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Demokratieprinzip und Europäisierung

Ein verfassungsrechtliches Spannungsverhältnis

„I cannot hear Karlsruhe anymore!“ heißt es aus IWF-Kreisen, „Germany vs. Europa“ titelt eine europäische Presse, die es noch gut mit Deutschland meint. Wie kommt es, dass Deutschland teilweise nicht mehr als Motor der Vereinigung Europas gesehen wird? Und welche Rolle spielt das im Grundgesetz verankerte „Demokratieprinzip“ für die europäische Integration? Prof. Russel Miller beleuchtete im Rahmen einer vom American Institute for Contemporary German Studies organisierten Vortrags- und Diskussionsveranstaltung die verfassungsrechtliche Problematik der europäischen Integration.

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Am Donnerstag, den 11.04.2013, veranstaltete das American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zum Thema „The Constitutional Framework for German Democracy“. Als Mitausrichter dieses Events stellte das Goethe-Institut seine Räumlichkeiten in Chinatown zur Verfügung. Nach der Begrüßung durch Institutsleiter Wilfried Eckstein ergriff Moderator Dr. Jackson James, Präsident des AICGS, das Wort und begann mit der Vorstellung des Referenten Prof. Dr. Russel Miller.

Miller ist Juraprofessor an der Washington and Lee University School of Law und Mitautor des US-amerikanischen Standardlehrbuchs für deutsches Verfassungsrecht „The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany“. Anlässlich der Herausgabe einer Neuauflage des Werkes folgte Prof. Russel Miller der Einladung des AICGS und hielt einen 45-minütigen Vortrag zu einem zentralen Aspekt seines Buches – „die verfassungsrechtliche Problematik der europäischen Integration“. Anschließend gab es für dieselbe Dauer Gelegenheit zur Diskussion, von der die knapp 30 Veranstaltungsteilnehmer rege Gebrauch machten.

Germany vs. Europe

Unter diesem streitbaren Titel eröffnete Miller seine Präsentation. Nicht ohne in aller Deutlichkeit herauszustellen, dass Deutschland als ein Motor der europäischen Integration angesehen werden müsse, deutete Miller an, dass es im europäischen und transatlantischen Ausland in letzter Zeit auch eine andere Wahrnehmung Deutschlands gebe. So stießen insbesondere die jüngsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Europäischen Integration, namentlich die EFSM- (2011) und ESM-Entscheidung (2012), international bisweilen auf Unverständnis, etwa wenn sich IWF-Präsidentin Christine Lagarde am Rande von Sitzungen mehr als einmal mit den Worten „I cannot hear Karlsruhe anymore“ geäußert haben soll.

Miller weist jedoch darauf hin, dass sich diese jüngste „Ja, aber…“-Rechtssprechung des Bundeserfassungsgerichts, die im Übrigen an die vorangegangene Rechtssprechung „Solange I“, „Solange II“ und das „Lissabonurteil“ nahtlos anknüpfe, mit den Besonderheiten des deutschen Verfassungsrechts erklären lasse.

So erzeugten Art. 23 GG sowie die Präambel mit ihrem Bekenntnis zu einem vereinigten Europa einerseits und das in Art. 20 Abs. 1 GG festgeschriebene Demokratieprinzip, über das der Parlamentsgesetzgerber wegen der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG nicht disponieren kann, ein verfassungsrechtliches Spannungsverhältnis. Weil dieses schon im Grundgesetz angelegt sei, könne dies schlechthin nur zu einer derartigen „Ja, aber“-Rechtssprechung führen, wie sie das BVerfG derzeit vornehme.

