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Streit ums Wasser

by Michael Mertes

Ein Lehrstück über die Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, hat mit einer eher beiläufigen Bemerkung in seiner Rede am 12. Februar 2014 vor der Knesset eine intensive Debatte in den israelischen Medien ausgelöst. Auch konservative Blätter geißeln die Reaktion der nationalreligiösen Partei HaBajit HaJehudi als kursichtig und kontraproduktiv.

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Während seiner Rede löste Schulz wütende Proteste bei den Abgeordneten der extrem rechten HaBayit HaJehudi-Fraktion aus, als er Folgendes sagte:

„Ich habe vor zwei Tagen mit jungen Menschen in Ramallah gesprochen … Eine der Fragen dieser jungen Menschen, die mich am meisten bewegt hat – obwohl ich die genauen Zahlen nicht überprüfen konnte –, war: Wie kann es sein, dass Israelis 70 Liter Wasser am Tag benutzen dürfen und Palästinenser nur 17?“

70 zu 17, das entspricht einem Verhältnis von rund 4 zu 1.

Die Suche nach der „richtigen“ Zahl: 4 zu 1? 3,6 zu 1? 1,4 zu 1? Niemand weiß es so genau

Es erweist sich als sehr schwierig, zuverlässig zu bestimmen, wie nahe die von Schulz zitierten Zahlen der Wahrheit kommen – oder wie weit sie davon entfernt sind. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen:

  • Beim Streit um die „richtige“ Zahl geht es immer auch darum, die eigene Seite in ein gutes und die Gegenseite in ein schlechtes Licht zu rücken. Das gilt übrigens auch für manche an diesem Streit beteiligte Nichtregierungsorganisation.
  • Die einen vergleichen den Jahres-Durchschnittsverbrauch von Israelis und Palästinensern, den anderen geht es um die Verteilung der Wasserressourcen zwischen israelischen Siedlern und palästinensischen Einheimischen im Westjordanland. Wieder andere – wie die palästinensischen Jugendlichen, mit denen Schulz in Ramallah gesprochen hatte – beziehen sich auf Tages-Rationen.
  • Wichtig ist die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Wasser. Geht es um Trinkwasser? Geht es – auch – um minderwertiges Wasser für die landwirtschaftliche Bewässerung?
Wie auch immer man es im Einzelnen beziffert, man kommt an der grundsätzlichen Feststellung nicht vorbei, dass Israelis pro Kopf und Jahr mehr Wasser zur Verfügung steht als Palästinensern. Allerdings wirkt die Relation 4:1 maßlos übertrieben. Unabhängig davon stellt sich die Frage nach den Ursachen des tatsächlich vorhandenen Missverhältnisses. Fraglich ist auch, ob das Gegenüberstellen von Durchschnittszahlen die konkrete Lebenswirklichkeit zu erfassen vermag. Den Palästinensern im Gazastreifen steht (laut Weltbank 2011, siehe unten) mehr Wasser zur Verfügung als den Palästinensern im Westjordanland, und auch innerhalb des Westjordanlandes gibt es erhebliche regionale Unterschiede.

Die israelische Botschaft in Berlin veröffentlichte am 13. Februar unter der Überschrift „Aus aktuellem Anlass: Erläuterungen zur Wasserfrage im Nahostkonflikt“ die israelische Sicht der Dinge. Es heißt dort unter anderem:

„Zahlen zum Verbrauch von natürlichem Frischwasser belegen klar den fairen Umgang Israels mit den palästinensischen Anforderungen:

1967 belief sich Israels Pro-Kopfverbrauch von Frischwasser auf jährlich 508 Kubikmeter. 2008 sank er dramatisch auf 149 herab. Die palästinensischen Verbrauchszahlen stiegen von 86 (1967) auf 105 (2008). Israel hat angeboten, die Palästinenser mit entsalztem Wasser zu versorgen, doch wird diese Möglichkeit aus politischen Erwägungen heraus systematisch abgelehnt.

Nach Angaben der Palästinensischen Autonomiebehörde aus dem Jahr 2011, liegt der durchschnittliche pro Kopf Verbrauch in Städten in der PA bei 103 Litern, was einem Gesamtvolumen von 37,6 Millionen Kubikmetern entspricht.

