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Jom Kippur 2011

by Michael Mertes

Trügt die Ruhe?

Selbstkritik statt Selbstmitleid: Das ist der Geist, in dem die meisten israelischen Kommentatoren anlässlich des Jom Kippur auf politische Versäumnisse des vergangenen Jahres zurückblicken. Dieser Geist erklärt Israels bemerkenswerte Fähigkeit zu demokratischer Selbstkontrolle und Selbstkorrektur – eine Fähigkeit, die es als offene Gesellschaft aus seinem regionalen Umfeld deutlich heraushebt.

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Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, ist ein Tag der Gewissenserforschung, der individuellen und gemeinschaftlichen Einkehr und Umkehr, der Versöhnung: „Schon in den 30 Tagen vor Rosch haSchanah, insbesondere aber in den dann noch folgenden 10 Tagen, betrachten wir kritisch unser bisheriges Leben, bemühen uns darum Mißstände zu beheben, Ungerechtigkeiten auszugleichen, Fehler wieder gut zumachen und insbesondere uns zum Guten zu ändern. Ausgleich und Versöhnung mit unseren Mitmenschen ist absolute Voraussetzung dafür dies auch von G’tt erbitten und erhoffen zu können. So bemühen wir uns Feindseligkeiten zu beenden, Frieden unter uns zu schaffen.“ (Michael Rosenkranz).

In einem bemerkenswerten Haaretz-Blog vom 6. Oktober mit dem Titel A message for Jews, in a charred mosque at Yom Kippur („Eine Botschaft für Juden zum Jom Kippur angesichts einer niedergebrannten Moschee“) ruft Bradley Burston in Form eines liturgisch aufgemachten Schuldbekenntnisses zur kollektiven Gewissenserforschung wegen des Brandanschlags auf die Moschee im Beduinendorf Tubas Zangaria im Norden Israels am 2./3. Oktober auf. Der Interreligious Coordinating Council in Israel (ICCI), ein Partner der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel, hatte zu dem Anschlag in einer Pressemitteilung unter anderem erklärt: „Dies ist ein Hillul Hashem, eine Entweihung des Namens Gottes, die allen unseren Gebeten zuwiderläuft, insbesondere während dieser 10 Tage der Reue und Buße zwischen Rosch haSchanah und Jom Kippur.“

Was die Selbstkritik vom Selbstmitleid unterscheidet, ist die Bereitschaft, beim Ermitteln der Ursachen für Fehlentwicklungen erst nach der eigenen Verantwortung zu fragen, bevor man die Schuld bei anderen sucht. In einer umfassenden, Going into Yom Kippur blameless? („Ohne Makel an der Schwelle zum Jom Kippur?“) überschriebenen Analyse zitiert Gil Hoffman in der Jerusalem Post den einstigen US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey mit der Sentenz: „Irren ist menschlich. Jemand anderem die Verantwortung zuschieben ist Politik.“ Dann zieht er eine Bilanz all dessen, was seiner Ansicht nach seit Rosch haSchanah 2010 schlecht gelaufen ist: Der israelisch-palästinensische Friedensprozess stagniere, Israel sei infolge des „Arabischen Frühlings“ zunehmend isoliert, die Beziehungen zur Türkei verschlechterten sich und es gebe noch keine überzeugende Antwort auf die bei den Massendemonstrationen des Sommers 2011 erhobene Forderung nach einer gerechteren Lasten- und Wohlstandsverteilung in Israel. Hoffman resümiert: „Es heißt, Gott fälle alle Urteile an Jom Kippur. Die Wähler aber werden bis zum nächsten Wahltag warten müssen, um ihr Urteil abzugeben.“

Ebenfalls in der Jerusalem Post fragt Uri Savir, Präsident des Peres Center for Peace und ehemaliger Chefunterhändler Israels bei den Oslo-Friedensgesprächen in den 1990er Jahren unter der Überschrift It’s about peace nach dem Zusammenhang zwischen den sozial- und wirtschaftspolitischen Reformnotwendigkeiten einerseits und dem ungelösten israelisch-palästinensischen Konflikt andererseits. Da der Staat Israel so viel Geld im Westjordanland für Sicherheit und Siedler auszugeben habe, gebe es allenfalls Spielraum für „kosmetische“ Veränderungen auf sozioökonomischem Gebiet, meint Savir. Freilich sieht er auch, dass die „heilige Eintracht“, der sacred consensus innerhalb der israelischen Protestbewegung zerbräche, wenn deren innenpolitische um eine friedenspolitische Agenda erweitert würde.

