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Country Reports

Zerstörte Hoffnungen

by Michael Mertes

Die Entführung der drei Jeschiwa-Studenten und ihre Folgen

Die Entführung der drei israelischen Jeschiva-Studenten Gilad Shaer (16), Eyal Yifrah (19) und Naftali Frankel (16) in der Umgebung von Gusch Etzion am Donnerstag, den 12. Juni 2014 bestimmt seit vergangenem Freitag die Topmeldungen und Schlagzeilen der israelischen Medien. Bei den Kommentaren stehen an oberster Stelle die Sorge um das Schicksal der jungen Männer und die Anteilnahme am Kummer ihrer Familien. Nach den ersten Schockreaktionen wird jetzt zunehmend analysiert, welche politischen Ursachen und Folgen die Entführung hat.

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Inzwischen gilt als ausgemacht, dass die Hamas verantwortlich für dieses Verbrechen ist. In einem Hintergrundbericht zitiert die Jerusalem Post vom 18. Juni einen ungenannten Beamten, dem zufolge die israelische Regierung sich bis Sonntag (15. Juni) Zeit ließ, bevor sie die Hamas öffentlich verantwortlich machte. „Wir warteten, bis wir hundertprozentig sicher waren – und es wird noch jedem klar werden, dass die Hamas dahinter steckt.“ Entsprechende Geheimdienstinformationen seien bereits an mehrere Regierungen vertraulich übermittelt worden.

Fest steht mittlerweile auch, dass die Entführungen von langer Hand und mit hochprofessionell anmutender Genauigkeit vorbereitet wurden – anders ist nicht zu erklären, weshalb israelische und palästinensische Sicherheitskräfte auch eine Woche nach der Entführung noch keine Spur von Tätern und Opfern haben. Damit ist der These, es habe sich um einen spontanen, aus Frustration begangenen Akt aus der Mitte der palästinensischen Bevölkerung gehandelt, der Boden entzogen.

Kritische Fragen an den Inlandsgeheimdienst

Manche Kommentatoren fragen allerdings, wie es kommen konnte, dass dem legendären Inlandsgeheimdienst Schin Bet die Tatvorbereitungen entgangen sind: „Was bleibt von den üblichen Slogans, Israel sei in Judäa und Samaria ‚geheimdienstlich überlegen’? Als Gilad Shalit nach Gaza entführt wurde und Israel es nicht schaffte, seinen genauen Verbleib auszumachen, sagten Vertreter des Verteidigungs-Establishments, dass im Westjordanland so etwas nie passieren könne, weil Israels technologische Mittel und nachrichtendienstlichen Fähigkeiten eine solche Situation dort ausschlössen. Jetzt ist der Moment gekommen, wo diese ‚Überlegenheit’ sich beweisen kann.“

Der ehemalige Schin-Bet-Direktor Yuval Diskin kritisiert, dass Ministerpräsident Netanjahu während der israelisch-palästinensischen Verhandlungen 2013/14 eher bereit gewesen sei, palästinensische Terroristen aus der Haft zu entlassen, als ein Siedlungsmoratorium einzulegen. Diese Politik habe den Tätern signalisiert, dass sich aus Entführungen israelischer Staatsbürger politisches Kapital in Form von Erpressungspotenzialen schlagen lasse.

Israelischer Feldzug gegen die Hamas im Westjordanland

Für die israelische Regierung sind die Ent-führungen Anlass, auch zivile Hamas-Strukturen im Westjordanland systematisch zu zerstören. Vertreter der Israelischen Streitkräfte (IDF) sagen ganz offen, dass dieser Feldzug bewusst nicht zwischen bewaffneten Hamas-Mitgliedern und politisch-religiösen Hamas-Untergliederungen differenziere. Kommentatoren vergleichen das Vorgehen der IDF mit dem Feldzug des ägyptischen Präsident Abdel Fattah al-Sisi gegen die Moslem-Brüder – ein Vergleich, der auch deshalb nicht abwegig ist, weil die Hamas der palästinensische Zweig der Moslem-Bruderschaft ist.

Das israelische Verteidigungs-Establishment betrachtet die sunnitische Hamas – ähnlich wie die schiitische Hisbollah – als „hybride Terrororganisation“. Solche Organisationen setzen sich aus drei Abteilungen zusammen – einer religiös-sozialen, einer politischen und einer militärischen. Diese Abteilungen mögen nach außen hin getrennt auftreten, aber vereint verfolgen sie dasselbe destruktive Ziel. Das religiös-soziale Engagement der Hamas im Rahmen der so genannten Daʿwa gilt als besonders wirksame Methode, sich in der palästinensischen Gesellschaft einzunisten und auf dieser Basis neue Kämpfer zu rekrutieren.

Es kann durchaus sein, dass die Hamas die israelischen Reaktionen unterschätzt hat und am Ende dauerhaft geschwächt dasteht. Lange Zeit hatte sich die israelische Regierung vergebens bemüht, die Weltöffentlichkeit, vor allem ihre amerikanischen und europäischen Verbündeten, von der Illegitimität der von Fatah und Hamas getragenen palästinensischen Einheitsregierung zu überzeugen; Schlagzeilen wie „International community welcomes Palestinian unity government“ dokumentierten den Misserfolg dieser diplomatischen Offensive. „Tief beunruhigt“ äußerte sich Ministerpräsident Netanjahu Anfang Juni über die Entscheidung der Obama-Administration, die neue Regierung in Ramallah anzuerkennen.

