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Einzeltitel

Zeichen der Verständigung

Prof.DDr.Dr.h.c. Eugen Biser

Eine Neugestaltung des Verhältnisses der Weltreligionen

Vortrag von Prof. Dr. Dr. Eugen Biser

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Ich bedanke mich zunächst bei der Leitung der Konrad-Adenauer-Stiftung für diese ehrenvolle Einladung und bei Ihnen, liebe Frau Lermen, dass Sie mich in dieses Konzert einbezogen haben.

Meine Damen und Herren, im Herbst des Jahres 1453 schrieb der Ihnen allen bekannte moselländische Kardinal Nikolaus von Kues eine Schrift, die mir geradezu programmatisch zu sein scheint für unsere gegenwärtige Zeit: Der Glaubensfriede - De pace fidei. Unter dem Eindruck der fürchterlichen Massaker, die bei der Eroberung Konstantinopels in den Maitagen des Jahres 1453 geschehen waren, als man den Kaiser am Abend der Schlacht nur noch an den Schuhen zu identifizieren vermochte – unter dem Eindruck dieses schrecklichen Massakers schrieb Nikolaus von Kues diese Schrift und steigerte sich dabei in die Idee eines himmlischen Konzils. In dieser fiktiven Vision gaben die Trauerboten aus aller Welt dem König der Könige, also Gott, Rechenschaft über die Zustände der Religionen und führten darüber Klage, dass ausgerechnet im Namen der Religion Jesu Christi, aber auch der anderen Weltreligionen, Grausamkeiten verübt und Menschen zur Verleugnung ihrer angestammten Religion gezwungen oder gar umgebracht werden. Die Schrift gipfelt in der Bitte an den König der Könige, gegen dieses Unheil einzuschreiten. Grundgedanke der Schrift ist: Alle Schwierigkeiten, die ganzen Konflikte zwischen den Konfessionen, kommen von mangelnder Gotteserkenntnis. Gott möge sich deutlicher zu erkennen geben, dann endlich würde Frieden in den Religionen einkehren.

Ich habe deswegen auf diese Schrift zurückgegriffen, weil sie mir symptomatisch für unsere gegenwärtige Situation zu sein scheint. Wir haben einen Krieg in diesem Jahre erleben müssen, den ich als ein absolutes Desaster empfinde – trotz der begrüßenswerten Beseitigung des Saddam-Hussein-Regimes. Die Frage, die ich zunächst stellen möchte, ist: Was hätte denn eigentlich geschehen müssen? Meine Antwort wird vielen von Ihnen einleuchten, anderen gar nicht. Sie heißt: Der Papst hätte nach Bagdad reisen müssen. Im großen Konzert seiner Weltreise wäre das die Krönung gewesen. Ich weiß nicht, ob sie ihm jemals insinuiert worden ist, ich weiß nur, dass der chaldäische Erzbischof von Basra mir persönlich sagte, dass er den Papst nach Bagdad eingeladen habe und dass dieser Einladung nur mit der Entsendung hoher Würdenträger Folge geleistet wurde. Wäre es geschehen, so wäre nach meiner Überzeugung ein eminent positives Zeitzeichen gesetzt worden, ein Zeichen der Bereitschaft der Versöhnung der Weltreligionen, besonders hinsichtlich des tief traumatisierten Islam. Im Hinblick auf den faktischen Gang der Dinge müssen wir die Frage stellen, was aktuell geschehen kann, nachdem dieses Traumbild nicht realisiert werden konnte.

Ich antworte: Wir müssen zunächst einmal prüfen, ob es überhaupt eine Verständigung zwischen den Weltreligionen gibt. Wie sie alle wissen, hat der Islam seinen Siegeszug als Schwertreligion angetreten. Aber die Christenheit hat durchaus ein ähnliches Sündenregister auf sich geladen. Wenn man bedenkt, dass Jesus, aus der Perspektive der Zeitgeschichte gesehen, gekommen war, um sein eigenes israelisches Volk vor der Katastrophe eines Krieges gegen Rom zu bewahren, und dass er anstelle der zelotischen Agitationen den Weg der absoluten Gewaltlosigkeit gesucht hat, muss man sagen, dass die Geschichte der Christenheit weitgehend diesem Vermächtnis Jesu Christi Hohn gesprochen hat. Aber die viel schlimmere theologische Konsequenz, auf die ich doch auch hinweisen möchte, besteht in der Erkenntnis: Solange in den Kirchen – und ich mache keinen Unterschied zwischen den einzelnen Konfessionen – Gewalt geübt oder auch nur Gewalt billigend hingenommen worden ist, war es nach meiner Überzeugung unmöglich, in die Mitte des Evangeliums einzudringen. Es lag eine dunkle Wolke über dem Zentrum des Evangeliums Jesu Christi, bis das Zweite Vatikanische Konzil der Praxis der Gewalt in den Kirchen eine absolute Absage erteilte und stattdessen den Dialog als das einzig humane und christliche Prinzip der Verständigung und der Beseitigung von Konflikten auf den Schild gehoben hat. Erst seit dieser Zeit ist es überhaupt möglich, ins Zentrum des Evangeliums einzudringen und dort das zu entdecken, was Jesus in seiner religionsgeschichtlichen Großtat bewirkt hat.

