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Kollektiver Selbstmord als letzter Trumpf der Hamas?

by Michael Mertes

Netanjahus bisherige Zurückhaltung konterkariert die Strategie der Terrororganisation

Es fällt schwer zu begreifen, was die Hamas mit den ununterbrochenen Raketenangriffen auf Israel bezwecken will. Sie weiß, dass sie Israel kaum schaden und diesen Krieg nicht gewinnen kann. Auch an der Propagandafront – national und international – erzielt sie im Augenblick keinen durchschlagenden Erfolg. Aus der zivilisierten Welt mögen Aufrufe an beide Seiten zur Mäßigung kommen; aber Israels Recht, sich gegen die Aggression aus dem Gazastreifen zu verteidigen, wird auch von notorischen Israelkritikern derzeit kaum bestritten.

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Dass sie dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung schweren Schaden zufügt, es vielleicht sogar in unerreichbare Ferne rücken lässt, ficht die Hamas nicht an. Ihr Ziel ist ja gerade, auf den Trümmern Israels eine fundamentalistische Diktatur zu errichten, die von der Mittelmeerküste im Westen bis zum Jordan im Osten reicht.

Die einzige „rationale“ Erklärung für das Agieren der Hamas besteht in der Vermutung, dass sie auf diese Weise die Solidarität der Palästinenser in Ost-Jerusalem und im Westjordanland herbeizwingen will. Sie hofft auf einen großen palästinensischen Aufstand, auf ein apokalyptisches Blutbad, das eine Solidarisierung der „arabischen Massen“ von Marokko bis Jordanien gegen Israel zur Folge hat und auf diese Weise zu einer tödlichen Bedrohung für Israel anschwillt.

Mit dem Dauerfeuer aus dem Gazastreifen setzt die Hamas ihren letzten Trumpf ein: Es geht ihr darum, Israel zu einer Reaktion zu provozieren, die sie zunächst im Kampf um die Herzen und Köpfe der Palästinenser propagandistisch ausbeuten kann. Dabei nimmt sie billigend in Kauf, dass der Einfluss, den sie durch Beteiligung an der palästinensischen Einheitsregierung auf die Palästinensische Autonomiebehörde erlangt hatte, wieder verloren geht.

Politisch gesehen, war die Hamas noch nie so isoliert und schwach wie heute. Alle haben sich von ihr abgewandt: „Monarchien und Republiken, Sunniten und Schiiten, Iraner und Amerikaner – und eine Weltgemeinschaft, für die inzwischen die Hamas Teil einer unheilvollen ‚Islamistischen Internationale’ ist, die von Nigeria über den Iran bis zum Westen Chinas reicht.“ (So Amotz Asa-El in einer Analyse für die Jerusalem Post vom 12. Juli 2014, die in der folgenden Tour d’Horizon ausgewertet wird.)

  • Im Jahr 2012 verlor die Hamas Baschar al-Assad als Bündnispartner, nachdem sie unvorsichtigerweise auf dessen Niederlage im syrischen Bürgerkrieg spekuliert hatte.

  • Zusammen mit Assad verlor sie auch die finanzielle und waffentechnische Unterstützung durch den Iran. Es fällt auf, dass von der schiitischen Hisbollah bislang keine Solidaritätsbekundungen für die (sunnitische) Hamas zu hören sind.

  • Mit den Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi im Juli 2013 stand die Hamas, der palästinensische Ableger der Moslembrüder, ohne ägyptischen Verbündeten da. Mehr noch: Das neue Regime in Ägypten unter Führung von Abd al-Fattah as-Sisi betrachtet die radikalislamischen Moslembrüder – und damit auch die Hamas – als gefährliche Feinde.

  • Ähnlich wie das Sisi-Regime sehen auch Saudi-Arabien, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate in den Moslembrüdern eine Bedrohung der regionalen Stabilität. Auch von dort kann die Hamas kein Wohlwollen erwarten.

  • Sogar der letzte Sympathisant der Hamas, die Regierung Erdoğan, hielt sich in den letzten Tagen auffällig mit Kritik am israelischen Vorgehen zurück.

Der israelische Ministerpräsident Netanjahu sieht offenbar sehr klar, zu welcher Reaktion ihn die Hamas mit ihrem Dauerfeuer provozieren will. Er ist ihr nicht in diese Falle gegangen und hat den Heißspornen daheim, die die Hamas ohne Rücksicht auf Verluste nur noch „platt machen“ wollen, mit kühlem Kopf widerstanden.

