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Country Reports

Bombardierte Wahlen

by Dr. Hardy Ostry, Gerrit F. Schlomach

Zerreißprobe im Libanon vor Präsidentschaftswahlen

Es war ein Wahlauftakt wie ihn keiner sich wünschte, und ihn dennoch viele befürchteten: Nur Tage vor den am 25. September beginnenden Präsidentschaftswahlen im Libanon sind Terror und Gewalt zurückgekehrt nach Beirut und markieren mit sechs Toten und mehr als 60 Verletzten den letzten traurigen Auftakt im Kampf um das höchste – wenngleich heute mehr repräsentative – Amt im Staat. Rund 30 Kilogramm TNT sprengten nach Angaben der Sicherheitskräfte den Wagen des christlich-maronitischen Abgeordneten Antoine Ghanem (64) sowie seine Begleiter im Beiruter Stadtteil Sin El Fil am 19. September in die Luft und hinterließen eine Trasse der Verwüstung.

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Der erst zwei Tage zuvor eigens wegen der Präsidentschaftswahlen aus Europa zurückgekehrte Rechtsanwalt gehörte der regierenden Mehrheitskoalition unter Premier Fouad Siniora und dem anti-syrischen Bündnis um Saad Hariri, Amine Gemayel und Walid Jumblatt an. Siniora reagierte prompt und erklärte auch verbal den offensichtlichen Zusammenhang zu den anstehenden Wahlen. „Das Attentat ist eine klare Nachricht, um die Stimmen der Freiheit und Unabhängigkeit verstummen zu lassen“, so der Regierungschef. Unmittelbar nach dem Attentat verurteilte Saad Hariri, Führer des Future Movement, die Ermordung des Abgeordneten und verwies auf Syrien, wo er die dafür Verantwortlichen ausmacht. „Ich habe noch nie ein feigeres Regime gesehen, als das von Bashar Assad“, erklärte Hariri gen Damaskus, das die Tat unmittelbar verurteilte und reflexartig jede Verwicklung bestritt. Ghanem ist der vierte Parlamentarier und Vertreter der 14. März Bewegung, der den seit der Ermordung Rafik Hariris im Februar 2005 begonnenen Attentaten auf Politiker der anti-syrischen Mehrheit im Parlament erlag. Nach der Ermordung des Abgeordneten und Medienmoguls Gebran Tueni im Dezember 2005 folgten Attentate auf Industrieminister Pierre Gemayel im November letzten Jahres sowie auf den Anwalt Walid Eido im Juni 2007. Die Ermordung Ghanems, Mitglied der Phalangisten-Partei, nur wenige Tage vor dem von Parlamentssprecher Nahib Berri festgesetzten Beginn der Wahlen für die Nachfolge des im November aus dem Amt scheidenden Präsidenten Emil Lahoud erhöht die politischen Spannungen im Land und belastet den Dialogprozess zwischen den rivalisierenden Lagern der anti-syrisch sunnitisch-drusisch-christlichen Bewegung des 14. März und der pro-syrisch schiitisch-christlichen Bewegung des 8. März um Hisbollah-Führer Nasrallah, Parlamentssprecher Berri und den christlich-maronitischen General Michel Aoun.

Vordergründiger Konflikt um Präsidentenwahl

Bereits seit Wochen liefern sich beide Lager heftige Auseinandersetzungen um die verfassungsgemäße Wahl des neuen Staatsoberhauptes des Zedernlandes, das traditionell gemäß des konfessionellen Systems im Libanon mit einem christlichen Vertreter besetzt wird, wobei das Amt des Premiers an einen Sunniten, das Amt des Parlamentssprechers an einen Schiiten geht. Insbesondere die Aufsplitterung des christlichen Lagers durch General Aoun, der im Mai 2006 eine Allianz mit der Hisbollah-Führer Nasrallah einging, macht diese Wahlen so schwierig. Vordergründung geht es im Streit zwischen anti-syrischen und pro-syrischen Kräften um die Interpretation des Artikels 49 der libanesischen Verfassung, der festhält, der „Präsident der Republik soll durch geheime Stimmabgabe und von einer zwei-drittel Mehrheit der Abgeordnetenkammer gewählt werden. Nach der ersten Stimmabgabe, reicht die absolute Mehrheit“. Hisbollah-Vertreter und General Aoun vertreten die Auffassung, daß sich bei den Vorgaben für den ersten Wahlgang um ein Quorum handele, demnach alle Abgeordneten vertreten sein müssten und der erfolgreiche Kandidat demnach eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen müsste. Das würde im Klartext bedeuten, die Mehrheitsfraktion um Saad Hariri könnte keinen Kandidaten ohne die Zustimmung der schiitisch-christlichen Minderheitsfraktion durchbringen. Folgerichtig machten Hariri, Gemayel und Jumblatt im Vorfeld deutlich, dass sie nach einem nicht erfolgreichen ersten Wahlgang unmittelbar zum zweiten übergehen würden, wo zur Wahl des Präsidenten die absolute Mehrheit ausreicht, über die das Lager derzeit noch verfügt. Der Vorsprung ist dabei deutlich dünn geworden: 65 Sitze von 128 können dem Hariri-Lager zugerechnet werden, 62 der Opposition. Konsequenz einer solchen Wahl im Alleingang wäre zweifelsohne, dass sich die politischen Spannungen und die dadurch offensichtlich ausgedrückte Missachtung der schiitisch-christlichen Opposition weiter potenzieren würden. Vor diesem Hintergrund hatte Parlamentsprecher Berri vor einigen Wochen erst eine Initiative gestartet, die zum Ziel hat, im Konsens einen Kandidaten vorab zu bestimmen, der die Zustimmung aller erhalten würde. Dafür war Berri mitsamt der Hisbollah auch von seiner vorherigen Maximalforderung abgegangen, zuerst eine neue Nationale Einheitsregierung begründen zu wollen, um dann die Frage des Präsidentenamtes m Konsens zu lösen.

