Aussitzen? Aussitzen! - International Reports
Country Reports
Unregelmäßigkeiten bei der Wahlkampffinanzierung und in den Staatsbetrieben befeuern den Eindruck der Korruption an der Staatsspitze. Doch der zweite Mann im Staat tritt nicht etwa zurück, als der Skandal publik wird, sondern beteuert vor der Presse seine Unschuld.
Der Politiker ist freilich keine fiktive Hollywoodfigur, sondern Raúl Sendic aus Uruguay, aber zu dünn für eine Serie über die Verfehlungen des Vizepräsidenten der sozialistischen Regierung am Río de la Plata wäre der Stoff keineswegs. Sendic, Sohn des früheren Guerillachefs und Politikers Raúl Sendic Antonaccio, hat noch mehr zu bieten als eine reichlich belastete Kreditkarte, die ihm nicht gehörte: unter anderem einen erfundenen akademischen Titel und eine zweifelhafte Wahlkampffinanzierung.
Der erfundene Universitätstitel
Aber von vorn: Im Februar 2016 enthüllen Journalisten, dass Sendic (Jahrgang 1962) seinen medizinischen Universitätsabschluss erfunden habe. Dazu muss man wissen, dass im südamerikanischen Sprachgebrauch der Titel „Absolvent“ (licenciado) vor den Namen gesetzt wird. Sendic nannte sich jahrelang „Absolvent der Humangenetik“, allerdings hat die Sache zwei Haken: Zum einen existiert der Studiengang an der Universität von Havanna (Kuba), an der Sendic Mitte der achtziger Jahre war, bis heute nicht. Es handelte sich vielmehr um einen sogenannten Vertiefungskurs. Zum anderen ist der Titel in Uruguay formal ohnehin nicht anerkannt. Sendic bestreitet zunächst die Vorwürfe und übergibt der Zeitung El País sogar ein Dokument, das seine Immatrikulation an der medizinischen Fakultät der Universität von Havanna belegt. Am 30. März 2016 verfügt das Büro des Vizepräsidenten, dass der Chef weiterhin mit seinem Titel angesprochen werden müsse. Nicht einmal im September, bei einem Gerichtstermin wegen widerrechtlicher Aneignung eines akademischen Titels, kann er Nachweise über einen Hochschulabschluss präsentieren. Auch auf offiziellen Dokumenten hat er sich stets als studierter Humangenetiker ausgegeben. Auf der Internetseite der politischen Liste 711, deren Anführer Sendic ist, wurde der kubanische Abschluss sogar weiter ausgeschmückt: Sendic habe ihn „mit Goldmedaille“ gemacht.
Was kann man Sendic vorwerfen? Nach Auffassung der Richter des Landes nicht viel, da der Titel oder das Wissen nicht die aktuellen Tätigkeiten beeinflussten und der heutige Vizepräsident auch nie als Genetiker gearbeitet habe. Er selbst sagt mittlerweile, es sei „ein Fehler gewesen, sich einen Titel anheften zu lassen und nicht aktiv dagegen vorzugehen“. Gelegenheiten hätte es über die Jahre reichlich gegeben, das Missverständnis aufzuklären – auch das werfen viele Uruguayer Sendic vor. Doch der Politiker hat sich eben nicht nur nicht gegen die Ansprache mit falschem Titel gewehrt, er hat ihn auch gerne stolz vor sich hergetragen, wie etwa Gesprächsprotokolle aus dem Jahr 2002 beweisen, als Sendic bei einer Parlamentssitzung das Wort ergriff und sagte: „Ich bin Absolvent in Humangenetik.“
Die Firmenkreditkarte von Ancap
Der zweite Teil der Geschichte beginnt mit der Firmenkreditkarte der staatlichen Erdölfirma Ancap. Von 2010 bis 2013 gab der damalige Vorstandschef Sendic insgesamt 38.325 Dollar aus. Die Ancap-Kreditkarte setzte er gern in Duty-Free Shops, H&M, Apple, Adidas oder Juwelierläden ein, wie im Juni 2016 bekannt wurde. Sendic bekräftigt zwar immer wieder, dass es sich durchweg um Ausgaben in Verbindung mit seiner Funktion gehandelt habe. Doch wie sich diese Einkäufe – meist auf Auslandsreisen – erklären lassen, bleibt offen. Nun soll die Ethikkommission der Regierung ermitteln, was an den Vorwürfen dran ist, er habe private Ausgaben über die Firma abgerechnet.