Mit seiner Strategie der Zurückhaltung zieht Netanjahu viel Kritik von politisch rechts stehenden Bündnispartnern auf sich: Außenminister Avigdor Lieberman hat inzwischen die Listenverbindung zwischen der eigenen Partei, Israel Beitenu, und Netanjahus Likud verlassen; auch die am äußerst rechten Rand stehende Regierungspartei HaBajit HaJehudi und ihr Vorsitzender Naftali Bennett sowie Vertreter des rechten Likud-Flügels verhehlen nicht, dass sie Netanjahus angeblich „weichen“ Kurs missbilligen.

Allerdings gibt die bisherige Entwicklung Netanjahu recht:

  • Die von den Hamas-Raketen angerichteten (Sach-)Schäden bleiben überschaubar, nicht zuletzt dank des sehr gut funktionierenden Raketenabwehrsystems „Iron Dome“ (Eiserne Kuppel).

  • Die Stimmung im Westjordanland ist zwar äußerst angespannt, aber trotz aller Sympathien für ihre Brüder und Schwestern im Gazastreifen sind die dort lebenden Palästinenser (noch) nicht bereit zu einer Dritten Intifada, mit der sie unendliches Leid vor allem über sich selbst bringen würden.
  • Die zivilisierte Welt steht mehrheitlich hinter Israels Selbstverteidigung, weil und solange es der Hamas-Propaganda nicht gelingt, die israelische Reaktion als unverhältnismäßig zu denunzieren.

Michael Mertes, Jerusalem, 12. Juli 2014, 12:00 Uhr

Annex I

Ergänzungen und Updates

12. Juli 2014, 10:50 Uhr: Einem israelischen Radiobericht zufolge äußern sich führende Hamas-Repäsentanten empört über Palästinenserpräsident Abbas, weil dieser die ständigen Raketenangriffe auf Israel kritisiert hat. Sie beschuldigen ihn, auf diese Weise „dem Feind zu helfen“. Abbas agiere wie ein „Außenstehender“ (third party); er sei ein „Krimineller“ und „Likud-Mitglied“ (d.h. ein Angehöriger der Partei des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu).

In einem Interview mit dem libanesischen Fernsehsender Al-Ma’ayadin hatte Abbas gesagt, dass die Forderung von Hamas nach einer Feuerpause überflüssig sei – beide Seiten sollten einfach sofort aufhören zu schießen. „Wir stehen auf der Verliererseite, und von Minute zu Minute nimmt die Zahl der unnötigen Todesfälle zu“, erklärte Abbas. „Ich möchte keine Geschäfte mit palästinensischem Blut machen.“ (I don’t like trading in Palestinian blood.)

Im palästinensischen Fernsehen kritisierte Abbas auch die Hamas: „Was wollt Ihr mit Eurem Raketenbeschuss erreichen? Wir ziehen es vor, mit den Waffen der Klugheit und der Politik zu kämpfen.“ Er fügte hinzu: „Es kommt nicht darauf an, wer gewinnt oder verliert. Es kommt darauf an, dieses Blutvergießen zu beenden.“

Quelle:: Hamas officials denounce ‘criminal’ Abbas as ‘Likud member’, Jerusalem Post online

12. Juli 2014, 15.54 Uhr: Ein Sprecher des ägyptischen Außenministeriums hat teilt mit, derzeit bemühten sich Ägypten, der Sondergesandte des Nahost-Quartetts Tony Blair und andere internationale Vermittler, Israel und die Hamas-Führung im Gazastreifen zu veranlassen, sich wieder an die Waffenstillstandsvereinbarung vom November 2012 zu halten.

Dieser Aussage sind Meldungen vorangegangen, wonach Ägypten und ein anderer arabischer Staat, höchstwahrscheinlich Katar, den Entwurf einer Waffenstillstandsvereinbarung vorbereitet hätten, der beiden Seiten am Samstag vorgelegt worden sei. Einem aktuellen Medienbericht zufolge weigerte sich die Hamas, den Entwurf zu diskutieren, während Israel sich einverstanden erklärte, bei einem Treffen über die Details einer solchen Vereinbarung zu verhandeln.

