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Parlaments- und Regierungsbildung in der Ukraine

von Christine Rosenberger, Gabriele Baumann
Am 24. Dezember, rund zehn Tage nach der Konstituierung des Parlaments, ernannte Präsident Viktor Janukowytsch die Mitglieder der neuen Regierung unter Premierminister Mykola Asarow. Durch die Vergabe einiger Schlüsselpositionen an enge Vertraute erreichte Janukowytsch eine Stärkung seiner unmittelbaren Umgebung, die in ukrainischen Medien oft auch als „Familie“ bezeichnet wird. Am 12. Dezember waren die Abgeordneten der siebten Werchowna Rada zur ersten konstituierenden Parlamentssitzung zusammengekommen.

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Das neue Parlament besteht aus fünf Fraktionen, deren Parteien in den Wahlen vom 28. Oktober die Fünfprozenthürde überwunden hatten: die der regierenden Partei der Regionen, der Vereinigten Opposition „Batkiwschtschyna“, der Ukrainischen Demokratischen Allianz für Reformen (UDAR), der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) sowie der rechtsnationalistischen Vereinigung „Swoboda“.

Die Partei der Regionen hatte zwar ihren Platz als stärkste Fraktion im Parlament verteidigen können, dies war jedoch nur dank der Änderung des Wahlsystems von einem reinen Verhältniswahlrecht zu einem gemischten Wahlrecht möglich gewesen. In absoluten Zahlen musste sie Verluste von knapp zwei Millionen Wählerstimmen im Vergleich zu 2007 hinnehmen. Die Oppositionsparteien gingen hingegen gestärkt aus der Wahl hervor: Die Vereinigte Opposition „Batkiwschtschyna“ wurde zweitstärkste Kraft und auch die erstmalig zur Parlamentswahl angetretene Partei UDAR von Vitali Klitschko ereichte aus dem Stand knapp 14 Prozent. Jeweils einen Überraschungssieg trugen die extrem rechten und linken Ränder des Parteienspektrums davon: Die Kommunisten (13,2 Prozent) konnten ihre Wählerschaft mehr als verdoppeln (2007: 1,2 Millionen Wähler, 2012: 2,7 Millionen Wähler) und die rechtsnationalistische Partei Swoboda sicherte sich mit 10,4 Prozent der Stimmen erstmalig und überraschend deutlich den Einzug ins Parlament. Die internationalen Wahlbeobachter hatten den Verlauf der Wahlen stark kritisiert und von einem demokratischen Rückschritt gesprochen. Insbesondere die Tatsache, dass es zu schwerwiegenden Zwischenfällen bei den Stimmauswertungen kam, in dessen Verlauf die Zentrale Wahlkommission die Ermittlung des Ergebnisses in fünf Wahlkreisen als unmöglich erklärte, hatte national und international Kritik hervorgerufen.

Ein besonderes Merkmal der neuen Werchowna Rada liegt in den fehlenden klaren Mehrheitsverhältnissen: Weder die regierende Partei der Regionen (210 Sitze) noch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsfraktionen der Vereinigten Opposition „Batkiwschtschyna“ (99 Sitze), UDAR (42 Sitze) und Swoboda (37 Sitze) verfügen zu-sammen über die nötige einfache Mehrheit von 226 Stimmen im Parlament. Auch wenn es der Partei der Regionen gelungen ist, 25 der insgesamt 50 parteilosen Abgeordneten, die ihr Mandat in einem Direktwahlkreis gewonnen hatten, für einen Übertritt in die Regierungsfraktion zu gewinnen, reicht dies nicht für eine Mehrheit aus eigener Kraft aus. Sollte es der Fraktion der Partei der Regionen in den nächsten Wochen nicht gelingen, noch weitere bislang fraktionslose Abgeordnete für einen Übertritt in die Re-gierungsfraktion zu gewinnen, wird die Partei der Regionen bei der Durchsetzung ihrer politischen Vorhaben auf die Unterstützung der Kommunisten angewiesen sein. Bei der Wahl von Wolodymyr Rybak zum Parlamentssprecher und von Mykola Asarow zum Premierminister in den ersten beiden Parlamentssitzungen konnte die Regierungsfraktion jeweils ihre Kandidaten auf diese Weise durchsetzen. Langfristig wird sich die Partei der Regionen jedoch nicht auf die Unterstützung der Kommunisten verlassen können und wollen. Denn da die KPU durch ihren Wahlerfolg an Selbstbewusstsein ge-wonnen hat und sich in ihrem regierungskritischen Wahlkampf bestärkt sieht, wird sie sich ihre Unterstützung für Regierungsvorhaben genauestens überlegen. Insgesamt dürfte sich die Arbeit im Parlament für die Partei der Regionen also schwieriger gestalten als zuvor.

