Veranstaltungsberichte
Anwerbung und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen für die Staatsicherheit
Mit Dr. Karsten Dümmel blickte in Saalfeld der Leiter der Außenstelle Dakar der Konrad-Adenauer-Stiftung tief in die Strukturen und Arbeitsweisen des MfS hinein und referierte im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung des Bildungswerks Erfurt der Konrad-Adenauer-Stiftung mit der BStU-Außenstelle Gera und Caritas Saalfeld über die Anwerbung und den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen für und durch die Staatssicherheit.
Vorauswahl durch Lehrer
Zu Beginn seines Vortrages schilderte Dümmel das Schicksal eines 13jährigen, der sich für eine Karriere als Berufsoffizier/Berufsunteroffizier des MfS bereit erklärte. In jeder 7. Klassen nahmen Lehrer eine Vorauswahl geeigneter Kandidaten vor; bis zur 9. Klasse musste diese abgeschlossen sein und die Bewerber einen Bereitschaftsbogen ausfüllen. Einzige Bedingung: Der Kandidat musste das 12. Lebensjahr vollendet haben!
All dies lief über Verbindungspersonen des MfS, die in allen Schulen der DDR saßen. Als inoffizielle oder gesellschaftliche Mitarbeiter tätige Lehrkräfte bewerteten alle in Frage kommenden Schüler an hand verschiedener Kriterien wie Leistung, Westverwandtschaft oder sportlichem Talent; auch der Klassenleiter musste Beurteilungen schreiben. Alle Lehrer waren verpflichtet, Schüler aus ihren Reihen für militärische Berufe zu gewinnen – bei „Misserfolg“ drohten disziplinarische Schritte jeglicher Art.
Beobachtung von jugendlichen Subkulturen durch Gleichaltrige
Bereits 1966 gab die Staatssicherheit eine interne Dienstanweisung heraus, nach der die MfS-Mitarbeiter verschiedene Gruppen und Subkulturen Jugendlicher zu beobachten hätten, vor allem mittels Einschleusung Gleichaltriger. Konkret betraf dies: Vorbestrafte, Haftentlassene, Jugendliche aus gestörten familiären Verhältnissen, Übersiedler aus der Bundesrepublik, Jugendliche aus Familien der bürgerlichen Intelligenz, Schüler der EOS, Aktivisten in kirchlichen Kreisen, Studierende der Theologie oder Geisteswissenschaften, „Arbeitsscheue“, vom sozialistischen Erziehungsprozess nicht Überzeugte, Vorbereiter „staatsfeindlicher Handlungen“, Lehrlinge im privaten Handwerk, Anhänger westlicher Kultur (Rockmusik, Langhaarige, Kuttenträger), Jugendliche mit ungenügenden schulischen Leistungen. Zynisch könnte man dem mit der Frage entgegnen, wer nicht in diese Gruppen fiel.
Behandelt wie einen Verbrecher
Am Beispiel schriftlicher Unterlagen zeigte Dümmel an weiteren Fällen, wie die Beobachtung und schließlich Zersetzung junger Menschen erfolgte: Das erste Beispiel war der Referent selbst, der während der Lehre bei der SDAG „Wismut“ ins Visier des Geheimdienstes geriet, als er eine Ausstellung mit „staatsfeindlicher“ Kunst durchführte und daraufhin in Untersuchungshaft kam. Wegen seines Engagements in kirchlichen Oppositionsgruppen sowie wegen des wiederholten Stellens von Ausreiseanträgen verweigerte man Dümmel das Studium, oktroyierte ihm später eine Ortsbindung in Gera sowie eine Arbeitsplatzbindung als Fensterputzer bzw. Zugreiniger. Zudem musste er seinen Personalausweis abgeben und erhielt dafür eine Identitätsbescheinigung, die sonst nur bei Gewaltverbrechern üblich war. 1988 verkaufte ihn die DDR an die Bundesrepublik.
Prostituierte für Spitzeldienste
Für ähnliches Entsetzen bei den Hörerinnen und Hörern sorgte ein weiteres Beispiel von MfS-Maßnahmen: Die Anwerbung von Prostituierten zu Spitzeldiensten. Die Akten im gezeigten Fall kündeten von einer jungen Frau, die in den sechziger Jahren von der Staatssicherheit zur Prostitution „überredet“ wurde und später sogar ihre 17jährige Tochter für diese Art des Gelderwerbs empfahl, um in speziell präparierten Räumen mit Kamera westliche Wirtschaftsvertreter und Politiker auszuhorchen bzw. zu erpressen.
Persönliche Schicksale
Die abschließende Diskussion vertiefte die angesprochenen Methoden der Staatssicherheit durch die Einbeziehung vieler persönlicher Schicksale unter den Anwesenden bzw. von deren Familienmitgliedern. Es kam zur Sprache, dass das Vorhandensein des Geheimdienstes sowie die Gefahren zwar nahezu jedem in der DDR bewusst gewesen seien, das wahre Ausmaß aber undenkbar! Zudem wurde debattiert, dass heute – mehr als 16 Jahre nach dem Zusammenbruch des SED-Staates – die DDR oft verklärt und idealisiert wird. Viele Altfunktionäre haben wieder wichtige Positionen in Politik, Wirtschaft, Kultur oder Schule, während unzählige Opfer keine Chance auf Rehabilitierung besitzen. Zahlreiche Teilnehmer appellierten an die Politische Bildung, vor allem in den Schulen, dem verklärten DDR-Bild durch weiteres Engagement die Wahrheit über den Unrechtsstaat entgegen zu stellen!