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Polen und Deutschland: Von einem fragilen bilateralen Verhältnis zur Freundschaft

Prof. Władysław Bartoszewski 2010 über Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl.

Weshalb spreche ich darüber jetzt und an dieser Stelle? Deshalb, weil Helmut Kohl in den Augen eines denkenden und den Deutschen wohl gesonnenen Polen all das verkörperte, was wir in der Politik am meisten benötigen, insbesondere in Zeiten großer Herausforderungen: Klarheit der Visionen, Konsequenz in den Taten, Glaubwürdigkeit, Eindeutigkeit der Werte.

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Lieber Helmut Kohl, liebe deutsche Freunde, meine Damen und Herren!

In seiner Erinnerung an das Treffen mit dem Papst Johannes Paul II.

im Jahre 1996 zitiert Helmut Kohl die Worte, die vom Heiligen Vater

während einer gemeinsamen Besichtigung des Brandenburger Tors

ausgesprochen wurden: „Herr Bundeskanzler, das ist ein großer Augen-

blick in meinem Leben. Ich stehe mit Ihnen, dem deutschen Bundes-

kanzler, am Brandenburger Tor, und das Tor ist offen. Die Mauer ist

gefallen, Berlin und Deutschland sind nicht mehr geteilt. Und Polen ist

frei.“

Diese Aussage gibt zutreffend die symbolische Bindung zwischen

„Freiheit“, „Deutschland“ und „Polen“ wieder. Und unabhängig davon,

ob jemand ihn mag oder nicht, bleibt gerade er, Helmut Kohl, für

Deutschland ein Inbegriff der Freiheit in der Einheit und für Polen ein

Symbol für das neue deutsch-polnische Verhältnis auf der Grundlage

von Versöhnung und Interessengemeinschaft.

Der gegenwärtige Stand der polnisch-deutschen und deutsch-pol-

nischen Beziehungen ist – laut gemeinsamer Meinung vieler Experten –

leider nicht so gut wie 1991, dem Jahr der Unterzeichnung des Vertrages

über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, oder

1994 während der Visite des Bundespräsidenten Roman Herzog und sei-

ner Rede anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes 1944.

Auch nicht so gut, wie ich ihn auf der feierlichen Sitzung des Bundesta-

ges in Bonn am 28. April 1995 persönlich erfahren konnte. Nicht so gut

wie beim Auftritt von Helmut Kohl im Parlament der Republik Polen im

Juli 1995. Beigetragen dazu haben gewiss manche deutsche Politiker – bis

vor kurzem aus der dritten Reihe – ohne historisches Wissen, Vorstel-

lungskraft und Gefühl, deren Handlungen zuerst Reaktionen mancher populistischer Medien in Polen hervorgerufen haben, um sich wiederum

dadurch bestätigt zu fühlen. Nach meiner Einschätzung wäre dies in

jener Zeit unmöglich gewesen, die in Polen als Kohl-Ära bezeichnet

wird. Auf der anderen Seite bemerken und schätzen wir in Polen die

Bestrebungen der beiden letzten Präsidenten der Bundesrepublik

Deutschland – Johannes Rau und Horst Köhler – wie auch eine Reihe

von Aussagen des gegenwärtigen Bundeskanzlers und des Außenminis-

ters, deren Ziel darin liegt, die Interessengemeinschaft unserer Länder

besser und deutlicher zu akzentuieren.

Es heißt nun, aus dem Schatten ins Licht der Wahrheit zu treten, einer

Wahrheit, die weder schwarz noch weiß ist. Die Beziehungen zwischen

Polen und Deutschland, zwischen den Polen und den Deutschen stehen

weiterhin auf solider Grundlage. Bei eindeutiger Unterstützung der

deutschen Bundesregierung, des Bundestages und der öffentlichen Mei-

nung in Deutschland in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts sind wir seit

1999 gemeinsam im Atlantischen Bündnis und seit nahezu einem Jahr

zusammen in der Europäischen Union. Unsere wirtschaftlichen Kon-

takte entwickeln sich ausgezeichnet, ebenso gut sehen die Beziehungen

zwischen Menschen, insbesondere der Jugend beider Länder aus. Vor

allem jedoch gelten in unseren Staaten und Gesellschaften die gleichen

Werte.

In dieser Lage, behaupten einige, gäbe es überhaupt keine größeren

Probleme. So ist es natürlich nicht. Wir stehen doch vor bedeutenden

Herausforderungen:

• Europa, die Europäische Union, braucht dringend Visionen, Kon-

sequenz und Mut;

• die Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von

Amerika verlangen ebenfalls nach Visionen und Vernunft;

• die Beziehungen zwischen Europa und dem Osten brauchen Soli-

darität und Konsequenz;

• schließlich brauchen auch die Beziehungen zwischen Polen und

Deutschland Konsequenz, Mut und Verständnis.