Der entsprechende Wasserverbrauch in Israel liegt für das Jahr 2012 bei 66,8 Millionen Kubikmetern. Die Daten für Israel basieren auf dem Zweijahresbericht der israelischen Wasserbehörde. Die Daten für die palästinensische Seite stammen aus dem Bericht der Palestinian Water Authority aus dem Jahr 2011.“

149:105 (im Jahr 2008) – das entspricht einem Verhältnis von 1,4 zu 1.

Die aktuelle Debatte in den israelischen Medien

In ihrer Wochenendausgabe vom 14./15. Februar 2014 zeigt die konservative Jerusalem Post ungewollt, dass es keine einfachen Antworten gibt: Ihre eigenen Autoren widersprechen einander diametral.

Auf der einen Seite schreibt Herb Keinon in seiner Analyse „Israel is from Venus, the EU from Mars“ rundheraus, Schulz habe „eine palästinensische Falschbehauptung nachgeplappert“ (parroted a Palestinian fasehood). In seinem durchaus Schulz-freundlichen Op-Ed „Oh my God, he speaks German!“ meint auch Alon Pinkas, der Präsident habe „eine unglückliche und irritierend falsche Bemerkung“ (an unfortunate and annoyingly false remark) gemacht.

Auf der anderen Seite heißt es im Leitartikel „Water concerns“: „Mag Schulz auch die faschen Zahlen zitiert haben, so lag er doch sehr nahe an einer Darstellung der Zahlenverhältnisse (ratios), wie sie von den Friends of the Earth Middle East vorgelegt werden. Es handelt sich bei den Friends um eine israelisch-jordanisch-palästinensische Organisation, die sich schon seit zwei Jahrzehnten mit regionalen Wasser- und Umweltproblemen befasst.“

Der Jerusalem Post-Kommentar fährt fort: „Schätzungen zum Wasserverbrauch hängen ab von der Größe der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland – allein dies ist ein hochgradig umstrittenes und politisiertes Thema –, vom Ausmaß der Wasserverluste wegen undichter Leitungsrohre und von einer gründlichen Analyse der Ursachen für das Fehlen palästinensischer Klär- und Wasseraufbereitungsanlagen.“ Ermittlungen der Friends of the Earth Middle East zufolge habe der lokale Wasserverbrauch in Israel 2011 pro Kopf und Tag 250 Liter betragen – bei den Palästinensern seien es durchschnittlich 70 Liter, gewesen. 250:70, das entspricht einem Verhältnis von 3,6 zu 1, ist demnach nur ein bischen günstiger als die Relation, die sich aus den von Schulz genannten Zahlen ergibt.

Das Op-Ed „Naftali Bennet’s war on reality“ in der Wochenendausgabe von Haaretz zitiert eine Studie der Weltbank von 2011, wonach im Westjordanland das Wasser zwischen Siedlern und Palästinensern im Verhältnis 80 zu 20 (4 zu 1) aufgeteilt sein soll – diese Relation entspricht der von Schulz genannten, hat jedoch als Bezugsgröße nicht die Gesamtheit der Israelis und Palästinenser.

Unfruchtbare Schuldzuweisungen

Zu den Schwierigkeiten der Diagnose (ohne die es keine vernünftige Therapie gibt) gehört, dass beide Seiten der anderen die Schuld am palästinensischen Wasserversorgungsproblem geben:

  • Israelis werfen Palästinensern vor, mit ungeklärten Abwässern das Grundwasser zu verunreinigen – Palästinenser entgegnen, Israel hindere sie am Bau von Kläranlagen.

  • Palästinenser im Westjordanland klagen, israelische Siedler bewässerten ihre Felder zu Lasten der palästinensischen Landwirte – Israelis entgegnen, die marode Infrastruktur und die ineffizienten Methoden auf palästinensischer Seite hätten eine massive Wasservergeudung zur Folge.

  • Israelis kritisieren, die palästinensische Führung lehne israelische Versorgungsangebote aus politischen Gründen ab – Palästinenser entgegnen, Israel ziehe ihnen die eigenen Siedler systematisch vor.

