Länderberichte
Die Szenarien für die Zeit nach den Wahlen lassen unabhängig von deren Ausgang keine Stabilisierung der politischen Situation in der Ukraine erwarten.
Vor den Wahlen ist es ruhig in Kiew
Anfang Januar 2010 ist die ukrainische Hauptstadt Kiew tief eingeschneit. In den sonst verstopften Straßen herrscht gespannte Ruhe und auch die meisten Büros sind nach dem Jahreswechsel noch nicht wieder besetzt. Trotz der bevorstehenden ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 17. Januar 2010 ziehen sich die Weihnachtsferien traditionell nach dem Neujahrsfest über den orthodoxen Weihnachtstag am 7. Januar bis hin zum „alten neuen Jahr“ des gregorianischen Kalenders. Die noch vor einigen Wochen irrational um sich greifende Panik angesichts einer starken Grippewelle ist völlig abgeklungen. Die Gaslieferungen an die russische Gasprom sind bezahlt und ein neuer Konflikt zum Jahreswechsel blieb aus. Die an Krisen gewöhnten ukrainischen Bürger ertragen die schwierige wirtschaftliche Lage gleichmütig. Auch starke Schneefälle, nicht geräumte Straßen und Behinderungen im Eisenbahn- und Flugverkehr sind den meisten Ukrainern kaum mehr als ein Achselzucken wert. Fünf Jahre nach der Orangen Revolution, nach den Parlamentswahlen von 2006 und vorgezogenen Neuwahlen in 2007 wirkt das Land müde von den anhaltenden politischen Ränkespielen und den fast permanenten Wahlkämpfen. Die Kandidaten für die Präsidentschaft präsentieren sich fast ausschließlich indirekt über allgegenwärtige gigantische Plakatwände, Fernsehen und Radio. Wahlkampf auf der Straße, Aktivisten und Freiwillige, die sich für die Sache eines Bewerbers einsetzen und bei den Bürgern Überzeugungsarbeit leisten sind nicht vorhanden.
Teure Kampagnen mobilisieren nicht
Es ist paradox, dass in einem der ärmsten Länder Europas, das noch dazu heftig bis an den Rand des Bankrotts von der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise getroffen ist, Unsummen für Wahlkampagnen ausgegeben werden. Die Wahlwerbung der in den Umfragen führenden Kandidaten Wiktor Janukowytsch, Julija Tymoschenko, Serhij Tihipko und Arsenij Jazenjuk ist aufwendig, hochprofessionell und technologisch bis ins Detail durchdacht. Internationale Berater entwickelten die Kampagnen nach modernsten internationalen Standards. Dennoch kann man sich des deutlichen Eindrucks nicht erwehren, dass die riesigen Plakate, die Zeitungsanzeigen und gekauften Artikel, die Fernsehtalkshows, Konzertveranstaltungen, Clips und Spots an den ukrainischen Wählern vorbeigehen. Der Wahlkampf in der Ukraine besteht fast ausschließlich aus Polit-Technologie. Unterscheidbare Profile und Persönlichkeiten der Kandidaten, inhaltlich zündende Ideen und Visionen für die Zukunft des Landes und Sachthemen mit Bezug auf die realen Probleme der Bürger kommen im Wahlkampf kaum vor.
Die Kandidaten unterscheiden sich im Stil, nicht in der Substanz
Die Präsidentschaftswahl des Jahres 2010 ist keine Schicksalswahl wie noch im Jahr 2004. Damals ging es um Ost oder West, um Europa oder Russland, um Demokratie oder Autoritarismus. Die vier führenden Kandidaten der Wahlen 2010 Janukowytsch, Tymoschenko, Tihipko und Jazenjuk wollen jetzt alle europäische Standards in der Ukraine einführen. Sie stehen alle für eine schrittweise Annäherung an die EU und gleichzeitige strategische und gutnachbarschaftliche Beziehungen mit Russland. Alle vermeiden peinlichst, das Thema der NATO-Mitgliedschaft auch nur anzusprechen. Innenpolitisch verbleiben die Kandidaten weiterhin bei postsowjetischen Erklärungen der Allzuständigkeit des Staates und versprechen die Erhöhung von Löhnen, Pensionen und Kindergeld. Die Unterschiede liegen vor allem im Stil, nicht der Substanz. Janukowytsch gibt sich als volksnah und bodenständig, Tymoschenko inszeniert sich fast schon als Heilige und Retterin der Ukraine, Tihipko als Fachmann und Technokrat während Jazenjuk zwischen jovialem und modernem Erneuerer und einer Art „ukrainischem Putin“ laviert.
Julija Tymoschenko und Wiktor Janukowytsch, die sich sehr wahrscheinlich am 7. Februar 2010 in einer Stichwahl gegenüberstehen werden, geben die in der Ukraine üblichen Versprechen für Pensionäre, Schachtarbeiter und junge Familien. Beide waren bereits zweimal selbst Premierminister und setzten in der Wirtschaftspolitik bisher häufig auf staatliche Eingriffe und künstliche Marktverzerrungen zur Bedienung der eigenen Klientel. In der Außenpolitik betonen sie die bevorstehende Assoziierung mit der EU und vor allem Freihandel und Visumsfreiheit. Beide wollen die Beziehungen zu Russland verbessern und beide beziehen keine Position zur NATO. Janukowytsch betont lediglich die Idee des Gemeinsamen Wirtschaftsraumes mit Russland, Weißrussland und Kasachstan stärker und exponierte sich mit einer vor dem Hintergrund der Situation auf der Krim unverständlichen Forderung nach einer staatlichen Anerkennung von Abchasien und Südossetien.
