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Gewinner und Verlierer der Operation „Säule der Verteidigung“

by Michael Mertes

Domradio-Interview von Christian Schlegel mit Michael Mertes

Am zweiten Tag der Waffenrufe, die vor allem durch ägyptische Vermittlung zwischen Israel und der Hamas vereinbart wurde, stellt sich die Frage nach der künftigen Entwicklung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Hierzu – und zu den innenpolitischen Auswirkungen der Operation „Säule der Verteidigung“ in Israel und den zweigeteilten Palästinensischen Gebieten – befragte das Domradio Köln am 23. November 2012 Michael Mertes, den Leiter der KAS Israel.

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Domradio: Der Waffenstillstand zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas hält, nun schon am zweiten Tag. Die Sicherheitsvorkehrungen, sie bleiben aber hoch. So haben die israelischen Behörden den Zugang zum Tempelberg in Jerusalem für Palästinenser, aus Angst vor Anschlägen, eingeschränkt. Es dürfen derzeit nur Männer über 40 Jahre mit entsprechenden Ausweispapieren sowie Frauen den Bereich im Osten Jerusalems betreten. Insgesamt ist es aber ruhig, bestätigt Michael Mertes, der Leiter des Jerusalemer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung. Guten Tag!

Michael Mertes: Guten Tag, Schalom!

Domradio: Wir hatten jetzt ja verschiedenste Beteiligte in der Auseinandersetzung und den Verhandlungen der vergangenen Tage. Wer steht nun politisch als Sieger da?

Mertes: Ich würde das Wort „Sieger“ in diesem Zusammenhang nicht verwenden, sondern eher von „Gewinnern“ sprechen, denn wir befinden uns ja in einem sehr lang sich hinziehenden Konflikt, und das war, wenn man so will, nur eine weitere Runde in diesem Konflikt.

Eindeutiger Gewinner ist meines Erachtens die Hamas, das sehen auch die meisten Kommentatoren hier so: Sie hat es über eine Woche lang ausgehalten gegen die israelischen Angriffe, gegen die israelischen Verteidigungsmaßnahmen. Sie hat gezeigt, dass sie mittlerweile die großen Zentren in Israel treffen kann mit weitreichenden Raketen. Sie ist international aufgewertet worden als Gesprächs- und Verhandlungspartner: Sie hat hochrangigen Besuch bekommen vom ägyptischen Premierminister – übrigens hatte sie ähnlichen Besuch auch schon bekommen im Oktober, als der Emir von Katar dort war. Letzten Endes musste auch Israel, wenn auch indirekt über Ägypten, mit der Hamas verhandeln. Kurz und gut, die Hamas steht heute da als die Regierung eines Quasi-Staates, den einige Leute hier auch „Hamastan“ nennen. Und sie hat damit gleichzeitig auch den kleineren radikalislamischen Gruppierungen im Gazastreifen gezeigt, wer Herr im Hause ist.

Gewinner ist auch, wenn ich das noch hinzufügen darf, Präsident Mursi – und sein Land, Ägypten. Es hat ebenfalls eine wichtige internationale Aufwertung erfahren durch zahlreiche Besuche. Es hat internationale Anerkennung erfahren als erfolgreicher Vermittler in diesem Konflikt – und es ist sehr deutlich zu spüren, dass Ägypten sehr an Ansehen gewonnen hat.

Domradio: Was hat sich denn durch den jüngsten Konflikt für Israel verändert? Können Hamas und Fatah jetzt wieder besser miteinander? Denn Israel fordert ja immer einen einheitlichen Ansprechpartner für Verhandlungen.

Mertes: Ich glaube, dass eine wirkliche Versöhnung zwischen Fatah und Hamas nicht möglich ist, weil beide einfach viel zu unterschiedliche Zielsetzungen haben. Die Hams ist, wie Sie ja selber gesagt haben, eine radikalislamische Organisation; die Fatah ist säkular-nationalistisch eingestellt. Die Hamas ist grundsätzlich gegen die Anerkennung Israels; die Fatah würde dabei mitmachen. Also, da gibt es erhebliche ideologische Differenzen.

Ich glaube ganz einfach, dass die Fatah spürt, dass die Hamas der Gewinner ist – und in dem Augenblick, in dem die Hamas Gewinner ist, ist die Fatah der große Verlierer. Sie traut sich jetzt einfach nicht, kritische Worte zu finden gegenüber der Hamas – aber ich sehe noch längst nicht, dass es da zu einer Versöhnung kommt. Und im Übrigen gibt es dann das Problem, dass Israel sagen wird: „Wir reden nicht mit einem Partner, an dem die Hamas beteiligt ist.“

Domradio: Jetzt sind es nur noch zwei Monate, dann sind Wahlen in Israel. Hat Netanjahu innenpolitisch denn mit seinem Krisenmanagement punkten können?

