Länderberichte
Die Begegnung verlief überraschend freundschaftlich
Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko begrüßte seinen wartenden Amtskollegen Wiktor Juschtschenko im nordukrainischen Tschernihiw am 20. Januar mit den Worten: „Und, war es kalt bei Ihnen in diesen Tagen?“ Er spielte damit auf den gerade überstandenen Gaskonflikt mit dem russischen Nachbarn an. „Minus 20 Grad“ antwortete Juschtschenko zwinkernd, worauf Lukaschenko sofort zum vertraulichen „Du“ überging und lächelnd entgegnete: „Ach, deswegen warst Du nicht beunruhigt. Das ist ja nicht kalt.“ Der betont freundschaftliche Umgang der Amtskollegen sowie die Vielzahl der beim Treffen geschlossenen Vereinbarungen überraschten viele Beobachter.
Das erste Vier-Augen-Gespräch seit Langem fand zu einem interessanten Zeitpunkt statt
Über eine bevorstehende Begegnung der Präsidenten der beiden großen östlichen EU-Nachbarn kursierten zuletzt immer wieder Spekulationen. Doch die politischen Differenzen zwischen Weißrussland und der Ukraine schienen bisher zu grundlegend. Lukaschenko hatte die Orange Revolution wiederholt als Banditentum bezeichnet. Juschtschenko war nicht daran interessiert, durch einen zu engen Kontakt mit seinem autoritären Nachbarn im Norden die Beziehungen zur EU und zu den USA zu belasten, die noch bis vor Kurzem auf eine weitgehende Isolation des Regimes Lukaschenko setzten.
Von dieser Zurückhaltung war in Tschernihiw nichts mehr zu spüren. „Wir standen immer zusammen und haben uns gegenseitig unterstützt in schweren Zeiten“, erklärte Lukaschenko. Ostentativ ergänzte er, es gebe in Weißrussland „keine Allergie gegen den ukrainischen Staat oder seine Staatsführung“. Beide Seiten betonten auf der anschließenden Pressekonferenz die „brüderlichen“ und gutnachbarlichen Beziehungen, die sich dynamisch entwickelten.
Vor allem der Zeitpunkt des Gipfeltreffens ist von Bedeutung. Am 20. Januar endete in Washington die Amtszeit von Präsident Bush, mit dem Juschtschenko eine enge politische Freundschaft verband und der Weißrussland wiederholt auf der „Achse des Bösen“ angesiedelt hatte. Aus Rücksichtnahme gegenüber Bush sah Juschtschenko bislang von einem Treffen mit dem „letzten Diktator Europas“ ab. Mit der neuen Initiative der „Östlichen Partnerschaft“ setzte die EU-Kommission zudem kurz zuvor Impulse für eine regionale Kooperation unter Einbeziehung Weißrusslands. Darüber hinaus fand der ukrainisch-weißrussische Gipfel kurz nach der Beilegung des russisch-ukrainischen Gasstreites statt, der die Agenda der Unterredung mit einer ganzen Reihe energiepolitischer Themen wesentlich mitbestimmte.
Juschtschenko und Lukaschenko trafen bilaterale Vereinbarungen und besprachen wichtige strategische Fragen
Vordergründig dominierten bei diesem unerwarteten Zusammentreffen der beiden Präsidenten bilaterale Themen. Die Aufenthaltsregelungen für ukrainische Bürger in Weißrussland und für Pendler vom ukrainischen Slawutitsch ins Atomkraftwerk Tschernobyl, deren Arbeitsweg über weißrussisches Territorium führt, wurden signifikant erleichtert. Die beiden Seiten schlossen ein Konsularabkommen und Weißrussland erneuerte die Vereinbarungen zum Kauf ukrainischen Stroms.