Der Verfassungsvertrag zeigt den Weg, diesen Herausforderungen

gerecht zu werden. Entweder wird er in Kraft treten – und die Reali-

sierung der vorgenommenen Ziele wird besonders nach Konsequenzen

verlangen. Oder er wird nicht ratifiziert. Im letztgenannten Fall sind un-

günstige Szenarios denkbar: Unterschiede im Integrationsprozess oder

zumindest Verlust des bisherigen Tempos. Beide Möglichkeiten wären

insbesondere für Polen und für das polnisch-deutsche Verhältnis un-

günstig.

Weshalb spreche ich darüber jetzt und an dieser Stelle? Deshalb, weil

Helmut Kohl in den Augen eines denkenden und den Deutschen wohl

gesonnenen Polen all das verkörperte, was wir in der Politik am meisten

benötigen, insbesondere in Zeiten großer Herausforderungen: Klarheit

der Visionen, Konsequenz in den Taten, Glaubwürdigkeit, Eindeutigkeit

der Werte.

Sehen wir uns genauer die Bedeutung an, die Polen für Helmut Kohl

immer hatte. Die Epoche der Teilung Europas, der Teilung Deutschlands,

der kommunistischen Diktatur im großen Teil unseres Kontinentes (dar-

unter Polen) war eine Zeit des Vegetierens, aber nicht der Vision. „Solidar-

nosc“ bahnte in Polen den Weg zu völlig neuen Möglichkeiten, nicht nur

für Polen. Sie öffnete die Tür zur Unabhängigkeit der Völker Mittel- und

Osteuropas und für Deutschland zur Wiedervereinigung in einem Staat.

Nicht für alle war diese Vision damals selbstverständlich. Es ist wohl bes-

ser, an manche Aussagen westeuropäischer – darunter auch deutscher –

Politiker zu Beginn der 80er Jahre nicht zu erinnern. Helmut Kohl war

jedoch ein Politiker, dem der „Wind der Geschichte“ Flügel verlieh; der es

verstanden hat, dass sich für Deutschland eine Möglichkeit der Wiederver-

einigung öffnete, und der einen Zusammenhang zwischen dieser Chance

und dem Entstehen eines demokratischen und freien Polens sah.

Während seines ersten Besuches in Polen im November 1989 – unter-

brochen durch den Fall der Berliner Mauer – und nach der erneuten

Rückkehr nach Polen betonte Helmut Kohl in seiner Rede an der Katho-

lischen Universität Lublin diese Bindung und verkündete eine klare

Vision: „Europa braucht Polen, und Polen braucht Europa! Deutschland

braucht Polen, und Polen braucht Deutschland!“

Es waren nicht bloß Worte. Diese Vision wurde zur konsequent

verfolgten Richtlinie der Politik von Helmut Kohl im Laufe der Wieder-

vereinigung Deutschlands und später in den Beziehungen zwischen

dem vereinigten Deutschland und dem demokratischen Polen.

Ich möchte keineswegs die Verdienste der deutschen Politiker ver-

schiedener Parteien schmälern, die zur Verständigung mit Polen beigetragen haben. Es gibt jedoch solche Momente in der Geschichte, die nach

Visionen verlangen und nach dem Mut, diese Visionen in der Realität

durchzusetzen. Helmut Kohl war ein solcher Politiker. Er war damals

ein richtiger Mensch an richtiger Stelle und zur richtigen Zeit.

Deutschland hatte viel Glück, Europa hatte viel Glück. Auch Polen

hatte, in der Zeit der Wende, viel Glück, denn es hat bei der Lösung

fundamentaler, existenzieller Fragen einen glaubwürdigen und konse-

quenten Partner in Deutschland gefunden.

Dies wird die Bedeutung von Helmut Kohl für Polen bleiben. Die

Lösung grundlegender Fragen für den polnischen Staat und die polnisch-

deutschen Beziehungen in den Traktaten der Jahre 1991 – 1992 sowie die

Unterstützung auf dem Weg in das Atlantische Bündnis und die

Europäische Union bleiben ebenfalls als wichtige Etappen in der

Geschichte Polens der Jahrhundertwende untrennbar mit dem Namen

Helmut Kohl verbunden – genauso wie mit den Namen von Lech Walesa

oder Tadeusz Mazowiecki, die im Geiste von Karol Wojtyla, dem ersten

polnischen Papst, gehandelt haben.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich einige Bemerkungen den aktuellen

