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Veranstaltungsberichte

Niedergang der Demokratie in Mittel- und Osteuropa?

von Martina Beránková

XVII. Politikwissenschaftliches Symposium

Die größte politikwissenschaftliche Veranstaltung in Tschechien fand zum zweiten Mal online statt, sodass Interessenten aus der gesamten Europäischen Union an dem Symposium teilnehmen konnten.

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Degeneration der liberalen Demokratie in Tschechien?

Experten richten in ihren Beiträgen den Fokus auf den aktuellen Zustand und die Zukunft der liberalen Demokratie in Tschechien.

Youtube, Konrad-Adenauer-Stiftung v Česku

Gerade die internationale Dimension des diesjährigen Jahrgangs hat einen Vergleich des gegenwärtigen Stands der Demokratie und ihrer Bedrohung in einigen Ländern möglich gemacht. Die Vortragenden fokussierten sich in ihren Beiträgen auf demokratische Abweichungen in Mittel- und Osteuropa sowie eine mögliche Degeneration der liberalen Demokratie in Tschechien und diskutierten über die Zukunft der Demokratie im mitteleuropäischen Raum.

 

Abweichungen von der Demokratie in Mittel- und Osteuropa

Attila Gyulai von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften beschäftigte sich mit der Frage, ob sich die Trajektorie der Regierungen in Mittel- und Osteuropa am ungarischen Beispiel verallgemeinern lässt. Er führte ins Feld, dass der Begriff Populismus zu eingrenzend sei und dass er nicht für Generalisierungen verwendet werden könne. Das derzeitige Regime in Ungarn bezeichnet er als „PLD“ – Demokratie eines plebiszitären Führers. Dieses Regime habe seine besonderen Merkmale wie etwa die nicht enden wollende Deklaration einer Krise des Landes, Klientelismus oder auch die Handlungsfähigkeit des Leaders, die über den Konventionen und Rechtsnormen stehe.

Den ganzen Vortrag finden Sie auf der Youtube-Seite unter Attila Gyulai: A realist take on regime trajectories in Centraland Eastern Europe

 

„Die chauvinistische Exklusionspolitik schließt Teile der Gesellschaft als Verräter aus der Nation aus. Die Regierungspartei repräsentiert dabei das „wahre Volk“. Bei der Spaltung der Gesellschaft bedient sie sich diverser Verschwörungstheorien zu ihren Gunsten und versucht, eine geschlossene kollektive Identität zu schaffen. Bestimmte Gruppen werden als existenzielle und kulturelle Bedrohung für die Nation wahrgenommen.“ - Ireneusz Pawel Karolewski

 

Ireneusz Pawel Karolewski von der Universität Leipzig hat den sog. Cäsarschen Realismus in Polen beschrieben. Er definiert ihn als exekutiv orientiertes Regime mit Aspekten einer plebiszitären Demokratie, das eine autonome Regierungsgewalt anstrebe und keine unabhängigen Akteure zulasse. Der Cäsarismus ruhe auf drei Säulen: dem Klientelismus, der „Übernahme“ des Staates durch eine Politisierung aller staatlichen Strukturen und einer Exklusionspolitik.  Gerade die Exklusionspolitik sei eine gefährliche Form des Chauvinismus, die sich Verschwörungstheorien bediene und gewissen Gruppen die Zugehörigkeit zur Gesellschaft oder zur Nation abstreite. Gruppen wie Liberale, die Opposition oder LGBT würden als existenzielle oder kulturelle Bedrohung bezeichnet. Der gegenwärtige Stand in Polen sei anders als in Ungarn und es sei eine Frage der Zeit, ob sich Polen dem ungarischen Modell annähern werde. Laut Karolewski ist Ungarn dieser Trajektorie voraus, da die Transformation dort einige Jahre vorher eingesetzt habe.