Indem Juschtschenko und Lukaschenko überraschend das ursprünglich für 30 Minuten angelegte Treffen auf fast vier Stunden ausdehnten und Themen ansprachen, die weit über den bilateralen Rahmen hinauswiesen, erhielt das Treffen aber auch Bedeutung für die gesamte Region. Ein vereinbartes Memorandum im Energiebereich sieht die Entwicklung neuer Transportnetzwerke für Energielieferungen und Energietransit zwischen der Ukraine und Weißrussland und die Schaffung eines Transportkorridors vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee vor. Im Detail wurde über die Lieferung ukrainischen Stroms an den nördlichen Nachbarn sowie den Stromtransit von der Ukraine über Weißrussland in die baltischen Länder gesprochen.
Juschtschenko und Lukaschenko sprachen auch ausführlich über das Pipeline-Projekt Odessa-Brody, mit dem kaspisches Erdöl nach Europa transportiert werden soll. Insbesondere diesen Teil der Gespräche wird man in Moskau aufmerksam verfolgt haben. Das Odessa-Brody-Projekt wertet der Kreml als gegen Russland gerichtet und hat es in der Vergangenheit immer wieder erfolgreich zu torpedieren versucht. Dass Lukaschenko nun öffentlich seine Bereitschaft erklärte, „diese Frage mit der Ukraine und den baltischen Staaten zu erörtern“, ist zunächst einmal ein neuer Versuch, seine Verhandlungsposition gegenüber Russland zu stärken. Denn noch im Februar wird der Oberste Rat des Weißrussisch-Russischen Unionstaates in Moskau eine Reihe brisanter Themen im bilateralen Verhältnis besprechen.
Viel bedeutsamer erscheinen die Gespräche über das Pipeline-Projekt jedoch, wenn man das als ersten ernsthaften Versuch Weißrusslands und der Ukraine liest, ihre Transitpolitik zu koordinieren. Sollte dies in der Zukunft gelingen, könnte möglicherweise ein bedeutender Hebel gefunden werden, mit dem die Politik Russlands in der Region nachhaltig zu beeinflussen wäre. Auch wirtschaftlich würden beide Länder von einer erfolgreichen Umsetzung dieses Projekts profitieren.
Die Ukraine und Weißrussland streben wirtschaftliche Zusammenarbeit zur Bewältigung der Krise an
Die momentane Wirtschaftskrise zwingt die Ukraine und Weißrussland ohnehin zur Intensivierung ihrer Handelsbeziehungen, da sie den jeweils anderen Absatzmarkt dringend benötigen. Die Erhöhung des gegenseitigen Warenaustausches, der sich bisher auf jährliche ca. 4,7 Mrd. US-Dollar belief, wäre für beide höchst vorteilhaft. Nach der Rekordernte des Jahres 2008 und vor dem Hintergrund des landwirtschaftlichen Potenzials benötigt die Ukraine beispielsweise dringend die im Nachbarland produzierte Agrartechnik. Weißrussland läuft aufgrund der tiefen wirtschaftlichen Integration mit Russland derzeit Gefahr, Wirtschaftsprobleme des großen Nachbarn zu importieren. Lukaschenko ist zunehmend auf weitere verlässliche Wirtschaftspartner angewiesen. Dazu gehört die Ukraine ebenso wie die Mitgliedsstaaten der EU.
Vor allem im Energiesektor ist Weißrusslands Abhängigkeit von Russland kritisch. Dass sich Präsident Lukaschenko unmittelbar nach Beendigung der Gaskrise zwischen Russland und der Ukraine mit Präsident Juschtschenko trifft und Energiefragen erörtert, weist klar auf die ihm fehlenden Alternativen hin.
