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Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Länderberichte mal anders

Inklusion von Menschen mit Behinderung in Vietnam

dari Niklas Beke-Bramkamp

Inklusion weltweit – Aktueller Stand aus Vietnam

Menschen mit Behinderung haben in Vietnam mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Nicht nur durch fehlende Mobilität in Großstädten, deren Infrastrukturen oftmals nicht auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet sind; sie erhalten dazu kaum Hilfe vom Staat. Neben finanziellen Existenzängsten müssen Menschen mit Behinderung in Vietnam so auch einen erschwerten Zugang zu Bildung beklagen. Circa 7% der Bevölkerung in Vietnam sind betroffen, sie leiden mitunter an den Spätfolgen des chemischen Entlaubungsmittels Agent Orange, eingesetzt von der US-Armee während des Vietnamkriegs. Für die KAS ist es wichtig, diese Situation zu thematisieren und dazu beizutragen, ein gleichberechtigtes Umfeld in Vietnam zu schaffen.

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Die größten Herausforderungen im Alltag für Menschen mit Behinderung in Vietnam

Menschen mit Behinderung haben auch in den meisten westlichen Ländern mit einigen Problemen im Alltag zu kämpfen. In Entwicklungsländern wie Vietnam machen sich diese noch stärker bemerkbar, da die Menschen hier vergleichsweise weniger staatliche Unterstützung erhalten und die gesellschaftliche Wahrnehmung für ihre Bedürfnisse noch nicht im gleichen Maß vorhanden ist.

In Vietnam ist das etwa im Verkehr zu sehen. Die Infrastruktur in Großstädten wie Hanoi oder Ho Chi Minh City ist nur sehr bedingt auf die Teilhabe von Menschen mit Behinderung ausgelegt, insbesondere von Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen. Selbst ohne Handicap tut man sich mitunter schwer, inmitten von Rollern und Autos die Straße zu überqueren; sitzt man im Rollstuhl, kann es zum unmöglichen Unterfangen werden.

Die 32-jährige Hieu Luu dokumentiert täglich diesen Kampf um Rücksichtnahme. Sie sitzt im Rollstuhl und zeigt unter dem Namen @crazy_freewheeler Videos auf der Social Media Plattform Tik Tok, in denen deutlich wird, wie schwer es für Menschen mit Behinderung in Vietnam ist, von A nach B zu kommen.

Dass dies auch anders gehe, macht sie auch klar: während sie in Japan sogar im Rollstuhl Skifahren konnte, gibt es in Hanoi nur zwei Busunternehmen, deren Fahrzeuge überhaupt Zugangsrampen haben. Sieht man solche Dinge in Deutschland als selbstverständlich an, reicht ein Blick nach Vietnam, um zu erkennen, dass in vielen Ländern noch keine ausreichende Sensibilisierung zu diesem Thema vorhanden ist.

 

Staatliche Unterstützung für Menschen mit Behinderung

Circa 7% der vietnamesischen Bevölkerung lebt mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, also über 6,5 Millionen Menschen. Besonders viel Hilfe von der vietnamesischen Regierung erhalten sie aber nicht. Eine Million Dong monatlich, umgerechnet etwa 40 Euro, reichen hinten und vorne nicht für den Lebensunterhalt, selbst bei den günstigen Lebensmittelpreisen in Vietnam. 2010 wurde das Gleichstellungsgesetz erlassen, mit dem sichergestellt werden sollte, dass Menschen mit Behinderung an allen Bereichen des öffentlichen Lebens teilnehmen können. In der Praxis geschieht davon allerdings wenig. Des Weiteren ist der Gesetzestext wenig rücksichtsvoll geschrieben: er definiert Behinderung als „eine Beeinträchtigung der körperlichen Struktur, die zu Schwierigkeiten bei der Arbeit, im Leben und im Studium führt“. Menschen mit Behinderung werden als Belastung gesehen, was auch die fehlende Unterstützung und Sensibilisierung erklärt. 

 

Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung

Ein weiterer Aspekt ist der erschwerte Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, insbesondere im ländlichen Raum. Schulen und Universitäten verfügen selten über die Mittel, um Kindern mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Daneben sind die Gebäude für Kinder mit Behinderung oft nur schwer zugänglich. Dies führt Betroffene in einen Teufelskreis, aus dem sie schwer wieder herauskommen. Denn der Zusammenhang zwischen fehlendem Zugang zu Bildung und Armut ist insbesondere in Entwicklungsländern stark ausgeprägt. Durch Ausgrenzung im jungen Alter haben es Kinder mit Behinderung auch schwerer, später im Leben zurecht zu kommen.