Den ganzen Vortrag finden Sie auf der Youtube-Seite unter Ireneusz Pawel Karolewski: Caesarism and democratic backsliding in Poland

Den politischen Präferenzen von Millionären und Milliardären in Tschechien widmete sich Andrew Lawrence Roberts von der Masaryk-Universität. Diese unterstützten erwartungsgemäß den freien Markt, eine niedrige Besteuerung und seien für den Verbleib in der EU. Ihre Meinungen in anderen Bereichen würden jedoch nicht allzu stark vom Durchschnitt der Bevölkerung abweichen. Einfluss auf die Öffentlichkeit würden sie vielmehr als Inhaber von Medien und Thinktanks als durch die finanzielle Unterstützung anderer Parteien als der eigenen ausüben. Entscheidend sei die Frage nach den Beweggründen von Milliardären, direkt in die Politik einzusteigen – laut Roberts handle es sich entweder um die Überzeugung, dass der Einstieg in die Politik die beste Art und Weise sei, das eigene Unternehmen zu beschützen oder um ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, das sich meist am Ende der Karriere einstelle.

Den ganzen Vortrag finden Sie auf der Youtube-Seite unter Andrew Lawrence Roberts: A Republic of Billionaires?

Mit den Ländern des Westbalkans hat sich Věra Stojarová von der Masaryk-Universität auseinandergesetzt. In diesen Ländern habe keine nationale Versöhnung stattgefunden, sie hätten jedoch eine wirtschaftliche Transformation und eine politische Transition durchgemacht. Außer Kroatien, das ein Mitglied der EU ist, seien diese Länder Stojarová zufolge noch gar nicht soweit, um der EU beizutreten, doch zugleich seien sie der Warterei auf eine Aufnahme in die EU überdrüssig. Daher hielten sie Ausschau nach anderen Partnern wie Russland, China oder Saudi-Arabien. In den meisten Fällen handele es sich um „übernommene“ Staaten, in denen Journalisten, Richter, Akademiker oder Wähler abgeschreckt werden. Ein Problem für die EU sei, dass jegliches Bemühen um eine Reform der Regime in Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien oder Albanien das Risiko für einen Konflikt in der Region erheblich steigern würde.

Den ganzen Vortrag finden Sie auf der Youtube-Seite unter Věra Stojarová: Western Balkans – moving towards EU membership and away from liberal democracy

 

Degeneriert die liberale Demokratie in Tschechien?

Wie soll man einen Zustand beschreiben, in dem sich das demokratische Spiel wandelt, die Demokratie nicht direkt am Ende, aber auch nicht gefestigt ist? Um eine Antwort auf diese Frage bemühte sich Seán Hanley, einer der größten angelsächsischen Experten für tschechische Politik, vom University College London. Er präsentierte zwei Theorien: Die erste ist die Theorie der Abweichungen (Swerving), bei der es zu zeitlich begrenzten Episoden kommt, in denen der Staat von der liberalen Demokratie abweicht. Die zweite Theorie ist das sog. Careening (Schwanken) innerhalb der Banden der Demokratie, das eher systembedingt ist. In Tschechien komme es zu Konflikten zwischen den Institutionen und einer massiven Mobilisierung und Gegenmobilisierung der Bürger. Dennoch könne nicht von einem Niedergang der Demokratie als solcher gesprochen werden – dies wäre an einer klaren Trajektorie zu erkennen.  Das Beispiel der Tschechischen Republik zeige laut Hanley die Grenzen der Vorstellung vom Niedergang der Demokratie, die nicht auf alle Staaten gleich anwendbar sei.

Den ganzen Vortrag finden Sie auf der Youtube-Seite unter Seán Hanley: Is Czech democracy backsliding od careening?

Jan Hruška von der Masaryk-Universität hat die niedrige Beteiligung an den Senatswahlen untersucht. Seine Untersuchung habe den Effekt des Vertrauens in die jeweilige Institution bestätigt, das deutlich die Chance erhöhe, dass sich ein Bürger an den Senatswahlen beteilige. Zugleich bestätigt er den Einfluss des allgemeinen politischen Bildungsniveaus auf die Wahlbeteiligung. Was nicht bei der Untersuchung bestätigt werden konnte, war der Einfluss allgemeiner Kenntnisse über den Senat als Institution auf den Grad der Wahlbeteiligung der Bürger.