Jesus brach mit dem ambivalenten Gott, der auf der einen Seite tröstet, hilft und liebt und auf der anderen Seite unnachsichtig rächt und straft. Er hat an die Stelle dieses zwiespältigen Gottesbildes, mit dem ja kein Mensch glücklich werden kann, weil man im Fall der Liebeszuwendung immer auch das drohende Strafgericht fürchten muss, den eindeutigen Gott der bedingungslosen Liebe gesetzt.

Was können wir tun? Wir müssen – und das ist meine erste Antwort – zunächst auf der Möglichkeit der Versöhnung der Konfessionen bestehen. Um es kurz zu machen: Gerade die beiden Religionen, mit denen wir in einem konfliktreichen Verhältnis stehen, Judentum und Islam, haben ja eine wurzelhafte Gemeinsamkeit, ungeachtet all der Tragödien, die in der Geschichte aufgehäuft worden sind. Und diese Gemeinsamkeit besteht in dem Wort „Frieden“ – „Schalom“. Es ist auch ein Bestandteil des Wortes Islam. Das heißt, diese Abrahams-Religionen sind von der Wurzel her Friedensreligionen. Nicht umsonst heißt es im Epheserbrief von Jesus Christus, dass er nicht nur den Frieden gebracht hat, sondern den Frieden in leibhaftiger Verkörperung darstellt. Er ist unser Friede (Eph 2,14).

Nach dieser kurzen Besinnung auf die Möglichkeit der Verständigung zwischen den Weltreligionen nun auch ein Blick auf die Realisierung. Um dies bewerkstelligen zu können ist es unerlässlich, dass wir einen Blick auf die zeitgeschichtliche Situation werfen. Für mich leben wir im größten Augenblick der gesamten bisherigen Weltgeschichte. Leider hat sich davon so gut wie kein Bewusstsein bei uns eingestellt. Was die Menschheit seit Jahrtausenden geträumt hat, ist in unseren Tagen Zug um Zug realisiert worden. Ich gebe einige Beweise dafür, dass wir in einer Zeit der realisierten Utopien leben. Das himmlische Feuer des Prometheus ist in den Kernreaktoren gebändigt worden. Der Traum von der Sternenreise wurde realisiert, als amerikanische Astronauten 1969 zum ersten Mal den Fuß auf die Oberfläche des Mondes setzten. Und ein Traum Goethes aus dem zweiten Teil seines Faust-Dramas, den man nur als Alptraum bezeichnen kann, ist ebenfalls im Begriff, realisiert zu werden. Es ist der Traum von einem technisch gefertigten Menschen, von einem Humunculus. Wenn ich mich nicht ganz täusche, wird in absehbarer Zeit das erste geklonte Baby das Licht der Welt erblicken. Daran führt sicher kein Weg mehr vorbei; und deswegen stellen sich hier ganz neue, auch denkerische Aufgaben. Sigmund Freud hat den Hintergrund dieser Tatbestände deutlich gemacht. Er sagte – durch Lou Andrea Salomé mit Nietzsches Denkweise aufs engste vertraut –, dass durch den von diesem proklamierten Tod Gottes (wie es in dem bekannten Aphorismus „Der tolle Mensch“ heißt) die göttlichen Attribute freigesetzt und wieder in die Verfügungsgewalt des Menschen geraten sind. Erst der Mensch unserer Zeit besitzt die Möglichkeit, göttliche Attribute an sich zu reißen. Wir können die Gegenprobe machen und wir werden in der vorhin angesprochenen Sternenreise ein Stück göttlicher Allgegenwart, in der expandierenden Nachrichtentechnik ein Stück göttlicher Allwissenheit und in der Evolutionstechnik sogar ein Stück göttlichen Schöpfertums entdecken.