Zunehmende Radikalisierung der Opposition

Dies trifft umso mehr zu, als die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien Batkiwschtschyna, UDAR und Swoboda eine unnachgiebigere und radikalere Opposition zum Regierungslager bilden werden. Erste Anzeichen hierfür zeigten sich bereits im Laufe der ersten zwei Sitzungstage am 12. und 13. Dezember, als es zu Schlägereien kam und Abgeordnete der Oppositionsfraktionen mehrfach versuchten, die Rednertribüne des Parlaments zu blockieren. Ein Grund für die Übergriffe war die Tatsache, dass zwei „Batkiwschtschyna“-Abgeordnete nicht ihrer Fraktion beigetreten waren, für die sie gewählt worden waren. In der Opposition führte dies zu großer Empörung, denn alle Kandidaten, die von „Batkiwschtschyna“ zur Wahl aufgestellt worden waren, hatten eine Erklärung unterschrieben, wonach sie im Falle ihres Einzugs ins Parlament ihr Mandat für die gesamte Legislaturperiode ausschließlich innerhalb der Fraktion, für die sie gewählt worden waren, wahrnehmen würden. Mit der Verpflichtung eines jeden Kandidaten, diese Erklärung zu unterschreiben, hatte die Partei das schon früher im Parlament auftretende Problem von Fraktionsüberläufern („tuschki“) zu lösen gehofft. Mit großer Wut versuchten die Abgeordneten von Batkiwschtschyna, UDAR und Swoboda, die beiden Überläufer (Vater und Sohn Tabalow) am Betreten des Plenarsaales und am Ablegen des Eides zu hindern, um anschließend die Aberkennung ihres Mandats zu erzwingen – eine Forderung, mit der sich die Opposition jedoch nicht durchsetzen konnte.

Ein weiterer Grund für den Ausbruch der Schlägereien war eine Eskalation des Streites um die Abstimmungspraxis im Parlament. Die Oppositionsparteien hatten sich bereits im Vorhinein dafür stark gemacht, dass bei Parlamentsabstimmungen nur die abgegebenen Stimmen von persönlich im Plenarsaal anwesenden Abgeordneten gezählt werden sollten. Sie konnten sich mit ihrem Vorschlag jedoch nicht durchsetzen. In der Fraktion der Partei der Regionen sind traditionell Oligarchen und Geschäftsleute zu finden, die aufgrund ihrer unternehmerischen Tätigkeit nur selten im Parlament anwesend sind. Die in der Vergangenheit übliche Praxis des Abstimmens für abwesende Fraktionskollegen war daher stets wichtige Voraussetzung für die Mehrheitsbeschaffung der Regierungspartei gewesen. Die Vertreter der rechtsnationalistischen Partei Swoboda waren in den parlamentarischen Prügelszenen stets an vorderster Front zu sehen. Ihre Verachtung für die russlandfreundlich eingestellten Kommunisten und die regierende Partei der Regionen ist groß und sie sehen in der Sprache der Fäuste das einzige Mittel, um das gegnerische Lager von der ihrer Meinung nach ukrainefeindlichen Politik abzuhalten.