Den ganzen Vortrag finden Sie auf der Youtube-Seite unter Jan Hruška: Do we know what are we (not)voting for?

 

„Die Tschechische Republik hatte nach 1989 sehr schlechte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Demokratie. Die Zwischenkriegstradition der tschechoslowakischen Demokratie wurde von der Regierung der Kommunistischen Partei überlagert, das Trauma von 1968 war deutlich zu spüren. Die Flucht ins Private in der Zeit der Normalisierung und das Fehlen eines gesamtgesellschaftlichen Bindeglieds wie zum Beispiel der katholischen Kirche in Polen bedeuteten ein extremes Zerschlagen der Gesellschaft. Demokratie geht dabei von der Vorstellung eines geteilten Schicksals aus.“  - Jan Kysela  

                                                                                        

Skeptisch gegenüber der Vorstellung einer „Degenerierung“ der liberalen Demokratie in Tschechien war der Verfassungsrechtler und Mitglied der Ständigen Kommission des Senats des Parlaments der Tschechischen Republik Jan Kysela. Er ging von der Tatsache aus, dass der gesellschaftliche Konsens in den 90er Jahren bei weitem nicht so klar wäre, wie man heute hoffen würde. Eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Demokratie sei dabei das Gefühl einer gegenseitigen Nähe und eines geteilten Schicksals. Das Zerschlagen der Gesellschaft nach der Normalisierung und die anschließende vollkommen unterschiedliche Wahrnehmung des Erfolgs der wirtschaftlichen Transformation hätten das Zusammengehörigkeitsgefühl zunichtegemacht. Kysela sagt, dass man heute bereits mit einem Widerwillen und einer fehlenden Bereitschaft, die Prinzipien des Verfassungsstaates zu begreifen, rechnen müsse. Zugleich weist er darauf hin, dass jede Diskussion über die tschechische Demokratie in eine Diskussion über die tschechischen Parteien übergehe. Zum Misstrauen der Bürger gegenüber der Parteienpolitik habe die Abgeschlossenheit der Politik der ODS in den 90er Jahren beigetragen. Die Tendenz, allen Parteimitgliedern mit Misstrauen zu begegnen, sei für Bürger, die darüber nachdenken, einer Partei beizutreten, extrem demotivierend. Daher funktionierten die Parteien hierzulande auf einer anderen Basis als in Westeuropa, wo eine Mitgliedschaft gang und gäbe sei.

Den ganzen Vortrag finden Sie auf der Youtube-Seite unter Jan Kysela: Dissolution of an agreement, which might have never existed

 

„Die liberale Demokratie wird Schwierigkeiten bekommen, wenn sie sich nicht eine strukturelle Ungleichheit eingesteht. Wenn wir Liberaldemokraten uns diese Probleme eingestehen, können wir diese angehen. Wesentlich für die politische Teilhabe ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Entscheidend für den Erfolg der Demokratie ist die Heranbildung der Menschen zu Empathie und Mitgefühl, die wir für alle Gemeinschaften, nicht nur für unsere eigene, empfinden müssen .“ -  Lenka Strnadová

 

Die Krise der liberalen Demokratie als Krise des Mitgefühls präsentierte Lenka Strnadová von der Universität Westböhmen. Politische Bildung bewahre uns zwar vor Manipulation und sei eine Grundvoraussetzung für die Bürgerpflicht, ein aktives Bürgertum hänge jedoch nicht nur davon ab. Entscheidend sei, die Bürger zu Empathie gegenüber Menschen in einer anderen gesellschaftlichen Stellung heranzuziehen, da sich ohne Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl keine Partizipation einstellen würde. Die Zersplitterung der Gesellschaft sei jedoch nicht nur eine Folge der kommunistischen Regierung und einer Krise des Mitgefühls, sondern auch der politischen Eliten der 90er Jahre. Deren Aversion gegenüber der Gemeinschaft, Hervorhebung des Privaten und Wahrnehmung der Politik als Mittel zur eigenen wirtschaftlichen Bereicherung hätten zu dieser Entwicklung beigetragen.