Externe und interne Konfliktfaktoren trennen Regierungslager und Opposition

Die Konfliktlinien zwischen Regierungslager und Opposition im Parlament verlaufen allerdings nicht allein entlang der vielseitigen Interpretation der Verfassung, sondern gründen sich auch auf der grundsätzlichen Auseinandersetzung um die Rolle der Hisbollah im Land. Fühlte sich die Hisbollah durch den Ausgang des Juli-Krieges 2006 in ihrer Rolle als „Widerstandsgruppe“ bestärkt und vermochte es weiterhin, ihre Struktur als „Staat im Staat“ aufrecht zu erhalten, so versuchte Premier Siniora, den Einfluß- und Machtbereich der Bewegung so weit wie möglich einzuschränken. Der Regierungschef sieht in der Schiiten-Bewegung eine große Gefahr für die Existenz des Landes und nahm es gelassen hin, als die zwei Vertreter der Hisbollah sowie vier weitere schiitische Minister im November letzten Jahres das Kabinett verließen. Seitdem sieht sich der Premier einer ständigen Belagerung seines Amtsitzes durch Anhänger der Opposition sowie dem Vorwurf ausgesetzt, er würde einer nicht verfassungskonformen Regierung vorstehen, da diese nicht alle Bevölkerungsgruppen – wie in der Verfassung vorgegebenen – repräsentiere. Die Opposition wird seitdem nicht müde mit Versuchen, diesen wunden Punkt der derzeitigen Regierung politisch in bare Münze umzusetzen und fordert daher die Errichtung einer Nationalen Einheitsregierung, in der zumindest Drei-Viertel der Kabinettsposten von Schiiten besetzt würden. Das würde – ebenfalls nach der Verfassung – de facto ein Vetorecht bedeuten. Siniora konnte derlei Forderungen bislang abwiegeln, auch Dank der internationalen Unterstützung, die er und seine Regierung durch die USA und Europa erfahren, womit eine weitere Konfliktlinie benannt wäre: Die Internationalisierung der inner-libanesischen Probleme. Die Schwäche des libanesischen politischen Systems hat es ermöglicht, dass das Land zum Austragungsort internationaler Konflikte wurde, so dass sich regionale, ja globale Konfliktlinien wie die Auseinandersetzung zwischen Syrien und Iran einerseits sowie den USA andererseits auch in der Innenpolitik des Landes widerspiegeln.

Streit um Präsidentenamt spaltet das Land

Viele Beobachter erinnert die derzeitige Situation an die Zeit kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahre 1975, als das konfessionell-sektiererische Politiksystem erstmals scheiterte. Das Attentat auf Ghanem hat den Druck und die Unsicherheit unter Libanons Politik-Eliten erhöht. Parlamentssprecher Berri ließ bereits verkünden, es werde am 25. September wohl zu keiner Abstimmung kommen, eher wolle man die Sitzung unter den gegebenen Umständen als eine Gelegenheit für die Parlamentarier nutzen, sich abzustimmen und abzusprechen, um mitunter in der Folgezeit einen Konsenskandidaten präsentieren zu können. Das zumindest war auch das Ergebnis eines vertraulichen Gespräches zwischen Berri und Amine Gemayel am Wochenende. Libanons ehemaliger Präsident erklärte dabei, man werde Konsultationen beginnen, an deren Ende der Konsens über einen Präsidenten bestehen könnte, „der alle Libanesen zusammen bringen kann“. Dies würde zumindest derzeit dafür sprechen, dass die Mehrheitskoalition wohl angesichts der verbleibenden dünnen Mehrheit von nur zwei Mandaten nicht daran denkt, in einem möglichen zweiten Wahlgang, ihren Kandidaten gegen die Opposition durchzusetzen. Andererseits scheint unter den gegebenen Umständen auch nicht mehr möglich zu sein, da Sicherheitsbedenken viele Parlamentsabgeordnete, insbesondere Vertreter der Mehrheitskoalition, davon abhalten werden, überhaupt im Parlament zu erscheinen. Seit dem Wochenende gleicht das Parlamentsgebäude in der Beiruter Innenstadt bereits eher einer Bastion als einem Gebäude der Volksvertreter. Viele der rund 40 aus dem Ausland eigens zur Wahl zurückgekehrten Parlamentarier sind zudem in dem einem Hochsicherheitstrakt gleichenden Hotel untergebracht. Während Walid Jumblatt bereits am Sonntag verkündet hatte, er habe eine Verschwörung aufgedeckt, nach der vier weitere Abgeordnete des Regierungsbündnisses einem Attentat hätten zum Opfer fallen sollen, womit sich das Blatt wenden würde und die Hisbollah und ihre Verbündete ihren Kandidaten durchsetzen könnten. Die Hisbollah hatte bereits bekannt gegeben, dass sie an einer Wahlsitzung nicht teilnehmen werde, sollte nicht im Vorfeld ein Konsenskandidat bestimmt worden sein. Dies wiederum würde das erforderliche Quorum zu Fall bringen. Beobachter gehen davon aus, dass eine erste Wahlsitzung des Parlaments von Sprecher Berri innerhalb eines Monats nach dem Ende des Ramadan einberufen wird.