Während an Jom Kippur die Straßen vom Autoverkehr befreit sind, von spielenden Kindern, spazierenden Familien und lebensfrohen Fahrrad- und Rollschuhfahrern erobert werden und sich sogar nichtreligiösen Israelis als Raum der Meditation anbieten, wird bei manchen die Erinnerung an Jom Kippur 1973 wach, als das Land in tiefster Festtagsruhe lag und völlig überraschend von Ägypten und Syrien angegriffen wurde. In der Jerusalem Post erinnern sich Knesset-Abgeordnete an ihre Erlebnisse im Jom-Kippur-Krieg vor 38 Jahren. Am Donnerstag, den 6. Oktober hielten die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) eine unangekündigte Übung für zwei Reservisten-Divisionen ab (Yom Kippur War anniversary: IDF drafts reserves in drill). Es sei nicht gerade ein Zufall gewesen, meinte danach Oberst Shlomi Feuer, „dass es heute geschah, am Vorabend von Jom Kippur und dem Jahrestag des Krieges“.

Mit großer Sorge blickt Avi Shavit in seinem jüngsten Haaretz-Beitrag Mideast diplomatic calm cannot hide a building storm („Die diplomatische Stille im Nahen Osten kann das Heraufziehen eines Sturms nicht verdecken“) in die Zukunft. Für seine Unwetter-Warnung nennt er drei Gründe: Erstens sei die palästinensischen Initiative bei den Vereinten Nationen kein punktuelles, auf den September 2011 beschränktes Ereignis gewesen, sondern der Beginn eines längerfristigen Prozesses. Zweitens nutze die Hamas das „Chaos auf der Sinai-Halbinsel“, um ihr Arsenal mit modernsten Waffen – vor allem aus Libyen – auszustatten. Alle Welt blickt auf „Fatahstan“ (das Westjordanland) und vergisst „Hamastan“ (den Gaza-Streifen): „Hamastan hat heute eine Fähigkeit, die es in der Vergangenheit nicht besaß: die Fähigkeit, die Stabilität im Nahen Osten zu unterminieren. Hamastan hat gegenwärtig kein Interesse, diese neue Fähigkeit einzusetzen; es wartet die Abstimmungsergebnisse in den Vereinten Nationen und den Ausgang der Wahlen in Ägypten ab.“ Drittens sei die neue arabische Welt „ungefähr so stabil wie Nitroglyzerin. Keine Armee bedroht Israel direkt, aber jeder beliebige Grenzzwischenfall hat das Potenzial, eine dramatische Krise im Verhältnis zu Israel auszulösen.“

Auf ynet.com gibt es praktische Tipps von Rabbi Yuval Sherlo (Repentance rules for talkbacker) an Internet-Nutzer, die beleidigende Kommentare zu Online-Artikeln geschrieben haben und dieses Unrecht nun wieder gut machen wollen. Nach wie vor freut sich Israel über den Chemie-Nobelpreis für Daniel Shechtman (Israel’s Daniel Shechtman wins Chemistry Nobel). Hinter dieser Auszeichnung steckt die für Israel höchst symbolträchtige Geschichte eines Mannes, der mit seiner Theorie von den „Quasikristallen“ zunächst allein auf weiter Flur stand, sich vom Widerstand seiner Fachkollegen nicht beirren ließ – und schließlich Recht bekam. Man soll die Hoffnung eben nie aufgeben.

Michael Mertes

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