Angelegenheiten widmen. Ich

muss zugeben, dass ich mit gewisser Enttäuschung – um nicht zu

sagen mit Verbitterung – das beobachte, was seit einiger Zeit in den

deutsch-polnischen Beziehungen geschieht (glücklicherweise nicht in

den menschlichen Beziehungen zwischen den Deutschen und den

Polen). Der Beitritt Polens zur Europäischen Union sollte zur Krönung

einer wichtigen Etappe in unseren Beziehungen werden. Polen und

Deutsche sollten zu dieser Union in vieler Hinsicht beitragen:

• durch ihre Kraft und Entschlossenheit zur Versöhnung;

• durch die Befreiung von bilateraler Klaustrophobie und den

„Export“ eigener Verständigungserfahrungen nach außen;

• durch eine solide regionale Zusammenarbeit in Mitteleuropa;

• durch gemeinsames Handeln in Bezug auf den Osten;

• durch berechenbare und stabile Beziehungen im Rahmen der Interessengemeinschaft.

Was ist dagegen mit uns geschehen? Viele meiner Freunde, seit Jah-

ren mit der deutsch-polnischen Versöhnung beschäftigt, teilen diese Be-

unruhigung. Dabei stirbt langsam jene Generation aus, deren politisches

Handeln von der tragischen Erfahrung der Geschichte belastet ist. Doch

zusammen mit ihr verschwindet die Sensibilität und das Verständnis für

fundamentale Fragen, das Bewusstsein der realen Gefahr in der mensch-

lichen Natur, die Notwendigkeit, sich in der „kleinen“ und „großen“

Politik nicht nur von augenblicklichen Interessen oder Wahlergebnissen

leiten zu lassen, sondern in erster Linie von starken Grundsätzen, von

gemeinsamen Werten. Vielleicht versteht die jüngere Nachkriegsgenera-

tion nicht ganz die Bedeutung solcher Begriffe wie Freiheit, Unabhän-

gigkeit, wie Demokratie, Versöhnung, wie Wahrheit.

Helmut Kohl und ich, wir beide gehören trotz des Altersunterschie-

des zu demselben Bereich der gemeinsamen, grundlegenden Werte,

bestimmt durch den christlichen Glauben. Für mich – in schwierigen

Zeiten, als es keine Möglichkeit realer politischer Vision gegeben hat –

stellten diese Werte eine führende Instanz dar. Vor rund zwanzig Jahren,

in meiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deut-

schen Buchhandels, griff ich – auf der Suche nach dem Schlüssel zum

Ausdruck der Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen – auf das

Gedankengut eines der größten deutschen Denker des 20. Jahrhunderts,

Karl Jaspers, zurück.

In Wahrheit und Freiheit sah ich, in Anlehnung an Jaspers, die

Hauptrichtlinie für mein Land. In Wahrheit und Freiheit sah ich auch

den Weg zur Lösung des Problems des geteilten Deutschlands.

In Wahrheit und Freiheit sah ich auch die Grundlage für die polnisch-

deutsche Versöhnung und Verständigung.

Deutschland ist nun ein vereintes und demokratisches Land. Polen ist

frei und demokratisch. Für anhaltende Versöhnung brauchen wir Wahr-

heit, jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr. Helmut Kohl ist derjenige

deutsche Politiker, der das völlig versteht.

So wie Helmut Kohl für die Deutschen ein Symbol der staatlichen

Einheit bleiben wird, so wird er für die Polen ein Inbegriff der neuen,

wirklichen Öffnung in den Beziehungen zwischen Polen und Deutschen

bleiben und, was wichtiger ist, ein Symbol für den Anfang eines Weges

des freien, demokratischen Polens zu den europäischen Strukturen.

Helmut Kohl überlässt nun uns die schwierige Herausforderung,

neue Zukunftsvisionen zu formulieren und bei diesen Visionen zu blei-

ben, ohne Rücksicht auf sich wandelnde politische Konjunkturen. Ohne

klare Vision des künftigen Europas und darin der starken Betonung der

deutsch-polnischen Beziehungen, eine mit Überzeugung durchgesetzte

Vision, werden die Beziehungen zwischen unseren Ländern unnötigen

Turbulenzen ausgesetzt.

Helmut Kohl überlässt uns nun auch die Herausforderung der Auf-

rechterhaltung der erreichten Versöhnung, die nicht ein für alle Mal

gegeben ist, sondern ständig und unaufhaltsam gepflegt werden muss.

Hier sehen wir eine bedeutende Aufgabe für die Politiker der Jungen

Union in Deutschland und für viele gleichgesinnte Deutsche guten Wil-

lens, wie auch für die jüngere Generation der polnischen christlich orien-

tierten Parteien und Gruppierungen der Mitte. Im Interesse der Deut-

schen, der Polen und aller Europäer im 21. Jahrhundert.

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Helmut Kohl - konferencja krakowska, prof. Bartoszewski

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