Neue Regierung stärkt Position der „Familie“

Zu den Mitgliedern der „Familie“ gehören vor allem Personen, die persönliche Beziehungen zum Präsidenten selbst oder zu seinem ältesten Sohn Oleksandr haben, so zum Beispiel der ehemalige Chef der ukrainischen Nationalbank, Serhij Arbusow. Dieser übernimmt in der neuen Regierung den Posten des ersten stellvertretenden Premierministers und könnte laut ukrainischen Medienberichten in nicht allzu ferner Zeit Mykola Asarow als Regierungschef beerben. Arbusow war Ende des letzten Jahres als Alternative zu Asarow auf dem Posten des Ministerpräsidenten ins Gespräch gebracht worden, letztlich hatte sich Präsident Janukowytsch dann aber doch für den im Amt erfahrenen Asarow entschieden. Der von Präsident Viktor Janukowytsch erneut für den Posten des Premierministers vorgeschlagene Mykola Asarow wurde mit den Stimmen der Partei der Regionen, der Kommunisten sowie einiger fraktionsloser Abgeordneter gewählt.

Zu weiteren Besetzungen aus der nächsten Umgebung des Präsidenten zählt unter anderem Olena Lukasch, vormalige Beraterin des Präsidenten, für die Janukowytsch das Amt der Ministerin des Ministerkabinetts neu geschaffen hat. Sie wird als Vertraute des Präsidenten die direkte Verbindungslinie zwischen Präsidentenpalast und Ministerkabinett darstellen und für eine Ausweitung des präsidialen Einflusses auf das Ministerkabinett sorgen. Auch für Oleksandr Klymenko ist mit dem Ministerium für Einnahmen und Ausgaben ein neues Ressort geschaffen worden. Seine Zuständigkeiten umfassen vor allem Steuer- und Zollfragen und aufgrund der Wichtigkeit dieser Ressorts wird das Ministerium in den Medien auch als „Super-Ministerium“ bezeichnet. Weitere wichtige Posten gingen ebenfalls an Persönlichkeiten aus Janukowytschs enger Umgebung, so unter anderem das Ministerium für Energie und Kohlewirtschaft an den vorherigen Umweltminister Eduard Stavyzkyj und das Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen an Oleh Proskurjakow. In ihrem Amt verbleiben der Finanzminister Juri Kolobow, der Innenminister Vitali Sachartschenko sowie der für seine umstrittene, russlandfreundliche Bildungspolitik bekannte Minister für Bildung und Wissenschaft, Dmytro Tabatschnyk.

Neben der Stärkung der Stellung von präsidentennahen Personen innerhalb der Regie-rung ist auch der Einfluss des Donezker Oligarchen Rinat Achmetow deutlich erkennbar, der als mit Abstand eichster Ukrainer ein wichtiger Geschäftspartner des Präsidenten ist. So hat beispielsweise Ihor Prasolow, der bis 2005 Generaldirektor der in Besitz von Achmetow befindlichen Firma System Capital Management war, nun das Amt des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung und Handel inne. Ein weiterer Bekannter von Achmetow ist zum stellvertretenden Premierminister mit den Zuständigkeitsbereichen regionale Entwicklung, Bau und Infrastruktur ernannt worden: Oleksandr Vilkul war zuvor nicht nur Gouverneur der Region Dniprpetrowsk, sondern unter anderem auch Chef verschiedener in Achmetows Besitz befindlichen Unternehmen.

Eine für viele Beobachter nicht ganz unerwartete Personalie dürfte die Ernennung von Natalia Korolewska zur Sozialministerin gewesen sein. Mit diesem Schachzug wurden all diejenigen bestätigt, die in der Partei „Ukraine – vorwärts!“ von Natalia Korolewska ein Regierungsprojekt zur Abschöpfung von Wählerstimmen bei den Oppositionsparteien gesehen hatten. Mit einer aufdringlichen Plakatkampagne auf den Straßen der Ukraine hatte Frau Korolewska mit ihrem Team, zu dem auch der beliebte Spitzenfußballspieler Andrij Schewtschenko zählte, versucht, die ukrainische Bevölkerung von ihrem Projekt für eine „neue Wirtschaft und ein neues Land“ zu überzeugen. Im Wahlkampf hatte sie stets dementiert, Verbindungen zum Regierungslager zu haben und ihre Partei als genuin oppositionelle Kraft dargestellt. Dass die ukrainische Bevölkerung dieser Beteuerung offensichtlich nicht getraut hat, unterstrich das schlechte Abschneiden von „Ukraine – vorwärts!“ bei den Parlamentswahlen: Mit nur 1,58 Prozent der Wählerstimmen blieb dem neuen Parteiprojekt der Einzug ins Parlament verwehrt. Die Spitzenkandidatin Korolewska wird von nun an im Kabinett von Asarow sitzen, dessen Ablösung sie im Wahlkampf noch offen gefordert hatte.