Quelle: Egypt confirms push to end Israel-Hamas fighting, Ynetnews

12. Juli 2014, 19:14 Uhr: Am 12. Juli gegen 19:00 Uhr schlagen Hamas-Raketen in Hebron und Bethlehem ein – also auf palästinensischem Territorium.

Quelle: Sirens blare in Jerusalem, rockets land in Hebron and Bethlehem, Jerusalem Post online

13. Juli 2014, 05:30 Uhr: Der israelische Verkehrsminister Israel Katz (Likud) präsentiert Ministerpräsident Netanjahu seinen Vorschlag einer “zivilen Trennung” Israels vom Gazastreifen. Hiernach würden aus Israel nicht mehr Strom, Erdgas, Nahrungsmittel und andere zivile Güter in den Gazastreifen geliefert werden. Falls Ägypten (aus dem diese Güter dann nach Katz’ Plan kommen würden) sich weigere mitzumachen, sollte – so Katz – 4,5 km vor der Küste des Gazastreifens eine künstliche, international überwachte Insel mit See- und Flughafen geschaffen werden.

Quelle: Katz presents plan for ‘civilian separation’ from Gaza, Jerusalem Post online

13. Juli 2014, 15.47: Ynetnews meldet, der palästinensische Diplomat Ibrahim Khreisheh, Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNHRC), habe in einem Interview mit einem palästinensischen Fernsehsender erklärt, die Hamas begehe Kriegsverbrechen, indem sie ihre Raketen gegen die israelische Zivilbevölkerung einsetze.

Auf die Frage nach der palästinensischen Forderung, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen Israel anzurufen, meinte Khreidesh: „Die Raketen, die jetzt auf Israel abgefeuert werden, jede einzelne Rakete stellt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, egal ob sie trifft oder daneben geht, denn sie ist auf zivile Ziele gerichtet. (…) Auf Zivilisten zu zielen, sei es nun ein Einzelner oder seien es Tausend, gilt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

Quelle: Palestinian diplomat admits Hamas war crimes, Ynetnews

Annex II

Auszüge aus der Charta der Hamas („Islamische Widerstandsbewegung“) von 1988 - Eigene deutsche Übersetzung auf Basis der englischen Übersetzung des Avalon-Projekts der Yale Law School

Zerstörung Israels: „Israel existiert und wird weiter existieren, bis der Islam es ausgelöscht hat, so wie er zuvor schon andere ausgelöscht hat.“ (Präambel)

Islamischer Charakter ganzen Raums zwischen Mittelmeer und Jordan: „Die Islamische Widerstandsbewegung glaubt daran, dass das Land Palästina eine allen muslimischen Generationen bis zum Tag des Jüngsten Gerichts gewidmete Islamische Waqf (Heilige Stiftung) ist. Es soll weder ganz noch in Teilen verschleudert werden. Es soll weder ganz noch in Teilen aufgegeben werden.“ (Artikel 11)

Islamische Rückeroberung des ganzen Raums zwischen Mittelmeer und Jordan: „Die Islamische Widerstandsbewegung … strebt danach, das Banner Allahs über jedem Zoll (inch) Palästinas zu hissen, denn unter dem Schutz des Islam können Anhänger aller Religionen in Sicherheit und Geborgenheit zusammenleben, was ihr Leben, ihren Besitz und ihre Rechte anbetrifft.“ (Artikel 6)

Ablehnung von internationalen Friedenbemühungen: „Diese Konferenzen“ – gemeint sind internationale Friedensinitiativen und -konferenzen – „sind nur eine Methode, um Ungläubige im Land der Muslime als Schiedsrichter einzusetzen. Wann je haben die Ungläubigen den Gläubigen Gerechtigkeit widerfahren lassen? … Die Palästinafrage lässt sich nur durch Dschihad lösen. Initiativen, Vorschläge und internationale Konferenzen sind allesamt Zeitverschwendung und vergebliche Bemühungen.“ (Artikel 13)

Aufruf zum Dschihad: „Mit dem Tag, an dem Feinde sich Teile des muslimischen Landes angemaßt haben, wird der Dschihad zur persönlichen Pflicht jedes Muslims. Angesichts der Tatsache, dass die Juden sich Palästina angemaßt haben, ist es eine zwingende Verpflichtung, dass die Fahne des Dschihad gehisst wird.“ (Artikel 15)