Mertes: Von heute aus betrachtet würde ich sagen, es steht da „unentschieden“. Das heißt, wenn sie nach „Gewinnern“ und „Verlierern“ fragen, dann ist Netanjahu weder eindeutig Gewinner noch eindeutig Verlierer. Es wird sicher so sein, dass dieser Wahlkampf zentral geprägt sein wird von Fragen der Sicherheit, der militärischen Sicherheit. Alle anderen innenpolitischen Probleme sind absolut in den Hintergrund gerückt. Und was jetzt die Sicherheitsfrage anbetrifft, so wird Netanjahu sicher auch sich auseinandersetzen müssen mit Kritik von der rechten Seite des politischen Spektrums – aber auch aus dem Süden Israels, der besonders betroffen war vom Raketenbeschuss –, dass die Operation „Säule der Verteidigung“ zu früh aufgehört habe, dass man noch hätte weitermachen müssen, um sämtliche Raketen im Gazastreifen zu vernichten. Das ist ein Thema, mit dem er sich wird auseinandersetzen müssen.

In der nächsten Woche wird die ehemalige Außenministerin Tzipi Livni, so ist überall zu hören, bekanntgeben, dass sie als Spitzenkandidatin einer neuen Partei antreten wird. Sie wird ebenfalls zentral über sicherheitspolitische Fragen sprechen und Netanjahu dafür kritisieren, dass er in den vergangenen Jahren die Fatah geschwächt und damit indirekt das Geschäft der Hamas betrieben habe – so konnte man es jedenfalls heute in der Zeitung hier lesen.

Domradio: Wenn wir jetzt mal kurz noch die direkt politische Ebene verlassen, auf die Bevölkerung selbst schauen: Hat denn die jüngste Auseinandersetzung Ihrer Meinung nach die Kluft zwischen Israelis und Palästinensern noch vergrößert?

Mertes: Ich glaube nicht, dass die Kluft vergrößert werden kann, sie ist schon extrem groß. Ich glaube, dass sich die Überzeugung verfestigt hat, dass es sehr, sehr schwer ist, einen Ausgleich zu finden – so viel würde ich schon sagen. Und was ganz wichtig ist: Die Angst bleibt, selbst wenn die Waffen schweigen. Die Angst bleibt. Insbesondere der Terroranschlag in Tel Aviv auf einen Bus am vergangenen Mittwoch hat alte Ängste wieder wachgerufen. Insofern würde ich sagen: Keine neuen Gräben, aber vielleicht doch wieder eine Verstärkung der Ängste, die die Israelis früher umgetrieben haben.

Domradio: Michael Mertes, der Leiter des Jerusalemer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung mit einem Rückblick auf den jüngsten Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Ihnen vielen Dank für das Gespräch!

Nachlese:

Das Thema „Gewinner und Verlierer“ beschäftigt die israelischen Medien am Wochenende nach Vereinbarung der Waffenruhe intensiv – siehe zum Bespiel den redaktionellen Leitartikel „Who won?“ in der Jerusalem Post vom 23. November 2012 (dort S. 13, online hier). Übereinstimmend werden Ägypten und die Hamas zu Gewinnern erklärt, während die Fatah ebenso übereinstimmend als großer Verlierer beschrieben wird. Die Bilanz für Israel fällt weniger eindeutig aus. In einer ausführlichen Analyse unter der Überschrift „Shifting sands“ resümiert Herb Keinon: „While no clear winner emerged from Operation Pillar of Defense, the ground shifted in a number of areas – from greater international legitimacy for Hamas to improved ties beween Obama and Netanyahu to Morsi’s ermergence and Abbas’s irrelevance.“ (Jerusalem Post vom 23. November 2012, S. 13 und 15)

In einem lesenswerten Kommentar in der Welt (online 25. November 2012, „Der Sieger des Gaza-Konfliktes heißt Barack Obama“) erklärt Richard Herzinger US-Präsident Obama zum „Sieger“ und den Iran zum eigentlichen Verlierer: „Zur Vermittlung zwischen Israel und der Hamas schickten die USA Ägypten vor – womit der bisherige Hauptsponsor der terroristischen Palästinenserorganisation, die Islamische Republik Iran, aus dem Spiel war. Die von Washington anvisierte Sicherheitsarchitektur für den Nahen Osten nimmt damit Konturen an: Trotz oder gerade wegen seiner inneren Umbrüche soll Ägypten als glaubwürdige Garantiemacht für einen zumindest provisorischen israelisch-palästinensischen Frieden aufgebaut werden.“

