Für Mitte April stand in Washington eigentlich die Frühjahrstagung des Internationale Währungsfonds (IWF) und der Weltbank auf dem Programm. Wegen der Corona-Krise musste die Großveranstaltung für Finanzminister, ranghohe Beamte und Vertreter von Banken und Zentralbanken aus aller Welt in diesem Jahr jedoch abgesagt werden. Nicht nur gilt seit Mitte März ein weitreichendes Einreiseverbot für USA; inzwischen hat die Bezirksregierung der US-Hauptstadt auch Versammlungen von zehn und mehr Personen verboten, bleiben alle für die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten nicht notwenigen Geschäfte geschlossen und wurde die Bevölkerung für die Zeit ab Anfang April angewiesen, zuhause zu bleiben. Selbst ohne die laufend verschärften Bestimmungen war an die übliche Präsenzveranstaltung mit mehreren tausend Teilnehmern wegen der damit verbunden Infektionsrisiken schon vor Wochen natürlich nicht mehr zu denken.
Trotzdem oder gerade wegen der Corona-Krise soll die Frühjahrstagung nun mit Videokonferenzen und Live-Übertragungen stattfinden. Denn auch ohne die Möglichkeit zum persönlichen Gespräch besteht unter den Vertretern der Mitgliedsstaaten beider Institutionen derzeit wohl so viel Beratungsbedarf wie selten zuvor in den letzten Jahrzehnten. Noch liegen zwar nicht alle Zahlen auf dem Tisch; wenn sich die Teilnehmer aus aller Welt Mitte April aber für das „virtuelle“ Format nach Washington zugeschaltet haben, dürften für die Entwicklung der Weltwirtschaft halbwegs verlässliche Aussagen möglich sein. Mit einer ersten düsteren Prognose trat Kristalina Georgieva, geschäftsführende Direktorin des IWF, bereits Ende März vor die Presse. Sie erwartet wegen der Corona-Krise für 2020 „eine Rezession, die mindestens so schlimm ist wie während der globalen Finanzkrise oder schlimmer“. Eine Erholung sei im nächsten Jahr möglich, "aber nur, wenn es uns gelingt, den Virus überall einzudämmen und zu verhindern, dass Liquiditätsprobleme zu einem Solvenzproblem werden".
Schuldenerlass für die Ärmsten
Der Spagat zwischen Eindämmung des Virus und Schutz der Liquidität ist die Crux der Lage: Jeder, der „auf der Straße“ nicht die Konjunktur ankurbelt, hilft der Weltwirtschaft absehbar mehr als jeder andere, der ins Büro geht oder Kunden trifft. Denn außerhalb der eigenen vier Wände droht Ansteckungsgefahr. „Stubenhocker“ sind plötzlich Lebensretter. Leisten kann sich die erzwungene Häuslichkeit natürlich nur, wer weiterhin Einkommen bezieht oder ausreichend Ersparnisse angehäuft hat, wer in einem formellen Beschäftigungsverhältnis steht, einen gewissen Kündigungsschutz genießt und seine Aufgaben per Internet am Computer erledigen kann. Wer selbst als Vermögender mit seinen Leistungen hingegen auf Laufkundschaft angewiesen ist, dürfte langsam nervös werden. Und wer dann noch krank wird, lernt den Wert einer soliden Versicherung, flächendeckender ärztlicher Versorgung und Lohnfortzahlung spätestens jetzt zu schätzen. Selbst in den westlichen Industrienationen stoßen die sozialen Sicherungssysteme aber bereits an ihre finanziellen Grenzen. Erst recht würden sich die von IWF-Chefin Georgieva befürchteten Solvenzprobleme auf viele ärmere Länder auswirken.
Gemessen am Bruttonationaleinkommen pro Kopf, gehören 76 Staaten zu dieser Risikogruppe. Unter dem Dach der Weltbank werden sie von der International Development Association (IDA) unterstützt und deshalb „IDA-Länder“ genannt. In einer gemeinsamen Stellungnahme haben Weltbank und IWF „mit sofortiger Wirkung“ alle bilateralen Gläubiger aufgefordert, „die Schuldenzahlungen von IDA-Ländern, die um Unterlassung bitten, auszusetzen“. Arme Länder, die nicht mehr zahlen können, sollen vorerst also auch nicht mehr zahlen müssen. Die Forderung gegenüber den Gläubigern soll dazu beitragen, „den unmittelbaren Liquiditätsbedarf der IDA-Länder zu decken, um die Herausforderungen des Coronavirus-Ausbruchs zu bewältigen, und Zeit für eine Bewertung der Auswirkungen der Krise und des Finanzierungsbedarfs für jedes Land zu gewinnen“. Bei der „virtuellen“ Frühjahrstagung Mitte April sollen die G20-Staaten die Weltbank und den IWF damit beauftragen, die Schuldensituation der betroffenen IDA-Länder vor dem Hintergrund der Corona-Krise zu analysieren und den Gläubigern Vorschläge für den Finanzierungs- und Entschuldungsbedarf zu liefern.