In ihrem angenehm nüchternen „Project Appraisal Document On A Technical Assistance Grant“ vom 3. März 2011 macht die Weltbank deutlich, dass Schuldzuweisungen an die eine oder andere Seite nicht weiterhelfen. Sowohl Palästinenser als auch Israelis seien verantwortlich für die Wasserprobleme in den Palästinensischen Gebieten:

„Infolge von Restriktionen, die mit der israelischen Kontrolle über das Gebiet einhergehen, und weil die Wasserbestimmungen der Oslo-II-Zwischenvereinbarungen von 1995 (Artikel 40, Wasser und Abwasser) veraltet sind, haben es die Palästinenser mit einer der niedrigsten verfügbaren Wassermengen pro Kopf im gesamten Raum Nahost/Nordafrika zu tun (75 Kubikmeter pro Kopf und Jahr im Westjordanland und 125 Kubikmeter pro Kopf und Jahr im Gazastreifen, wobei eine Menge von weniger als 500 Kubikmetern pro Kopf und Jahr „water stress“ bedeutet). Im Westjordanland unterliegt die Entwicklung von Nutzungsmöglichkeiten und Infrastruktur für Wasser der israelischen Vetomacht im Rahmen des Joint Water Committee (JWC). Im Gazastreifen wird sie durch die Sicherheitsblockade eingeschränkt. Diese Restriktionen in Verbindung mit ineffizienten palästinensischen Institutionen und Betreibern sowie schnellem Bevölkerungswachstum verstetigen die Defizite bei Infrastruktur und Dienstleistungen im Bereich Wasserversorgung und Abwasserbehandlung und führen zu ständiger Vergeudung. Folgen sind eine enorme Abhängigkeit vom Wassertransport durch Tankwagen, Behelfslösungen für die Entsalzung von Brackwasser und für die Behandlung von anderem nicht trinkbarem Wasser sowie eine zunehmende Abhängigkeit vom israelischen Wasserversorger Mekorot. Diese Situation wirkt sich am stärksten im Gazastreifen, in der Zone C und auf die Armen aus. Die mangelnde Abwasserbehandlung trägt auch zu einer weit verbreiteten Kontamination der Aquifere bei. Überdies gibt es große Schwächen bei der Planung und Regulierung von Wasserressourcen; Sparpotentiale im landwirtschaftlichen Bewässerungssektor bleiben zum großen Teil unterentwickelt.

Dabei verbraucht die landwirtschaftliche Bewässerung schätzungsweise 60-70% der Wasserressourcen im Westjordanland und im Gazastreifen infolge ineffizienter Methoden und einer sich verschlechternden Infrastruktur. Bewässerungsfeldwirtschaft ist ein wichtiger Wirtschaftsbereich, der rund 12% zum (palästinensischen) BIP beträgt und in dem rund 117.000 Menschen beschäftigt sind. Allerdings führen die Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit und dem Güterexport, abnehmende Verfügbarkeit von Wasser, ineffiziente Bewässerungsmethoden sowie kaum noch erteilte Genehmigungen für die Erschließung neuer oder alternativer Wasserressourcen dazu, dass die Kosten bestehender Anbaumöglichkeiten in der Bewässerungsfeldwirtschaft erheblich sind.“

Lösungen gibt es – man muss sie nur praktizieren wollen

Der bereits zitierte Leitartikel der Jerusalem Post schließt mit konstruktiven Überlegungen, die das fruchtlose Hin und Her wechselseitiger Schuldzuweisungen zwischen Palästinensern und Israelis hinter sich lassen:

„Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Qualität und die Menge an Wasser, das den Palästinensern im Westjordanland zur Verfügung steht, sich deutlich verbessert hat seit 1967, als Israel das Gebiet unter seine Kontrolle nahm. Palästinenser erhalten heute mehr und besseres Wasser als die Bewohner vieler Nachbarländer. Aber es kann mehr getan werden.

Dank der von Israel ausgiebig praktizierten Wasserentsalzung, die für den größten Teil unseres Trinkwassers sorgt, haben wir Wasser übrig. Den Palästinensern bei der Lösung ihrer Wasserprobleme zu helfen, ist nicht nur in der Sache richtig; es würde Israel auch erhebliche politische Pluspunkte in den Augen der Völkergemeinschaft einbringen, und zwar zu relativ niedrigen Kosten.