Den ganzen Vortrag finden Sie auf der Youtube-Seite unter Lenka Strnadová: Crisis of (Czech) liberal democracy as a compassion crisis

 

Welche Zukunft hat die liberale Demokratie in der Tschechischen Republik und in Mitteleuropa?

Die Teilnehmer des abschließenden runden Tisches waren die Politologin Vladimíra Dvořáková, der Journalist Petr Honzejk (Hospodářské noviny) sowie die Beraterin der EU-Kommissarin für Werte und Transparenz Monika Ladmanová.

 

„Die Pandemie hat die Unfähigkeit der Parteien demaskiert, die auf dem Weg zu einer nichtliberalen Lösung der Probleme sind. In der ganzen Visegrád-Gruppe sind die Folgen besonders tragisch. Die Zeit nach der Pandemie birgt für uns eine Chance für eine Renaissance des demokratischen Modells.“ - Petr Honzejk

 

Vladimíra Dvořáková war der Ansicht, dass die Länder Mitteleuropas nach 1989 noch nie den Status einer konsolidierten Demokratie erreicht hätten. Während der Transition in der Tschechischen Republik hätte man den Aufbau einer funktionstüchtigen Staatsverwaltung gründlich unterschätzt, die nämlich bei den einfachsten Aufgaben scheitere, und die Kontrollinstitutionen seien von Anfang an so aufgestellt gewesen, dass sie gar nicht voll funktionieren könnten. Sie machte auf ein Schwinden der Solidarität im Laufe der Pandemiekrise aufmerksam – die Politiker seien in der ersten Welle nicht in der Lage gewesen, ihre Dankbarkeit für die Initiative der Bürger im Bereich der gegenseitigen Hilfe sowie der Entwicklung und Herstellung von Schutzmitteln oder Luftreinigern auszudrücken. Auch in der derzeit geführten öffentlichen Debatte über die Mund-Nase-Bedeckungen gehe deren ursprünglicher Zweck – der Schutz des Umfelds – verloren.

Mit einem gewissen Optimismus erinnerte Petr Honzejk daran, dass der Senat und das Verfassungsgericht in den letzten Jahren Versuche einer Zentralisierung der Macht erfolgreich abwehren konnten. Wenn die Mehrheit der Gesellschaft eine liberale Demokratie fordern würde, so Honzejk, würde man auch eine bekommen. Er war sich jedoch mit Vladimíra Dvořáková im Hinblick auf die Grenzen der politischen Kultur hierzulande einig, in der viele Bürger beispielsweise einen Interessenskonflikt nicht als problematisch ansehen würden.

Monika Ladmanová wies darauf hin, dass es nach der Pandemie extrem schwer sein werde, ein Grundvertrauen in einen Staat aufzubauen, der nicht in der Lage gewesen war, Menschenleben zu beschützen. Ihre Meinung nach sei die Gesellschaft in Mittel- und Osteuropa von den vergeblichen Bemühungen, Westeuropa nachzueifern, verdrossen und enttäuscht. Sie sehe aber immer noch die deutliche Bereitschaft der Bürger, für die liberale Demokratie zu kämpfen. Zugleich wolle die EU in den nächsten Jahren demokratische Werte in allen Mitgliedsstaaten mehr unterstützen – nicht nur in jenen im Osten der EU.

Den ganzen Rundtisch finden Sie auf der Youtube-Seite unter Roundtable: What is the Future of Liberal Democracy in the Czech Republic and Central Europe?

 

Das Brünner Politikwissenschaftliche Symposium wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Institut für Politikwissenschaften (IIPS) der Masaryk-Universität veranstaltet. Im Jahr 2021 fand bereits der 17. Jahrgang statt.

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Marcel Ladka

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