Kaum Überraschungen in der ersten Runde zu erwarten
Die letzten Umfragewerte zeigten für Janukowytsch etwa 30%, Tymoschenko 15 %, Tihipko 7%, Jazenjuk 6%, Juschtschenko 4%, Symonenko, Lytwyn, Tjahnibok jeweils etwa bei 2-3%. Die politische Landschaft der Ukraine ist damit erkennbar fragmentiert. Die Ermüdung der Wähler von den aktuellen politischen Eliten, vor allem von den ewig verstrittenen Tymoschenko, Juschtschenko und Janukowytsch, und die Enttäuschung über die vergebenen Chancen der Orangen Revolution schlagen sich deutlich nieder. Viele der Wähler werden in der ersten Runde der Wahlen auf neue Kandidaten wie Tihipko und Jazenjuk oder auch auf Protestkandidaten wie den Rechtspopulisten Tjahnibok ausweichen. Dennoch werden aller Wahrscheinlichkeit nach Janukowytsch und Tymoschenko in die zweite Runde einziehen, vor allem weil sich das demokratische Lager nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnte. Viele der Wähler werden in der zweiten Runde dann „gegen alle“ stimmen oder ganz den Wahlen fernbleiben. Nach den letzten Umfragen würden in einer zweiten Runde 42% für Janukowytsch stimmen, 30% für Tymoschenko und 13% gegen alle, etwa 10% sind noch unentschlossen.
Im ersten Wahlgang könnte schon ein Ergebnis von etwas mehr als 20 Prozent aufgrund der starken Fragmentierung bereits zum Einzug in die zweite Runde ausreichen. Sollten im zweiten Wahlgang die Wahlbeteiligung dann tatsächlich niedrig ausfallen und auch viele Stimmen „gegen alle“ abgegeben werden, hätte der neue Präsident insgesamt nur geringen Rückhalt bei den Bürgern.
Die Szenarien für die Zeit nach den Wahlen lassen kaum Stabilität erwarten
Für die Zeit nach der Entscheidung der Präsidentschaftswahlen ist keine Stabilisierung der politischen Situation in der Ukraine zu erwarten. Die gesetzliche Grundlage für die Durchführung der Wahlen ist nach Streitigkeiten, eiligen Änderungen und Außerkraftsetzung von Teilen des Wahlgesetzes durch das Verfassungsgericht im unmittelbaren Vorfeld der Wahlen problematisch. Juristische Streitigkeiten, eine Anfechtung des Ergebnisses und neue organisierte Protestaktionen gegen vermeintliche Wahlfälschungen sind im Falle eines knappen Ergebnisses in der zweiten Runde zu erwarten. Schon jetzt streiten sich Tymoschenko und Janukowytsch über die neue Regelung der Wahl an der sogenannten „Wanderurne“, für die nach aktuellem Stand Gesetzgebung keine Atteste oder medizinischen Nachweise mehr zu erbringen sind. Ein „Auffüllen“ dieser Wahlurnen ist zu befürchten, insbesondere in regionalen Hochburgen, in denen Administration, lokale Parlamente und Wahlkommittees weitgehend in der Hand nur einer Partei liegen. Die nationalen und internationalen Wahlbeobachter spielen damit vor allem im entscheidenden zweiten Wahlgang am 7. Februar eine sehr bedeutsame Rolle.
Die weitergehenden Überlegungen Tymoschenkos und Janukowytschs im Falle ihrer Wahl zum Präsidenten gleichen sich. Beide hoffen auf Überläufer aus anderen Fraktionen, die sich im Parlament um den neuen Präsidenten sammeln.
Vor dem Hintergrund der Fragmentierung der Parteienlandschaft und der vielen neuen Parteien, werden sowohl Janukowytsch als auch Tymoschenko im Falle ihrer Wahl zum Präsidenten sehr wahrscheinlich dem Parlament mit Auflösung drohen und die jetzigen Abgeordneten vor die Wahl stellen: Entweder gehen sie ein Bündnis mit dem neuen Präsidenten ein und formieren mit dessen Fraktion eine neue Mehrheitskoalition oder sie werden bei vorgezogenen Neuwahlen ihren Parlamentssitz und die damit verbundenen zahlreichen Privilegien verlieren. Sollten eine handlungsfähige Mehrheit und Regierung auf diese Weise nicht zustande kommen, wird der neue Präsident sehr wahrscheinlich das Parlament auflösen und die Kommunalwahlen am 30. Mai 2010 möglichst gleich mit vorgezogenen Neuwahlen der Werchowna Rada verbinden. Die jetzige winterliche Ruhe in den letzten Tagen vor den Wahlen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit durch erneute heftige politische Turbulenzen im Frühjahr abgelöst werden.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung Ukraine veröffentlichte zu den Präsidentschaftswahlen 2010 ein Wahlhandbuch mit umfassenden Informationen zur Wahlgesetzgebung sowie mit den Profilen und Programmen der Präsidentschaftskandidaten.