Das entschlossene gemeinsame Vorgehen von IWF und Weltbank ist keine Überraschung, denn die beiden in Washington ansässigen Institutionen sind „Geschwister“. Trotzdem haben sie unterschiedliche Aufgaben: Verkürzt gesagt, verwendet der IWF seine Finanzhilfen, um Währungen zu sichern und die Zahlungsfähigkeit von Staaten, auch von Industrieländern, zu gewährleisten. Das Ziel ist mithin Stabilität. Die Weltbank hingegen soll die Entwicklung ärmerer Länder und Investitionen in die dortige Infrastruktur fördern. Das Ziel ist also Wachstum und die Bekämpfung der Armut. Dass jetzt beide Stoßrichtungen bis ins Detail aufeinander abgestimmt sein wollen (Weltbank-Präsident David Malpass: „Kristalina und ich arbeiten zügig an der Ausgestaltung eines Konzepts für den Schuldenerlass.“), unterstreicht das beispiellose Ausmaß der Corona-Krise. Allein damit, dass die ärmsten und ärmeren Länder von der Begleichung ihrer Schulden befreit werden, ist es aber nicht getan.
Liquiditätsspritzen und Notfallhilfen
Der IWF geht davon aus, dass die Corona-Krise zu einem Drittel direkte Kosten verursachen wird. Dazu zählen der Verlust an Menschenleben und Arbeitsplätzen. Die restlichen zwei Drittel entfallen auf indirekte Kosten, darunter die Verknappung der Finanzmärkte und Einschränkungen im Konsumverhalten.
Zur Bewältigung dieser Verluste stellt der IWF rund 50 Milliarden US-Dollar an Notfallhilfen für einkommensschwache und Schwellenländer bereit. Davon stehen den ärmsten Staaten bis zu 10 Milliarden US-Dollar als zinslose Schnellkredite zur Verfügung. Darüber hinaus können die besonders betroffenen Staaten Zuschüsse beantragen. Dafür werden Mittel aus dem Catastrophe Containment and Relief Trust (CCRT) bereitgestellt. Das Geld aus dem CCRT kam schon 2014 beim Ebola-Ausbruch zum Einsatz. Der IWF hat seine Mitgliedsländer mit Blick auf das Ausmaß der Corona-Krise bereits aufgefordert, den Topf von derzeit 200 Millionen auf wenigstens eine Milliarde US-Dollar aufzustocken.
In der Summe hat der IWF nach eigener Aussage eine Kreditkapazität von derzeit einer Billion US-Dollar. Die Gesamtressourcen betragen etwa 1,3 Billionen US-Dollar. Diese gigantischen Beträge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die verfügbaren Mittel des IWF seit 2016 nicht mehr aufgestockt wurden. Das kann sich angesichts der noch keineswegs absehbaren Belastungen durch die Corona-Krise jetzt rächen. Davon abgesehen, hängt der Gesamtumfang der verfügbaren Mittel davon ab, ob die wohlhabenderen Gläubiger die im Januar bestätigte Verdoppelung ihrer Neuen Kreditvereinbarungen mit dem IWF rechtzeitig umsetzen.
IWF-Mitglieder unter Handlungsdruck
Diese Neuen Kreditvereinbarungen („New Arrangements to Borrow“, NAB) sind neben den Quotenzahlungen (etwa 661 Milliarden US-Dollar) und den bilateralen Krediten (circa 440 Milliarden US-Dollar) die dritte Finanzierungsquelle des IWF. Ab Beginn des nächsten Jahres sollen die NAB von derzeit 253 Milliarden auf dann 504 Milliarden US-Dollar ansteigen. Die neue NAB-Periode gilt für die Zeit von 2021 bis 2025. Insgesamt werden die NAB von 38 Staaten und Zentralbanken, darunter die Deutsche Bundesbank, geschultert.
Damit die zusätzlichen Mittel fließen können, müssen für die Aufstockung in den NAB-Staaten die erforderlichen Genehmigungen und gesetzlichen Bestimmungen vorliegen. Mit dem vom Kongress Ende März im Eilverfahren verabschiedeten „Coronavirus Aid, Relief and Economic Security (CARES) Act“ sind die USA aus Sicht der IWF-Chefin dabei ein Vorreiter. „Es ist sehr ermutigend, dass die Genehmigung des NAP Teil des US-Konjunkturpakets ist“, so Georgieva. Das sei „eine starke Botschaft an die internationale Gemeinschaft“. Georgieva rief andere NAB-Teilnehmer, die ihre internen Verfahren noch nicht abgeschlossen haben, auf, „dem Beispiel zu folgen“. Nur wenn alle rechtzeitig mitziehen, wird der IWF seine volle Kreditvergabekapazität von einer Billion US-Dollar in der Krise und darüber hinaus aufrechterhalten können. Voraussetzung dafür ist ebenfalls, dass die bilateralen Kreditvereinbarungen zwischen wohlhabenderen und bedürftigen Mitgliedsländern wenigstens im bisherigen Umfang bestehen bleiben. Dafür hat das Exekutivdirektorium des IWF Ende März einen neuen Rahmen für die Jahre 2021 bis 2023 gesetzt.