Viel Arbeit in Krisenzeiten

Auf die neue Regierung und das neue Parlament warten viele offene Baustellen, an denen intensiv gearbeitet werden muss. Ein vordringliches Problem wird die wirtschaftliche Lage der Ukraine bleiben: Das Wachstum ist deutlich zurückgegangen, die Industrieproduktion sank zuletzt dramatisch, die ukrainische Währung steht unter einem starken Abwertungsdruck und verbunden mit den Stützungskäufen der Nationalbank gehen die Währungsreserven rasch zurück. Ende Januar wird eine Delegation des Internationalen Währungsfonds in Kiew erwartet, um auszuhandeln, unter welchen Bedingungen die vor über einem Jahr eingefrorenen Hilfskreditzahlungen an das Land wieder aufgenommen werden können. Auch Russland bietet sich der Ukraine als Geldgeber an – insbesondere in Form eines reduzierten Gaspreises –, verlangt hierfür von Kiew allerdings einen Beitritt des Landes zur Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan.

Eine weitere Baustelle findet sich in der Außenpolitik: Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, das in seinem Kern eine Freihandelszone zwischen beiden Partnern vorsehen würde, ist nach wie vor nicht unterzeichnet. Die EU sieht als größtes Hindernis auf dem Weg zur Unterzeichnung die politisch motivierten Haftstrafen ehemaliger Regierungsmitglieder und stellt Bedingungen für eine mögliche Unterzeichnung des Vertrags im kommenden November: Die Lösung der politisch motivierten Gerichtsverfahren gemäß den Beschlüssen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, die Durchführung wichtiger Reformen laut der vereinbarten Reformagenda sowie die Überarbeitung der Wahlgesetzgebung im Einklang mit europäischen Standards, damit künftige Wahlen und die voraussichtlich im März nachzuholenden Abstimmungen in den fünf noch fehlenden Bezirken frei und fair ablaufen können. Die Regierung in Kiew beteuert, die an sie gestellten Bedingungen zu erfüllen und eine Unterzeichnung des Abkommens sogar noch vor dem für November geplanten Gipfeltreffen der Länder der Östlichen Partnerschaft anzustreben. Gleichzeitig betrieb Kiew zuletzt jedoch zumindest rhetorisch eine Annäherung an die Zollunion. Diese ist wohl vor allem der prekären Wirtschaftslage der Ukraine geschuldet und verbunden mit der Hoffnung, durch eine zumindest teilweise Integration in die Zollunion von russischen Finanzhilfen profitieren zu können. Umso wichtiger ist daher jetzt eine klare Botschaft aus Berlin und Brüssel an Kiew, dass die EU angesichts der vielen Herausforderungen, vor denen das Land steht, der richtige Partner für die Ukraine ist, um eine langfristige gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung voranzutreiben.

Für die pro-europäischen Oppositionsparteien wird die wichtige Aufgabe darin bestehen, verantwortungsbewusst mit dem ihnen von den Wählern geschenkten Vertrauen umzugehen und eine gute Oppositionsarbeit zu leisten. Dabei wäre eine stärkere Distanzierung der beiden Parteien „Batkiwschtschyna“ und UDAR von den nationalistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Positionen von Swoboda wünschenswert.

Anfang 2015 stehen bereits die Präsidentschaftswahlen an, sodass die politischen Parteien im Laufe dieses Jahres spätestens nach den Bürgermeisterwahlen in Kiew im Frühjahr faktisch den nächsten Wahlkampf eröffnen werden. Angesichts der ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen das Land aktuell steckt, liegt es jedoch in der Verantwortung von Parlament und Regierung, die Lösung des Reformstaus nicht auf die Zeit nach den Präsidentschaftswahlen zu verlegen, sondern sich sofort um eine langfristige Bewältigung der dringendsten Probleme zu kümmern.

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29. Oktober 2012
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