Auch Israel zählt nach Herzingers Ansicht klar zu den Gewinnern. Es könne „sich nach dieser Erfahrung vor iranischen oder vom Iran gesteuerten Gegenschlägen weitgehend sicher fühlen. Indem Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dem amerikanischen Krisen-Skript folgte, zeigte sich freilich auch, dass es für ihn keinen Spielraum mehr gibt, gegen den Willen des wiedergewählten, von ihm ungeliebten US-Präsidenten zu handeln. Ohne Plazet aus Washington wird es somit keinen israelischen Angriff gegen den Iran geben. Obamas klare proisraelische Haltung im Gaza-Konflikt signalisierte Jerusalem jedoch auch, dass der US-Präsident keine leeren Worte spricht, wenn er erklärt, zur Verhinderung einer iranischen Atombombe bleibe auch für die USA die militärische Option auf dem Tisch.“

Der US-Kolumnist Thomas L. Friedman betrachtet ebenfalls den Iran - genauer: eine Israelpolitik im Sinne des Iran - als Verlierer. So gesehen, wäre der Erfolg der vom Iran geförderten Hamas doch etwas zu relativieren. In der New York Times (online) vom 24. November (siehe „Morsi’s Moment“) küpft Friedman an die positive Bilanz für Präsident Mursi die Frage, welche Rolle der ägyptische Präsident im israelisch-palästinensischen Friedensprozess spielen könnte: „It is impossible not to be tantalized by how much leverage Morsi could wield in the peace process, if he ever chose to engage Israel. Precisely because he represents the Muslim Brotherhood, the vanguard of Arab Islam, and precisely because he was democratically elected, if Morsi threw his weight behind an Israeli-Palestinian peace deal, it would be so much more valuable to Israel than the cold peace that Sadat delivered and Hosni Mubarak maintained. Sadat offered Israelis peace with the Egyptian state. Morsi could offer Israel peace with the Egyptian people and, through them, with the Muslim world beyond.“

Daniel C. Kurtzer, ehemaliger US-Botschafter in Ägypten und Israel schreibt in einem Gastkommentar für die Wochenendausgabe von Haaretz (23. November 2012, S. B4, online hier) unter der Überschrift „Lessons from the week“: „Israel’s political goal has been unclear, whereas Hamas’ goal has been crystal clear. Before the fighting, Hamas’ standing in the region was enhanced by the visit of Qatar’s Emir and the support of Turkey and Egypt. Following this round of fighting, there will be an almost automatic outpouring of Arab support. Indeed, Hamas has been willing to put the Gaza population and its own arsenal at risk to concretize this support. If the cease-fire results in Egypt’s opening the Rafah border to regular commerce, then Hamas will have delivered an even more important political result.“

Kurtzer sieht Israel mit einem strategischen Dilemma konfrontiert. Indem es Mobilisierung und Einsatz seiner Landstreitkräfte vom Verhalten der Hamas abhängig mache, erlaube es der Hamas in gewisser Hinsicht, „den nächsten Schritt zu diktieren“. Israel sollte daher, so Kurtzer, künftig ganz auf einen Mix auf Raketenabwehr und gezielten Luftschlägen setzen: „As Israel mobilized thousands of soldiers for a possible ground war, it did so with the intention of raising the stakes for Hamas and forcing Hamas to moderate its cease-fire demands. However, Israel’s mobilization paradoxically tied Israel’s own hands and handed much of the next decision over to Hamas. Hamas knows Israel cannot sustain economically an open-ended mobilization. Hamas also knows that a ground war raises two long-established challenges that apply to Israeli military action: there is a very limited time available to Israel until the international community says ‘enough’; and ground campaigns raise exponentially the number of civilian casualties and Israeli military losses. Thus, by raising the specter of a ground war, Israel in a sense allowed Hamas to dictate the next step.“

An einer Wiederaufnahme des Friedensprozesse führe kein Weg vorbei, denn es gebe nicht so etwas wie einen ein- für allemal fixierten Status quo: „As long as there is not a serious effort to move the peace process forward, chronic conflict will continue to bedevil the parties in the Middle East. Status quos are not static, and temporary calm doesn’t stay that way for long. Only strong and sustained diplomacy can possibly translate this chronic condition into the possibility of a peaceful, long-term understanding. It’s time to push back against those who believe a comfortable status quo exists and can be maintained—it doesn’t exist, and the situation keeps deteriorating. Why, then, not give peace a chance?“

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