Hinzu kommt, dass Kinder mit Behinderung oft Opfer von Mobbing und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Hier spielt wieder die fehlende Sensibilisierung für Menschen mit Behinderung eine Rolle.

Das Gesundheitssystem in Vietnam ist für Menschen mit Behinderung ebenfalls problematisch. Wenngleich in den Städten die Versorgung im Privatbereich durchaus sehr gut ist, ist sie doch mit hohen Kosten verbunden. Im öffentlichen Bereich und im ländlichen Raum gibt es weiterhin große Lücken in der Gesundheitsversorgung. Das Risiko von Armut betroffen zu sein wird so nochmals vergrößert.

Das Zusammenspiel all dieser Faktoren macht es Menschen mit Behinderung enorm schwer, eine normale gesellschaftliche Teilhabe zu erfahren. Das Beispiel der Zugangsrampen an Bussen, die in Deutschland oder Industrienationen in Asien als selbstverständlich gelten, zeigt, wie unterschiedlich die Herangehensweisen noch sind. Insgesamt ist also von zentraler Bedeutung, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung mehr in den Vordergrund zu stellen und darauf aufmerksam zu machen, dass vonseiten der vietnamesischen Regierung, aber auch insgesamt in der vietnamesischen Gesellschaft, mehr getan werden muss, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden.

 

Die Spätfolgen von Agent Orange und das „Dorf der Freundschaft“

Noch immer leiden viele Menschen in Vietnam an den Spätfolgen des Vietnamkriegs. Insbesondere das chemische Entlaubungsmittel Agent Orange, eingesetzt von der US-Armee zwischen 1965 und 1970, hat verheerende gesundheitliche Auswirkungen gehabt. Mehr als eine Million Vietnamesinnen und Vietnamesen sind von Spätfolgen betroffen, darunter 300.000 Kinder, die fast 50 Jahre nach dem Krieg immer noch mit furchtbaren Fehlbildungen und Krankheiten geboren werden. Bis heute gab es keine Entschädigung für die vietnamesischen Opfer von Agent Orange, eine Klage wurde 2005 in den USA abgewiesen. Die meisten Menschen können nicht angemessen medizinisch versorgt werden und sind auf die geringen Hilfen der vietnamesischen Regierung angewiesen.

Eine große Ausnahme bildet hier das „Dorf der Freundschaft“ im Westen von Hanoi. Es wurde vor 25 Jahren auf Bemühen eines ehemaligen USSoldaten als internationales Versöhnungsprojekt gegründet und zeigt, dass die Rücksichtnahme für Menschen mit Behinderung in Vietnam auch sehr groß sein kann. Mehr als 120 Kinder, die alle an den Spätfolgen von Agent Orange leiden, sowie jährlich mehr als 600 Veteranen des Krieges werden hier versorgt. Die Kinder bleiben für zwei bis drei Jahre im Dorf und erhalten hier medizinische Versorgung, Unterricht und eine Betreuung, die voll auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Während meiner Recherchearbeit für diesen Länderbericht bin ich auf das „Dorf der Freundschaft“ gestoßen und konnte mir bei einem Besuch dort auch selber ein Bild der Lage machen. Die Kinder wohnen dort betreut, eine Hausmutter ist für circa 15 Kinder zuständig. Die Klassen sind relativ klein, die Kinder lernen hier Zahlen oder das Alphabet. Bei Lernunterschieden können sie auch schnell in Klassen kommen, die andere Ansprüche haben, um bessere Lernfortschritte zu erzielen. Außerdem können sie sich sportlich betätigen und kommen in Kontakt mit Hunden und anderen Tieren.

Unterstützt wird das Dorf von einer Reihe von internationalen Partnern. Das Center for Sustainable Development Studies in Vietnam und zwei weitere NGOs koordinieren den Einsatz von Freiwilligen im Dorf. Bei meinem Besuch konnte ich mich etwa mit drei Freiwilligen aus Dänemark und den Niederlanden austauschen, die später im therapeutischen Bereich tätig sein wollen und im „Dorf der Freundschaft“ Arbeitserfahrung sammeln, aber vor allem das Personal vor Ort unterstützen können. Über 50 Lehrende, Betreuer und Angestellte in der Verwaltung sind im Dorf tätig.