Viele Szenarien – kein Königsweg

Derweil werden die Szenarien bedacht, die am Ende zu einem neuen Präsidenten führen könnten. Der Verfassung nach hat das Parlament 60 Tage Zeit, den neuen Präsidenten zu wählen, der am 24. November Emil Lahoud nachfolgen soll. Sollten sich Mehrheitskoalition und Opposition definitiv nicht auf einen Kandidaten einigen, droht der präsidiale Super-GAU: Zwei-Regierungen beanspruchen die Macht. Denn sollte es bis zum Stichtag keinen neuen Präsidenten geben, könnte Siniora gleichwohl weiterhin Exekutivgewalt ausüben, auf sein Kabinett gingen demnach sogar die Befugnisse des Präsidenten über (Art. 62 der libanesischen Verfassung). Eine Situation, die der scheidende Präsident in jedem Falle vermeiden will. Lahoud, der die Regierung Siniora nicht anerkennt und diese als nicht verfassungsgemäß ansieht, könnte demnach nach Art. 53 der Verfassung in einem letzten Amtsakt das Kabinett Siniora entlassen und neue Konsultationen mit Parlamentsabgeordneten eingehen. Da davon auszugehen ist, dass an derlei Gesprächen kein Vertreter des 14. März teilnehmen würde, würde die neu ernannte Regierung auch kaum deren Vertreter mit einschließen, gleichwohl hätte Lahoud die verfassungsgemäße Vorgabe eingehalten, dem Votum der versammelten Parlamentsmehrheit zu folgen. Dieses Szenario, das bei weitem nicht so unrealistisch scheint, offenbart zugleich, wobei es beim Streit ums Präsidentenamt an sich geht: Denn trotz des Taif-Abkommens, das die Machtfülle des Präsidenten weitgehend beschränkt hat, kommt ihm unter gewissen Konstellationen wie der jetzigen eine Schlüsselrolle bei der Regierungsbildung zu. Lahoud selbst hatte im August zudem ins Gespräch gebracht, im Falle des Scheiterns der Präsidentenwahl mit dem Oberbefehlshaber der Armee, Michel Suleiman, einen Interims-Präsidenten zu installieren. Dafür wiederum müsste die Verfassung geändert werden, da ein Präsident bis zwei Jahre vor seiner Wahl kein höheres Funktionärsamt innegehabt haben darf. Ein weiteres, derzeit wahrscheinliches Szenario könnte darin bestehen, dass die Kräfte des 14. März eine von der Verfassung gegebene Möglichkeit nutzen, bei erfolglosen Bemühungen um die Wahl eines Präsidenten zehn Tage vor Ablauf des Mandates aus eigener Kraft zusammenzutreten, um einen neuen Präsidenten mit einfacher Mehrheit zu wählen. Eine solche Wahlsitzung muss nicht vom Sprecher des Parlaments einberufen werden und könnte der Mehrheitskoalition die Chance geben, einen ihrer Kandidaten zu wählen. Doch auch dieser Weg würde zweifelsohne die Spaltung im Land nur noch vertiefen und die Spannungen erhöhen. Offensichtlich ist, dass es keinen Königsweg gibt, außer den Weg eines echten Dialoges beider Seiten, der Versuche externer Einflussnahme ausschließt und den Auftakt dazu bilden muss, an die Stelle des konfessionellen Systems eine neue politische Ordnung im Land zu etablieren. Erst dann, so ein libanesischer Beobachter, „ist der Bürgerkrieg wirklich vorbei“.

„Es kann kein Land oder keine Würde ohne die Einigkeit des Volkes geben, und es kann keine Einigkeit ohne eine Übereinkunft sein, und es kann keine Übereinkunft ohne Versöhnung sein, und da kann keine Versöhnung ohne Vergebung und Kompromiss sein.“ René Mouawad (ermordeter libanesischer Präsident)

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