren Fiskalregeln nach der Pandemie nicht durchsetzt, drohe ein Glaubwürdigkeitsproblem. Problematisch sei, dass zur Überwindung der Pandemiefolgen erneut ein Umverteilungsinstrument und kein automatischer Stabilisator geschaffen worden sei. Solange die EU jedoch über keine automatischen Stabilisatoren verfüge, müsse die EZB einspringen. Dies mache einen Ausstieg aus der EZB-Politik auf absehbare Zeit unmöglich. Einigkeit herrschte, dass die Schuldenaufnahme durch die EU kein Präzedenzfall, sondern einmalig sei. Hier hätten Deutschland und Österreich langfristig gemeinsame Interessen. Problematisch sei, dass die Verausgabung der Gelder länderweise erfolge, statt der Investition in gesamteuropäische Projekte. Ein Fortschritt wäre, die Geber-Nehmer-Debatte zugunsten der Bereitstellung öffentlicher Güter auf EU-Ebene zu überwinden. Auch eine Steuerkompetenz der EU schaffe hier keine Lösung. Solange Mitgliedstaaten Rabatte bei der Besteuerung forderten, werde das alte System der BNE-Eigenmittel nur übertragen. Insgesamt entstehe zunehmend eine Expectation-Capability-Gap: Die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der EU nähmen zu, ohne dass Bereitschaft bestehe, diese auch zu finanzieren.
Ein Europa, das inklusiv ist: konkrete Perspektiven für den Westbalkan
In der Arbeitsgruppe zur Erweiterung der EU um die Staaten des Westbalkans lag einer der Diskussionsschwerpunkte auf der innereuropäischen Bereitschaft, Erweiterungen zuzustimmen. Einerseits seien institutionelle Reformen, besonders mit Blick auf die Europäische Kommission und das Europäische Parlament notwendig, andererseits müssten Deutschland und Österreich sich gemeinsam engagieren, um Skeptiker für eine Erweiterung zu gewinnen. Neben einigen Regierungen, die durch ein verändertes Beitrittsverfahren überzeugt werden könnten, seien auch die deutsche und österreichische Öffentlichkeit kritisch. Die Autokratisierungstendenzen sowie der Einfluss Russlands, Chinas und anderer externer Akteure seien hier Steine des Anstoßes. Um die notwendige Überzeugungsarbeit leisten zu können, müssten Deutschland und Österreich in ihrer Außenpolitik strategischer werden. Eine dabei zu klärende Abwägung sei das Spannungsfeld zwischen Rechtsstaatsreformen und Wirtschaftshilfe. Schwerpunkte für neue Initiativen auf dem Westbalkan könnten eine Entpolarisierung der Parteiensysteme sowie die Zusammenarbeit mit einem breiteren Spektrum zivilgesellschaftlicher Organisationen sein.