Uruguays Medien gehen mit der politischen Klasse des Landes normalerweise recht behutsam um. Das Land ist klein, niemand will es sich mit einem anderen verscherzen, jeder kenne hier doch jeden, heißt es oft. Doch am Fall Sendic scheinen die Journalisten Gefallen gefunden zu haben (und dieser beklagt eine Kampagne). Ein Gipfel öffentlichen Kopfschüttelns war die Reaktion des Staatspräsidenten Tabaré Vázquez, der – anstatt sich um Distanz und den Ruf seiner Regierung zu sorgen – den Medien erklärte, erst seit dem Fall Sendic wisse er, was wahres Mobbing bedeute. Ende Juni veröffentlichten die beiden Journalistinnen Patricia Madrid, El Observador, und Viviana Ruggiero, Radiosender Carve, das Buch „Sendic, die Karriere des verschwenderischen Sohnes“ , in dem sie unter anderem über eine zweifelhafte Wahlkampffinanzierung berichten.
Zweifelhafte Wahlkampffinanzierung
In Uruguay besagt das Gesetz, dass Parteien kein Geld von ausländischen Regierungen, Unternehmen oder Stiftungen erhalten dürfen. Ein paraguayischer Unternehmer soll der Liste 711, Sendic politischer Heimat, im Wahlkampfjahr 2014 insgesamt 67.000 Dollar gespendet haben. Steuerlich geltend gemacht worden sei jedoch nur die zweite Überweisung von 37.000 Dollar. Die Aktiengesellschaft in Montevideo, die die Zahlung getätigt habe, sei mit einer falschen Adresse eingetragen worden. Deren Vorsitzende wolle mit niemandem über den Verdacht sprechen, da dies Probleme hervorrufen könnte.
Die Tochtergesellschaft Alur
Das Buch berichtet weiter von obskuren Investitionen der staatlichen Unternehmen des Landes. So kaufte Alur, eine Tochtergesellschaft von Ancap, unter der Führung von Sendic im Jahr 2012 ein Flugzeug für Firmenzwecke. Zudem gibt Ancap 360.000 Dollar für die Einweihungsfeier einer Schwefelanlage aus. Dies sorgt auch deshalb für Unmut, weil der Diesel in Uruguay so teuer ist wie nirgendwo sonst auf dem Kontinent, was sich deutlich auf die Wettbewerbsfähigkeit des Landes auswirkt, von den Heizkosten gar nicht zu reden.
Uruguay und Korruption
Und Sendic? Bewiesen ist bislang nur, dass sein Universitätsabschluss nicht existiert. Der Rest sind journalistische Enthüllungen, gut belegt, aber nicht gerichtsfest. Allerdings fällt eben auch auf, dass der Mann, der seit vielen Jahren in Führungsämtern politische Verantwortung trägt, oft mit möglichen Korruptionsskandalen in Verbindung gebracht wird. Und er bestreitet nicht nur Vorwürfe, die es gegen ihn gibt, sondern spricht auch gern großspurig alle ringsum frei. „In der Regierung gibt es keinerlei Elemente von Korruption.“
Dass Uruguay kein Problem mit Korruption hat, sieht der Präsident der Ethikkommission, Ricardo Gil Iribarne, differenzierter. „Ich glaube nicht, dass es uns gut geht, es geht uns lediglich besser als manch anderem in der Region.“ Aber es gebe keine einheitlichen Mechanismen zur Korruptionsbekämpfung, sondern nur viele kleine, nicht aufeinander abgestimmte. Und die, die trotz politischer Verantwortung nicht korrekt handelten, glauben, dass Vergehen nicht bestraft werden.