Eindämmen und Abfedern
Die Weltbank hat bereits Anfang März einen ersten Krisentopf über sechs Milliarden US-Dollar eingerichtet. Das Geld soll die Gesundheitssysteme in den Entwicklungsländern dabei unterstützen, die weitere Ausbreitung von Corona/COVID-19 zu verlangsamen und die Folgen der Pandemie zu bewältigen. Weitere acht Milliarden US-Dollar an Finanzierungshilfen sollen darüber hinaus von der International Finance Corporation (IFC) eingesetzt werden. Ebenso wie die International Development Association (IDA) gehört auch die IFC zur Weltbank-Gruppe. Letztere soll den besonders anfälligen Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen in Entwicklungsländern „eine Lebensader bieten“. Die Unterstützungsmaßnahmen sind nach den Worten von Weltbank-Präsident Malpass „bereits angelaufen, und die (…) erweiterten Finanzierungsinstrumente werden dazu beitragen, Volkswirtschaften, Unternehmen und Arbeitsplätze zu erhalten“.
Der größte Teil der IFC-Mittel soll an Finanzinstitute überwiesen werden. Das Kapital soll sicherstellen, dass die Banken zur Finanzierung der Unternehmen liquide bleiben. Den von der Pandemie besonders betroffenen Wirtschaftssektoren, darunter Handel und Tourismus, soll damit ermöglicht werden, „ihre Rechnungen weiterhin zu bezahlen“. Die Gesundheitssysteme der betroffenen Länder sollen von den acht Milliarden US-Dollar der IFC insofern profitieren, als damit auch medizinische Dienstleistungen sowie die Bereitstellung von Ausrüstung und Arzneimitteln unterstützt werden. "Diese Pandemie kostet nicht nur Menschenleben, sondern ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Lebensstandard werden wahrscheinlich die gesundheitliche Notstandsphase überdauern“, erwartet der IFC-Geschäftsführer Philippe Le Houérou. Sein Ziel ist, „dass unsere Kunden ihre Geschäfte in dieser Zeit aufrechterhalten". Dies werde gefährdeten Gruppen helfen, „ihre Existenzgrundlage schneller wieder zu erlangen und weiterhin in die Zukunft zu investieren“. Dafür sieht Houérou vier Handlungsfelder:
Zwei Milliarden US-Dollar an Krisenreaktionsmitteln sind für den Realsektor bestimmt. Damit sollen bestehende IFC-Kunden in den Bereichen Infrastruktur, Fertigung, Landwirtschaft und Dienstleistungen mit Darlehen unterstützt werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit von Kapitalbeteiligungen.
Weitere zwei Milliarden US-Dollar sind Teil des bestehenden Global Trade Finance Program. Damit deckt die IFC Zahlungsrisiken der Finanzinstitutionen ab. Kleinere und mittlere Im- und Exportunternehmen, die als Teil der globalen Lieferketten auf die Handelsfinanzierung durch Banken angewiesen sind, sollen auf diese Weise liquide bleiben.
Zusätzlich stehen zwei Milliarden US-Dollar aus dem Programm Working Capital Solutions zur Verfügung. Damit werden Banken in Schwellenländern bei der Kreditvergabe an Privatunternehmen unterstützt. Das Geld soll betroffenen Firmen trotz Umsatzeinbußen den nötigen finanziellen Spielraum verschaffen, um weiterhin Betriebs- und Lohnkosten begleichen zu können.
Erst Mitte März wurden dann weitere zwei Milliarden US-Dollar aus dem Global Trade Liquidity Program und dem Critical Commodities Finance Program bewilligt. Die Mittel sollen die Risiken für lokale Banken mindern und sind ebenfalls für Unternehmen in Schwellenländern bestimmt.
Für die International Finance Corporation sind solche kurzfristig aufgelegten und vergleichsweise unbürokratischen Krisenreaktionspakete kein Neuland. Wichtige Erfahrungen hat das Weltbank-Unternehmen mit vergleichbaren Finanzierungsprogrammen bereits 2008/2009 während der globalen Finanzkrise und ab 2014 dann im Kampf gegen die Ebola-Virusepidemie in Westafrika gesammelt. Sowohl die Weltbank als auch der IWF bauen überdies darauf, dass die weltweiten Finanzsysteme inzwischen widerstandsfähiger sind als in der Zeit vor der Finanzkrise.
Trotzdem besteht natürlich kein Grund zur Entwarnung. Nicht nur hat die Corona-Krise in Europa, den USA und den ärmeren Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht, sondern muss ja auch China erst wieder Fahrt aufnehmen, seine Produktion und den Binnenkonsum ankurbeln und als weltweiter Lieferant und Abnehmer die Im- und Exporte steigern. Für viele ärmere Länder ist die Volksrepublik immerhin der wichtigste Handelspartner. Für China sind wiederum die USA und Europa die absatzstärksten Märkte. Dort bricht die Konjunktur jetzt zeitverzögert ebenfalls ein. „Unsere größte Herausforderung“, muss IWF-Chefin Georgieva einräumen, „ist im Moment der Umgang mit der Unsicherheit.“
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