Das Demokratieprinzip

Bevor Miller im weiteren Verlauf des Vortrags und der Diskussion noch einmal auf das Spannungsverhältnis zurückkommen sollte, erläuterte er zuvor in bester Tradition deutscher Rechtsgelehrter den Inhalt des in Art. 20 Abs. 1 GG verbürgten Demokratieprinzips, welches Wahlen und Abstimmungen sowie Regelungen zum Minderheitenschutz, zur Oppositionsfreiheit und zur Parteienfinanzierung vorsieht. Als Ausfluss der „Wehrhaften Demokratie“ („militant democracy“) nannte Miller schließlich die 5 % - Sperrklausel zur Gewährleistung eines funktions- und gestaltungsfähigen Parlaments sowie das Parteiprivileg bzw. als dessen Kehrseite die Möglichkeit des BVerfG, Parteien zu verbieten, die die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung zu beseitigen suchen.

Institutionell werde das Demokratieprinzip insbesondere durch den Bundestag umgesetzt, der in allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen und unabhängigen Wahlen gewählt wird und dasjenige Verfassungsorgan mit der höchsten demokratischen Legitimation darstelle.

Konflikt mit Europa

Miller bemerkte, dass mit einer wachsenden Europäisierung zwangsläufig eine fortschreitende Erodierung des Demokratieprinzips einhergehe. So sei zu bedenken, dass inzwischen ein großer Teil der deutschen Gesetzgebung entweder europarechtliche Vorgaben umsetze (Richtlinien, vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV) oder als sogar unmittelbar geltendes aus Brüssel stammendes Recht gelte (Verordnungen, vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV).

Die Schaffung einer Transferunion, wie sie zum Teil international gefordert werde, würde das zentrale und klassische, für das Demokratieprinzip geradezu heilige Budgetrecht des Bundestages extrem aufweichen bzw. nach Brüssel auslagern. Dies sei verfassungsrechtlich schlicht nicht möglich. Selbst wenn es ein europäisches Parlament gäbe, das dem Bundestag entspräche, sei dem Demokratieprinzip im Sinne des Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu Genüge entsprochen, konstatierte Miller.

In diesem Sinne habe das BVerfG seine Urteile in jüngerer Vergangenheit gesprochen und so werde es sie auch in Zukunft sprechen, erwartet Miller. Zwar machte er deutlich, dass er im Karlsruher Gericht eine verantwortungsbewusste und weltweit geachtete Institution sieht, deren Urteile die Rechtssprechung der Verfassungsgerichte anderer Lände zum Teil erheblich beeinflusse. Jedoch schloss er sich, wenn auch ganz vorsichtig und zurückhaltend dem Vorwurf an, dass das Gericht wenn auch nicht „antieuropäisch“, zumindest teilweise „europakritisch“ sei. Dies läge aber keineswegs daran, dass das Gericht von europaskeptischen Richtern besetzt sei, sondern, dass es sich schlicht „verfassungstreu“ in seiner Rechtsprechung verhalte.

Die lebhaft geführte Anschlussdiskussion zwischen Referenten und deutschen wie amerikanischen Gästen ließ einmal mehr eines erkennen: Ein Verständnis der europäischen Machtstrukturen sowie der nationalen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist Voraussetzung dafür, den Umgang mit der Eurokrise und eine vermeintliche Stagnation der Europäischen Integration zu erklären. Wer, wie ein Disputant vorgetragen, die EU als die „Vereinigten Staaten von Europa“ versteht, und nicht, was juristisch zutreffend ist, einen „Staatenverbund sui generis“ in ihr erblickt, hält Deutschland und das BVerfG für eine „Europabremse“. Die Grenzen politischer Machbarkeit hängen also nicht nur vom Handlungswillen der führenden Politiker ab, sondern liegen in den nationalen verfassungsrechtlichen Vorgaben begründet. Wie das nun mehrfach erläuterte Spannungsverhältnis gelöst werden kann, bleibt nach Millers Prognose eine Frage, mit der sich Verfassungsrechtler in den nächsten Jahren eifrig zu beschäftigen haben.

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Paul Linnarz

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Leiter des Auslandsbüros in Washington, D.C.

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