Augenblicklich steht auch zur Debatte, einen Artikel des Strafgesetzbuches zum Amtsmissbrauch abzuschaffen. Die Regierung begründet ihr Vorhaben damit, dass der Wortlaut zu allgemein gefasst sei und willkürlich ausgelegt werden könne. Jedoch befürchten viele Abgeordnete der Opposition, dass es eher darum gehe, Kollegen zu schützen. Der Senat hat bereits für die Abschaffung gestimmt. Nun ist das Repräsentantenhaus an der Reihe, wobei die Regierungskoalition Frente Amplio dort vorübergehend keine Mehrheit mehr besitzt.
Laut einer Studie von Transparency International ist Uruguay nach Chile das am wenigsten korrupte Land Lateinamerikas. Und tatsächlich gibt es im Alltag kaum noch die anderswo nach wie vor handelsüblichen Zuwendungen, etwa um Verkehrspolizisten oder Beamte in Behörden freundlicher zu stimmen. Gleichwohl neigen auch die Regierenden in Uruguay nach gutem lateinamerikanischem Brauch dazu, sich nicht als vorübergehende Bedienstete des Staates zu sehen, sondern als dessen Eigentümer. Tatsächlich aber gab es seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1985 keine Regierung, von der nicht wenigstens ein paar Vertreter hinter Gitter landeten.
Sendics Rücktritt wahrscheinlich
Am 31. Juli schließlich trat Javier Miranda, Präsident des linken Vielparteienbündnisses Frente Amplio, sichtlich nervös vor die von Journalisten umlagerte Parteizentrale und gab ein dünnes Statement ab: Er habe den abgeschlossenen Bericht der internen Ethikkommission des Frente Amplio erhalten und sicher im Safe der Parteizentrale verwahrt. Sonst drang nichts aus der Besprechung mit Parteikollegen nach außen. Am selben Tag hätten sich zudem Miranda, Sendic und Präsident Vázquez getroffen, um den Bericht zu studieren und eine gemeinsame Linie gegenüber der eigenen Partei festzulegen.
Unterdessen berichten Beobachter von vielen Besprechungen hinter geschlossenen Türen, in denen alle Akteure nach einem gesichtswahrenden Ausweg aus der „Schach-Situation“ suchen. Vázquez‘ fordert seinen Vize nicht zum Rücktritt auf, ganz so als wolle er auf keinen Fall der erste Präsident in der Geschichte Uruguays sein, der seinen Vize absetzt. Das solle Sendic schon selbst machen. Doch der Vizepräsident zeigt sich kampfeslustig und will sein Amt verteidigen. Sendic, der lange als natürlicher Thronfolger innerhalb des Frente Amplio gegolten hatte, hat seinen Nimbus als Hoffnungsträger des mittlerweile stark ergrauten socialismo uruguayo verloren. Ex-Präsident José Mujica will nichts von einem Rücktritt seines politischen Ziehsohnes Sendic wissen. Er selbst ist mittlerweile 82 Jahre alt (und grübelt, ob er 2019 noch einmal als Präsident kandidiert). Dessen Vorgänger und Nachfolger Tabaré Vázquez darf vorerst nicht wieder antreten, wird zum Ende seiner Amtszeit aber ebenfalls 81 Jahre alt sein. Und es sind vor allem diese beiden Männer, die Sendic Schutz geben.
Sendic profitiert freilich auch von einer Besonderheit Uruguays: der legendären Gemütlichkeit seiner dreieinhalb Millionen Einwohner, die stets eine gewisse Trägheit mit sich bringt. Kopfschütteln gilt schon fast als Protest, und den Politikern lässt man weit mehr durchgehen, als dies die Nachbarn in Argentinien und Brasilien tun. Auch deshalb lässt sich in dem kleinen Land am Rio de la Plata vieles aussitzen.
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