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Das Rededuell Abbas-Netanjahu vor den Vereinten Nationen

by Michael Mertes

Kommentare und Analysen in den israelischen Medien

Am Freitag, den 23. September 2011 sprachen Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in New York vor der VN-Generalversammlung. In einem Leitartikel mit dem aufschlussreichen Titel „Post-UN blues“ spricht die „Jerusalem Post“ von einem rhetorischen „Showdown“ zwischen beiden Politikern – und gibt damit die Empfindungen der meisten Israelis treffend wieder.

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Einig sind sich die Kommentatoren darüber, dass eine israelisch-palästinensische Annäherung angesichts der Gegensätze, die am East River erneut sichtbar wurden, derzeit kaum vorstellbar ist. In einer Analyse, die bereits wenige Stunden nach Ende der Auftritte von Abbas und Netanjahu auf der Internetseite von Haaretz veröffentlicht wurde (A clash of narratives as Abbas and Netanyahu duel it out at the UN – „Ein Zusammenprall der Sichtweisen beim VN-Duell Abbas-Netanjahu“), bescheinigt Chemi Shalev beiden Rednern, ihre Sache geschickt vertreten zu haben: „Sowohl Abbas als auch Netanjahu hielten – von ihrem Standpunkt aus gesehen – gute Reden, aber beide redeten aneinander vorbei und richteten ihre Worte an ein völlig unterschiedliches Publikum. Ihr Dialog war ein Gespräch unter Gehörlosen, ein Zusammenprall gegensätzlicher Sichtweisen – Beweis dafür (wenn es noch eines Beweises bedurft hätte), dass Israelis und Palästinenser in Paralleluniversen leben und niemals zusammenkommen werden, wenn nichts Dramatisches geschieht.“

Abbas, so Shalev, habe zuallererst die Palästinenser umworben; sein Zielpublikum seien auch die Araber insgesamt und die Länder der Dritten Welt gewesen. Für diese Zuhörerschaft habe er seine Rede mit anti-israelischen Schlagworten gewürzt, wie sie zum Basisvokabular der „automatischen Mehrheit“ in den Vereinten Nationen gehörten: „Apartheid“, „Kolonialismus“, „Rassismus“ oder „ethnische Säuberung“ durften da nicht fehlen. Abbas sei offenbar nicht in der Stimmung gewesen, Amerikanern oder Israelis zu gefallen, und so habe er eine kompromisslose Darstellung der palästinensischen Sicht der Dinge geboten – eine Darstellung, von der seine zahlreichen Unterstützer im New Yorker Uno-Gebäude begeistert gewesen seien. (Der volle Wortlaut der Abbas-Rede ist hier nachzulesen.)

Netanyahu wiederum habe sich an jene Teile der Weltöffentlichkeit gewandt, die von Abbas bewusst ignoriert worden seien. In einem gekonnten, wenn auch etwas länglichen Redeauftritt habe er sich zum Daniel in der Löwengrube des anti-israelischen Blocks innerhalb der Vereinten Nationen stilisiert. Er habe sich selbst zum Sprecher von „100 Generationen von Juden“ ernannt, ein paar besonders hetzerische Passagen aus Abbas’ Rede zurückgewiesen und ein Bonbon für jede seiner Lieblingsgruppen bereitgehalten: „den Lubawitscher Rebbe für die religiösen Juden, ein Bibelzitat für die evangelikalen Christen, ein Gedenkwort zum 11. September für seine amerikanischen Zuhörer und die Einladung an Abbas, miteinander ‚Dugri’ - ein ursprünglich türkisches Wort mit der Bedeutung ‚Klartext’ - zu sprechen, für seine israelischen Wähler daheim.“ (Der volle Wortlaut der Netanjahu-Rede ist hier nachzulesen.)

Hat Netanjahu in New York „Dugri“ geredet? Zu dieser Frage inszeniert ynet.com ein Kommentarduell zwischen Moshe Ronen und Yehuda Nuriel unter der Überschrift Did Bibi tell the truth? – „Hat Bibi die Wahrheit gesagt?“ – „Ja“, meint Ronen, und bezieht sich dabei vor allem auf Netanjahus Satz: „The truth is that I want peace.“ – „Nein“, meint Nuriel – Bibi sei ganz wie sein Vater und Lehrmeister Benzion Netanjahu in Wahrheit strikt dagegen, auch nur einen Zoll der israelischen Siedlungen in der Westbank an die Palästinenser zurückzugeben.