Ablehnung von Friedensverträgen zwischen Israel und arabischen Staaten: „Gemeinsam mit imperialistischen Mächten versucht der Weltzionismus, durch einen ausgefeilten Plan und eine durchdachte Strategie einen arabischen Staat nach dem anderen aus dem Kreis derjenigen zu lösen, die gegen den Zionismus kämpfen, bis schließlich nur noch das palästinensische Volk dem Zionismus gegenübersteht. Durch das verräterische Camp-David-Abkommen wurde bereits Ägypten weitgehend aus dem Widerstandskreis herausgelöst. Sie“ – die Zionisten – „versuchen, andere arabische Staaten in ähnliche Abkommen hineinzuziehen und sie aus dem Widerstandskreis herauszulösen. (…)

Der zionistische Plan kennt keine Grenzen. Nach Palästina wollen die Zionisten sich vom Nil bis zum Euphrat ausdehnen. Wenn sie die Region, die sie sich einverleibt haben, verdaut haben, werden sie nach weiterer Ausdehnung streben, und so fort. Ihr Plan ist in den ‚Protokollen der Weisen von Zion’ enthalten, und ihr gegenwärtiges Verhalten ist der beste Beweis für das, was wir sagen. Den Widerstandskreis gegen den Zionismus zu verlassen ist Hochverrat, und verflucht sei, wer solchen Verrat begeht.“ (Artikel 32)

Judenhass: „Der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, hat gesagt: ‚Der Tag des Jüngsten Gerichts wird erst kommen, wenn Moslems die Juden bekämpfen (die Juden töten), wenn der Jude sich hinter Steinen und Bäumen verstecken wird. Die Steine und Bäume werden sagen: ‚Oh Muslime, oh Abdullah (d.h. „Diener Gottes“), hinter mir versteckt sich ein Jude, komm und töte ihn.’ Nur der Gharkad-Baum … würde das nicht tun, denn er gehört zu den Bäumen der Juden.’“ (Artikel 7)

Antisemitische Weltverschwörungstheorien: „Lange Zeit haben die Feinde geschickt und präzis das geplant, was sie bereits erreicht haben. … Sie strebten danach, großen und erheblichen Reichtum anzuhäufen, den sie zur Verwirklichung ihres Traums einsetzten. Mit ihrem Geld übernahmen sie die Kontrolle über die Weltmedien, Nachrichtenagenturen, die Presse, Verlagshäuser, Rundfunkstationen und anderes mehr. Mit ihrem Geld entfesseltem sie Revolutionen in verschiedenen Teilen der Welt mit dem Ziel, die eigenen Interessen durchzusetzen und die Früchte (sc. der Revolution) zu ernten. Sie steckten hinter der Französischen Revolution, der Kommunistischen Revolution und den meisten Revolutionen, von denen wir gehört haben oder hören, wo auch immer sie stattgefunden haben oder stattfinden. Mit ihrem Geld schufen sie in verschiedenen Erdteilen Geheimbünde wie Freimaurer, Rotary Clubs, Lions Clubs und andere – mit dem Ziel, Gesellschaften zu sabotieren und zionistische Interessen durchzusetzen. Mit ihrem Geld waren sie in der Lage, imperialistische Länder zu kontrollieren und diese zu Kolonisierung vieler Länder anzustiften, damit sie dort Ressourcen ausbeuten und Korruption verbreiten konnten.

(…) Sie steckten hinter dem Ersten Weltkrieg, in dem es ihnen gelang, das Islamische Kalifat (sc. der Osmanen) zu zerstören und sich dabei zu bereichern und Kontrolle über Ressourcen zu erlangen. Sie erlangten die Balfour-Deklaration und schufen den Völkerbund, durch den sie über die Welt herrschen konn ten. Sie steckten hinter dem Zweiten Weltkrieg, durch den sie gewaltige Profite im Waffenhandel erzielten und den Weg zur Errichtung ihres eigenen Staates ebneten. Sie waren es, die dazu anstifteten, den Völkerbund durch die Vereinten Nationen und den Weltsicherheitsrat zu ersetzen, um in der Lage zu sein, auf diese Weise über die Welt zu herrschen. Es gibt keinen Krieg, wo auch immer er stattfindet, in dem sie nicht ihre Finger im Spiel haben.“ (Artikel 22)

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