Die Entführungen könnten nun zu Folge haben, dass in den westlichen Hauptstädten ein Umdenken einsetzt – nicht zuletzt deshalb, weil der westlichen Öffentlichkeit durch den gegenwärtigen Vormarsch der irakisch-syrischen Terrorgruppe ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) im Irak vor Augen geführt wird, welche Bedrohungen von sunnitischen Extremisten nach wie vor ausgehen.

Eine „Lose-lose-Situation“ für alle Seiten

Die Schwächung der Hamas bedeutet nicht – wie in der Vergangenheit – automatisch eine Stärkung der Position von Palästinenserpräsident Abbas, weder international noch bei den eigenen Landsleuten. Was die Weltöffentlichkeit vor Kurzem noch als eine große politische Leistung begrüßte – die Bildung einer palästinensischen Einheitsregierung –, erweist sich nunmehr als große Fehleinschätzung der Hamas durch Abbas und die Fatah.

Die scharfen persönlichen Angriffe Netanjahus auf Abbas unmittelbar nach Bekanntwerden der Entführungen bringen dem Palästinenserpräsidenten und seinen politischen Freunden daheim keine Sympathiepunkte ein, weil die Suche nach den Entführten deutlich macht, wie intensiv die Sicherheitskoordination zwischen Polizei und Geheimdiensten auf israelischer und palästinensischer Seite in Wahrheit ist. Diese Zusammenarbeit funktionierte von Anfang an, obwohl Abbas relativ spät – dann allerdings eindeutig – die Entführungen verurteilte.

Ebenso wenig bedeutet die Schwächung der Hamas automatisch einen politischen Geländegewinn für die Regierung Netanjahu. Sie wird die Weltöffentlichkeit nicht davon überzeugen können, dass eine Fortsetzung der Siedlungsaktivitäten im Westjordanland der Abwehr von Terror dient. So verständlich Israels allergische Reaktion auf die Bildung einer palästinensischen Einheitsregierung auch gewesen sein mag – diese Konstellation hätte zumindest den Vorteil geboten, dass in die Verhandlungen über die Entwaffnung eines künftigen Palästinenserstaates auch die Hamas einbezogen gewesen wäre. Sie wäre dadurch gezwungen gewesen, Farbe zu bekennen.

Die palästinensische Seite befindet sich schon seit Langem in einer Zwickmühle: Die israelische Regierung konnte Abbas stets vorhalten, er sei „kein Partner für den Frieden“, weil ihm ohne Hamas die Abschlussvollmacht für sämtliche Palästinenser fehle. Sobald er jedoch die Hamas politisch mit ins Boot nahm, wurde ihm vorgeworfen, er arbeite mit einer Terrororganisation zusammen, die Israel von der Landkarte tilgen wolle. Die internationale Anerkennung der neuen Einheitsregierung hatte den Palästinensern die Chance geboten, aus diesem Teufelskreis auszubrechen; diese Chance ist auf unabsehbare Zeit vertan.

Frieden in weiter Ferne

Damit ist auch die – zugegebenermaßen schwache – Hoffnung auf Frieden vorerst zunichte gemacht. Die Entführungen haben auf beiden Seiten ein schockierendes Maß an Hass zum Vorschein gebracht. Eine israelische Facebook-Seite forderte bereits am Tag nach der Entführung, dass nunmehr jede Stunde ein in Haft sitzender palästinensischer Terrorist exekutiert werden solle, bis die drei Jeschiwa-Schüler wieder auf freiem Fuß seien. Auf palästinensischer Seite begrüßt die Aktion „Drei Shalits“ die Entführung als einen legitimen Akt des Widerstandes; das hämische Symbol dieser Aktion ist eine Art Victory-Zeichen mit drei abgespreizten Fingern. Innenpolitisch wird das Klima in Israel derzeit durch eine Debatte über Äußerungen der arabischen Knesset-Abgeordneten Hanin Zoabi vergiftet; Zoabi hatte öffentlich erklärt, die Entführungen seien kein Akt des Terrors.

Verlierer sind nicht zuletzt die Beziehungen zwischen Israel und der EU. Schon seit Langem wird auf der rechten Seite des israelischen politischen Spektrums die EU als anti-israelisch dargestellt. In einer Art Trotzreaktion wird die Hinwendung zu China als Weg zur Emanzipation von einem Europa empfohlen, das – oft aus antisemitischen Motiven – den Boykott Israels betreibe. Diesmal wurde nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums kritisch vermerkt, dass die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton erst am fünften Tag nach der Entführung diese Tat verurteilte. Netanjahu hatte am Montag (16. Juni) das Schweigen der EU und anderer mit den Worten kritisiert: „Ich erwarte von allen Verantwortlichen in der internationalen Gemeinschaft, von denen einige sofort Laut geben, wenn es um Bauvorhaben in Jerusalem geht, den abscheulichen Akt der Entführung der drei Jungen entschieden und energisch zu verurteilen.“

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