Finanziert wird das Dorf hauptsächlich durch Spenden. So sammelte etwa der in Deutschland ansässige Verein „Dorf der Freundschaft e. V.“ letztes Jahr über 80.000 Euro an Spendengeldern ein. Dieses Geld wird vor Ort dringend benötigt.

Das „Dorf der Freundschaft“ zeigt, dass gleichberechtigter Zugang zu Bildung in Vietnam durchaus möglich ist. Was fehlt, sind die finanziellen Mittel, um diese Betreuung der breiten Masse an Kindern mit Behinderung in Vietnam möglich zu machen. Das Modell dieses Dorfes in Hanoi ist in dieser Form einzigartig in Vietnam. Menschen in Südvietnam, die an den Spätfolgen von Agent Orange leiden, fehlt beispielsweise eine derartige Behandlungsmöglichkeit.

Wie bereits erwähnt sind etwa 300.000 Kinder in Vietnam von den Spätfolgen von Agent Orange betroffen. All ihnen eine Behandlung wie im Dorf zukommen zu lassen, scheint aus Kostengründen unrealistisch, jedoch wäre es erstrebenswert, weitere Anlaufstellen wie das „Dorf der Freundschaft“ zu schaffen, um Menschen und insbesondere Kinder mit Behinderung in Vietnam mehr zu unterstützen.

 

Veränderte Wahrnehmung im Umgang mit Menschen mit Behinderung in Vietnam

Die Beispiele in diesem Bericht haben aufgezeigt, dass derzeit noch zu wenig Unterstützung für Menschen mit Behinderungen in Vietnam vorhanden ist. Eine veränderte Wahrnehmung im Umgang mit Behinderungen wäre ein wichtiger Schritt, um das gesellschaftliche Stigma zu durchbrechen und die vietnamesische Regierung zu animieren, mehr für diese Menschen zu tun.

Insbesondere der Fakt, dass Menschen mit Behinderung in Vietnam eher als Belastung angesehen und ausgegrenzt werden, ist für Betroffene häufig ein schweres Schicksal. Dabei können Menschen, die durch eine Behinderung beeinträchtigt werden, auch sehr viel zur Gesellschaft beitragen.

Ein gutes Beispiel hierfür ist der junge Friseur Tommy aus Hanoi. Im Stadtteil Tay Ho in der Hauptstadt betreibt er einen kleinen Friseursalon an der Straße, trotz seiner Taubheit kann er sich mit den meist ausländischen Kunden sehr gut verständigen. Tommy ist im Viertel sehr beliebt und hat vor allem ein Händchen für eher westliche Haarschnitte.

Für vietnamesische Verhältnisse verdient er gut, auf Facebook folgen seiner Seite mehr als 8.000 Menschen. Er zeigt, dass Menschen mit Behinderung auch in Vietnam ein Gewinn für die Gesellschaft sein können. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Tatsache auch zukünftig in der Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse in Vietnam durchsetzt.

 


 

Referenzen:

  • Disability and Poverty in Vietnam (The World Bank Economic Review, Volume 25, Issue 2, 2011, Pages 323–359)
  • Engaging girls with disabilities through cellphilming (Childhood, 28(3), 2021, 380–394)
  • Engaging girls with disabilities in Vietnam: making their voices count (Disability & Society, 30(5), 2015, 773-787)
  • Vietnam: Die stillen Opfer von Agent Orange (Deutsches Ärzteblatt, 106(9), 2009, 398-399)
  • Health Benefits of Education: Comparative Evidence from Vietnam and Thailand (SAGE Open, 12(2), 2022)
  • Gesundheitssystem in Vietnam: Ernüchternde Parallelwelten (Deutsches Ärzteblatt, 106(6), 2009, 235-239)
  • Perceptions of Disability in the Vietnamese American Community (Thompson Policy Institute, Chapman University, 2018)
  • Die unzugängliche Stadt (Frankfurter Rundschau, 2022, Seite 26

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Barbara Bergmann

Barbara Bergmann bild

Referentin für Inklusionsfragen in der Europäischen und Internationalen Zusammenarbeit

Barbara.Bergmann@kas.de +49 30 26996-3528 +49 30 26996-53528
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Florian C. Feyerabend

Florian Constantin Feyerabend (2020)

Leiter des Auslandsbüros Vietnam

florian.feyerabend@kas.de

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