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Schein und Sein in Kiew

von Nico Lange

EU darf sich nicht abspeisen lassen

Brüssel muss in den Verhandlungen mit der ukrainischen Führung die negativen Tendenzen unter Janukowitsch ganz klar ansprechen.

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Der gestrige 22.November 2010 war ein bewegter Tag für die Ukraine. Präsident Viktor Janukowitsch bemühte sich auf dem jährlichen EU-Ukraine-Gipfel, seiner proeuropäischen Überzeugung Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig signifikante Fortschritte in den Diskussionen um politische Assoziierung und Freihandel sowie vor allem in Bezug auf die Liberalisierung des Visumregimes für die ukrainischen Bürger zu erreichen.

Während der ukrainische Präsident in Brüssel mit den Spitzen der EU-Institutionen zusammentraf, versammelten sich auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit zigtausende Demonstranten.

Kleine und mittelständische Unternehmer demonstrierten in den größten Massenprotesten seit Langem am sechsten Jahrestag des Beginns der Orangen Revolution gegen die neue Steuergesetzgebung, die ihnen viele Nachteile bringt und gleichzeitig in autoritärer Manier fast ohne Diskussionen und Einbeziehung der Betroffenen im Eilverfahren durchgedrückt werden soll. Sie brachten gleichzeitig auch ihren Unmut gegen den politischen Stil der vergangenen Monate und die politische Klasse des Landes insgesamt zum Ausdruck.

Wenige Tage vor dem Brüsseler Gipfeltreffen hatten auch Vertreter führender zivilgesellschaftlicher Organisationen der Ukraine in einem offenen Brief an europäische Institutionen auf Verletzungen demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien hingewiesen und die EU zur Verteidigung dieser Grundwerte aufgefordert.

Es geht um die Glaubwürdigkeit

Die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine stellen die EU in mehrfacher Hinsicht vor Dilemmata. Einerseits ist die wiedergewonnene politische Handlungsfähigkeit in Kiew nach Jahren der Blockade wichtig, in vielen technischen Punkten der Zusammenarbeit sind bereits praktische Fortschritte erkennbar. Andererseits weist die politische Unruhe in Kiew darauf hin, dass es sich bei der von der ukrainischen Führung seit Monaten gebetsmühlenartig zitierten „Stabilität“ um eine Illusion handeln könnte; vor allem sollten Verletzungen demokratischer Grundprinzipien und Einschränkungen der Pressefreiheit für die EU in keiner Weise akzeptiert werden.

Für die europäischen Institutionen steht die Glaubwürdigkeit in den Augen der proeuropäischen Mehrheit der ukrainischen Bürger und der Vertreter der Zivilgesellschaft auf dem Spiel.

Konkurrierende Modelle

Am konkreten Fall der Ukraine stellt sich außerdem sehr klar die Frage nach der Attraktivität des liberalen Entwicklungsmodells der EU. Die Ukraine scheint unter Präsident Janukowitsch den Weg einer autoritären Modernisierung eingeschlagen zu haben, der sich deutlich am russischen Nachbarn oder an Ländern wie Kasachstan oder Belarus orientiert. Die EU wird in Zukunft den für viele der Transformationsländer Mittel- und Osteuropas selbstverständlichen Weg der wirtschaftlichen Liberalisierung bei gleichzeitiger Entwicklung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit offenbar viel offensiver verteidigen müssen.

Dabei ist fraglich, ob das Modell aus politischer Assoziierung, vertiefter Freihandelszone und Dialog zur Abschaffung der Visa genügend Anreize zur Transformation der Ukraine im europäischen Sinne enthält, wenn auf absehbare Zeit eine EU-Mitgliedsperspektive nicht zur Diskussion steht. Gerade auf dem EU-Ukraine-Gipfel wurde erneut deutlich, dass die EU mit der Nachbarschaftspolitik und der Initiative der Östlichen Partnerschaft zwar wachsende Verantwortung für die gesamte Region übernommen hat, aber nur über sehr wenig Instrumente zur Beeinflussung der politischen Entwicklungen besitzt.

Vor allem mit Verhandlungen um das Assoziierungsabkommen und über visumfreien Reiseverkehr kann die EU auf die Ukraine einwirken. Es ist absolut richtig, dass die EU die Frage der Visumfreiheit für ukrainische Bürger nicht direkt an die Einhaltung der demokratischen Grundprinzipien knüpft. Die hohen Visumbarrieren für Ukrainer sind schon lange anachronistisch, und mit einer Aussetzung des Dialogs aufgrund kritischer Entwicklungen im Land würden die Falschen bestraft.

Der Beschluss des EU-Ukraine-Gipfels, Kiew einen klaren Fahrplan zur Visumfreiheit aufzuzeigen, ist zu begrüßen und gibt sowohl der EU als auch der ukrainischen Zivilgesellschaft ein wirksames Instrument in die Hand, um die proeuropäische Rhetorik der ukrainischen Führung an der Umsetzung der dort formulierten Bedingungen zu messen.

Über autoritäre Tendenzen reden

Folglich sollte die EU den Diskurs über die autoritären Tendenzen, freie und faire Wahlen, Medienfreiheit, die Aktionen des ukrainischen Geheimdienstes gegen Opposition und Zivilgesellschaft stärker in die Verhandlungen über Freihandelszone und Assoziierung, die bereits weit fortgeschritten sind, einbringen.

Eine wirtschaftliche Partnerschaft mit der EU in einer gemeinsamen Freihandelszone muss zwingend mit einer klar erkennbaren Wertepartnerschaft einhergehen. Bevor dieses neue Modell der Beziehungen dann beim EU-Ukraine-Gipfel in einem Jahr möglicherweise in Kraft tritt, sollte die EU auf der Überwachung der demokratischen Grundprinzipien und der Medienfreiheit bestehen und Kiew nicht mit Lippenbekenntnissen davonkommen lassen.

Mit freundlicher Genehmigung von "Die Presse".

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