Statt auf Schulz einzudreschen, der der Knesset doch nur das unter unseren palästinensischen Nachbarn weit verbreitete Gefühl übermittelte, unsere Wasserpolitik sei diskriminierend, sollten unsere Abgeordneten sich die Botschaft des deutschen Politikers zu Herzen nehmen und Schritte unternehmen, um der Situation abzuhelfen.“

Und die palästinensische Seite, so wäre hinzuzufügen, sollte selbstkritisch prüfen, ob etwas dran ist an dem Vorwurf, sie lehne „aus politischen Erwägungen heraus“ israelische Hilfsangebote systematisch ab.

Nachlese / Updates

18. Februar 2014: In der Analyse „Fresh Water and old assumptions“ für die Jerusalem Post bezieht sich Joel H. Golovensky, Gründungspräsident des Institute for Zionist Strategies, auf die im Januar 2012 publizierte, von Haim Gvirtzman verfasste und vom (als politisch rechts geltenden) Begin-Sadat Center for Strategic Studies an der Bar-Ilan-Universität herausgegebene Studie „The Israeli-Palestinian Water Conflict: An Israeli Perspective“. Er nennt als Zahlen (für das Jahr 2006) 170 Kubikmeter Frischwasser pro Kopf und Jahr für die israelische und 129 für die palästinensische Seite. Das entspricht einem Verhältnis von rund 1,3 zu 1.

18. Februar 2014: Einat Wilf, ehemalige Knesset-Abgeordnete (Arbeitspartei, später Unabhängigkeitspartei) kritisiert im Gastbeitrag „Faktencheck für Martin Schulz“ für die Süddeutsche Zeitung, Schulz habe mit seiner Frage eine rhetorische Figur verwendet, die strukturell folgender Frage ähnele: „Ein Christ, ein Freund, hat mir erzählt, dass die Juden zum Pessach-Fest das Blut kleiner Kinder in den Mazzen verbacken. Ich habe das nicht überprüft – aber stimmt das?“ Zur Verteilung der Wasserressourcen meint Wilf: „Es gibt da sehr verschiedene Zahlen. Meist geht man davon aus, dass Palästinenser zwischen 73 bis 129 Kubikmeter Trinkwasser pro Person und Jahr verbrauchen. Die Israelis verbrauchen diesen Zahlen zufolge zwischen 170 und 180 Kubikmeter Trinkwasser pro Person und Jahr – hinzu kommt noch wideraufbereitetes Brauchwasser. Diese Zahlen sind jedenfalls sehr anders als jene, die Schulz zitiert hat.“ – 180:129 – das entspricht einem Verhältnis von rund 1,4 zu 1.

14. Februar 2014: Im Beitrag „Der Wasserkrieg in Nahost“ für israelnetz.com schreibt der deutsche Israel-Korrespondent Ulrich W. Sahm: „Im Jahr 2010 standen jedem Israeli 160 Kubikmeter zur Verfügung und jedem Palästinenser 129. Die Weltbank errechnete für Israelis 240 Kubikmeter, weil sie neben Frischwasser auch das aufbereitete Grauwasser mitrechnete.“ Das entspricht einem Verhältnis von rund 1,2 zu 1. „In Israel“, so Sahm, „ entspricht der Wasserverlust – durch gebrochene Rohre – mit 10 Prozent dem Durchschnitt in Industriestaaten. Bei den Palästinensern liegt der Verlust durch Diebstahl und mangelhafte Infrastruktur bei 33 Prozent.“

13. Februar 2014: Hans-Christian Rößler, Israel-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bezieht sich in seinem Bericht „Verwirrende Wasserzahlen“ auf einen Anfang 2014 veröffentlichen Bericht der (als politisch links geltenden) israelischen Menschenrechtsorganisation Betselem: „Die von Schulz zitierten Zahlen wirken … in der Tat eigenartig niedrig. Laut … Betselem verbrauchen Palästinenser im Westjordanland täglich etwa 73 Liter; im Norden sind es demnach in manchen Orten sogar nur 37 Liter. Den Pro-Kopf-Verbrauch in Israel beziffern die Menschenrechtler auf zwischen 211 und 242 Liter – mindestens drei Mal so viel wie in den Autonomiegebieten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt als ein Minimum täglich 100 Liter; dabei ist aber auch der Verbrauch in Krankenhäusern, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen eingerechnet.“ – 211:73 bzw. 242:73, das entspricht rund 2,9 zu 1 bzw. 3,3 zu 1.

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