Netanjahu hatte in seiner Rede die Forderung von palästinensischen Amtsträgern, im Staat Palästina dürfe es keine jüdischen Siedler mehr geben, mit der Bemerkung kommentiert, es sei also geplant, die Westbank judenrein (er benutzte das deutsche Wort) zu machen, während der Staat Israel die Rechte der auf seinem Territorium lebenden arabischen Bürger – rund eine Million – jederzeit achte. Die Jerusalem Post greift diese Argumentationsfigur, die die Gegenseite mit der nationalsozialistischen Rassenideologie in Verbindung bringt, in ihrem Leitartikel auf: „Abbas ficht es anscheinend nicht an, dass er mit zweierlei Maß misst, wenn er einerseits die Anerkennung Israels als Heimat des jüdischen Volkes verweigert und andererseits verlangt, dass ein künftiger Palästinenserstaat per definitionem judenrein sein müsse.“ Abbas, so der Kommentar weiter, halte auch am palästinensischen Rückkehrrecht fest, „das, würde es verwirklicht, Israel in den Grenzen vor 1967 mit Millionen von Palästinensern aus dem Libanon, Syrien, Jordanien und anderen Gebieten der palästinensischen Diaspora überfluten würde mit der Folge, das es keine jüdische Mehrheit in Israel mehr gäbe“. Diese Elemente in Abbas’ Rede stellten „ein unüberwindliches Hindernis für eine Friedensvereinbarung dar“.

UN speeches show regression in Israel-Palestinian conflict – „VN-Reden offenbaren Rückschritt im israelisch-palästinensischen Konflikt“ – so überschreibt die Zeitung Haaretz ihren Leitartikel. Dort wird eine ausgewogenere, aber nicht weniger pessimistische Bilanz des New Yorker Rededuells gezogen: „Es sah so aus, als seien beiden Seiten im generationenlangen Ringkampf zwischen Israelis und Palästinensern längst die Klagen, Argumente und wechselseitigen Beschimpfungen ausgegangen: Dinge, die man in der Hitze des Zorns, begleitet von Gewalt und Blutvergießen, herausstößt; die man reflexartig, aus Gewohnheit sagt; oder die man im Namen der Kommunikation vor sich hin brummelt. Doch dann kam das große Rededuell am Freitag vor der VN-Generalversammlung und machte eine zusätzliche Dimension sichtbar: die Dimension der abgeklärten Hoffnungslosigkeit, in der beide Seiten nicht mehr zueinander sprechen oder aufeinander hören, sondern ihre Argumente und Klagen in den Wind streuen – in der Hoffnung, das könnte ihnen einen ‚Propagandapunkt’ einbringen bei denen, die keine Lust mehr haben, sich noch irgendwie mit dem Konflikt zu befassen.“

Rechtzeitig zur New Yorker Debatte am Freitag stellte Haaretz einen Beitrag des in Washington tätigen Journalisten und Analysten Leon Hadar online. Die Überschrift fasst Hadars These auf knappstem Raum zusammen: Pax Americana is over – „Die Pax Americana ist vorbei“. Anders als Großbritannien 1947 könnten die Vereinigten Staaten die Nahost-Fackel nicht an eine befreundete Weltmacht weiterreichen, die bereit sei, diese Verantwortung zu übernehmen: „Der Europäischen Union fehlt es entweder an den militärischen Fähigkeiten oder dem politischen Willen, diese Rolle zu spielen.“ Amerikas aufstrebender Rivale, China – zugleich sein größter Gläubiger mit Fremdwährungsreserven von über 3 Billionen US-Dollar – sei nicht daran interessiert, im Fließsand des Nahen Ostens stecken zu bleiben. Lieber erlaubten es die Chinesen den Amerikanern, ihre militärischen und ökonomischen Ressourcen weiterhin dort zu verschwenden.

Michael Mertes

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