Lukaschenko muss versuchen, Weißrussland vor einer negativen wirtschaftlichen Entwicklung zu schützen, da hiervon auch die Zustimmung zu seiner eigenen Person abhängt. Damit braucht er die Europäische Union mehr, als es ihm lieb ist. Daraus erklärt sich auch das starke Interesse an einer Einladung der EU zum EU-Gipfel in Prag. In der Öffentlichkeit versucht Lukaschenko diesen Eindruck jedoch zu vermeiden. Hier verkündet man stattdessen euphemistisch, die EU werde die großen Probleme ohne Weißrussland nicht lösen können. Zudem bedient Lukaschenko sich der russischen Rhetorik, wenn er von der Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog mit der EU „basierend auf den Prinzipien der gegenseitigen Achtung und Gleichstellung der Partner“ spricht. Gemeint ist ein „Ja“ zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit einerseits und ein „Nein“ zu einer Annäherungen in den Wertefragen andererseits. Dessen ungeachtet war das Treffen zwischen Lukaschenko und Juschtschenko aus weißrussischer Sicht ein Meilenstein auf dem Weg aus der internationalen Isolation.
Das Treffen kann als erste Aktivität der Ukraine im Sinne der „Östlichen Partnerschaft“ gedeutet werden
Eine Gesprächsgrundlage bot auch das ursprünglich schwedisch-polnische Konzept der „Östlichen Partnerschaft“. Im Rahmen dieser Initiative könnte der weißrussische Präsident in seinem ukrainischen Amtskollegen einen entscheidenden Advokaten finden.
Und auch die Ukraine würde von einer Vermittlerrolle profitieren. Mit der expliziten Erörterung der neuen EU-Initiative auf dem Gipfeltreffen von Tschernihiw sendete Juschtschenko das klare Signal an die EU, die der Ukraine angebotenen Instrumente in Zukunft besser nutzen zu wollen. Das Treffen zeigte zudem, dass die anfängliche Skepsis der Ukraine bezüglich der Östlichen Partnerschaft nun der Einsicht gewichen ist, diese Initiative aktiv zum eigenen Vorteil nutzen zu wollen. Sollte es der Ukraine tatsächlich gelingen, sich als treibende Kraft für die demokratische Entwicklung in der Region erweisen zu können, würde sie damit das Vertrauen der Europäischen Union wieder gewinnen. Das Verhältnis der ukrainischen Führung zur EU war aufgrund der andauernden innenpolitischen Krise und der zwielichtigen Rolle des Landes im Gasstreit zuletzt deutlich gestört.
Juschtschenko sendete auch Signale an die neue US-Administration
Mit dem Treffen sendete der ukrainische Präsident, der viel Wert auf gute Beziehungen zu den USA legt, aber auch positive Signale an die neue Regierungsmannschaft im Weißen Haus. Er demonstrierte, dass er einer neuen Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik offen gegenübersteht. Juschtschenkos diplomatische Initiative findet sich im Einklang mit der von Präsident Obama angekündigten Wende in der amerikanischen Außenpolitik mit einem neuen Fokus auf Diplomatie.
Eine ukrainisch-weißrussische Kooperation könnte der Schlüssel zu einer politischen Neuordnung in Osteuropa werden
Das erste Zusammenkommen von Juschtschenko und Lukaschenko könnte den Auftakt zu einer politischen Neuordnung Osteuropas bilden. Die Östliche Partnerschaft wäre dafür möglicherweise ein geeigneter Rahmen. Alle in Tschernihiw besprochenen Themen fallen in die inhaltlichen Felder der neuen EU-Initiative: Grenzen und Migration, Wirtschaftskooperation, Politik und Sicherheit.
Die Worte des ukrainischen Präsidenten, man habe die Erarbeitung gemeinsamer Aktivitäten zur Umsetzung der Östlichen Partnerschaft erörtert und teile gemeinsame Bedürfnisse und gemeinsame Wünsche auch mit Moldau, Georgien, Aserbaidschan und Armenien sind zukunftsweisend. Einige weißrussische Optimisten sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einer Neuauflage der Visegrad-Gruppe. Selbst wenn man das als verfrüht ansieht, ist das Treffen zwischen Juschtschenko und Lukaschenko als ein sehr wichtiger Impuls für die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der östlichen Nachbarschaft der EU anzusehen. Es ist anzunehmen, dass insbesondere der Sondergipfel der 27 EU-Staaten mit den sechs Zielstaaten der Östlichen Partnerschaft im Mai diesen Impuls aufnehmen und weiterentwickeln wird.