Mir ist aber erst in den allerletzten Tagen klar geworden, dass dies einen bitteren Nachgeschmack, um nicht zu sagen einen satanischen Pferdefuß hat. Die göttlichen Attribute sind in einer usurpierenden Weise vom Menschen an sich gerissen worden und dies mit der Folge, dass wir uns in einer Zeit des nicht nur faktischen, des nicht nur ozeanisch sich ausbreitenden, sondern des geradezu strukturellen Atheismus befinden. Es ist die Aufgabe jedes Theologen, insbesondere aber eines Fundamentaltheologen, den Gründen nachzugehen, warum wir in unserer Gegenwart einen derartig schrecklichen Ausverkauf des religiösen – und insbesondere des kirchlichen – Lebens erleben und hinnehmen müssen. Warum wenden sich immer mehr Menschen nicht nur von den Kirchen, sondern vom Christentum und vom Gottesglauben ab? Dazu muss es in unserer Zeit zutiefst eine Veranlassung geben. Ich finde sie in dem soeben angesprochenen strukturellen Atheismus. Er bildet den Raum für den Raub der göttlichen Attribute, der den Menschen, wie Freud sich ausdrückte, zum Prothesengott hat werden lassen. Dies ist die letzte Ursache des gegenwärtig um sich greifenden Unglaubens.

Ich lege Wert auf diese Feststellung, um eine Aufgabe definieren zu können, wie sie größer wohl nicht sein könnte und wie sie nach meiner Überzeugung auch von einer einzigen Weltreligion nicht gelöst werden kann. Es ist die Aufgabe, den Gottesglauben in unserer Zeit zu retten. Das übersteigt die Kraft einer einzelnen Religion. Dafür bedarf es einer Bündelung aller Kräfte derjenigen, die noch an Gott glauben. Damit zitiere ich indirekt eine Schrift von Friedrich Nietzsche, Die Morgenröte von 1883, in der er den Atheisten seiner Zeit den Rat gab, sich untereinander ein Zeichen der Verständigung zu geben, damit sie ihrer Macht bewusst würden. Ich übernehme diese Direktive Nietzsches und sage: Genau dieses Zeichen der Verständigung ist notwendig, ja notwendiger denn je, und all die Religionen, die sich noch im Gottesglauben gefestigt sehen und den Gottesglauben miteinander teilen, sind aufgefordert, sich gegenseitig ein solches Zeichen der Verständigung zu geben.

Was die Religionen brauchen, ist somit eine Vorwärtsstrategie. Sie müssen loskommen von ihrem zum Teil schrecklichen Erbe, von all dem, was sie sich gegenseitig angetan haben. Sie können die Vergangenheit nicht gegenstandslos machen, aber sie können in die Zukunft schauen und können dort die Aufgabe erblicken, die sie nur in gemeinsamer Anstrengung bewerkstelligen können.

Und damit komme ich jetzt zum entscheidenden Punkt meiner Ausführungen. Was können denn die einzelnen Religionen – besonders die von mir ins Visier genommenen abrahamitischen Religionen, also Judentum, Islam und Christentum – miteinander bewerkstelligen? Worin bestehen hier die Chancen?

Ich beziehe mich zunächst einmal auf den Islam. Ich denke, Ihnen allen sind die Bilder geläufig, wie fromme Muslime beten, und Sie sehen ja auch an der Haltung dieser betenden Muslime, in welcher Weise ihre Religion von ihnen Besitz ergriffen hat. Keine christliche Kirche könnte es ihren Gläubigern zumuten, sich in aller Öffentlichkeit derartig demonstrativ zu Gott zu bekennen, wie das bei frommen Muslimen gang und gäbe ist. Dahinter steckt nach meiner Überzeugung eine Zuspitzung des Eingottglaubens. Allah ist nicht nur der eine übermenschliche Gott, sondern der einzige Gott. Wenn aber der Gottesbegriff in einer derartige Weise präzisiert wird, dann geschieht nach meiner Meinung etwas ähnliches, wie bei dem sogenannten Anselmischen Gottesbeweis. Ich meine jenen Beweis des heiligen Anselm von Canterbury, der von der Idee des unüberdenklich Größten ausgeht und der vom Erdenken dieses Gedankens eine Vergewisserung der Existenz Gottes ableitet. Soweit würde ich nicht gehen, aber ich bin ganz sicher, dass die Zuspitzung des Gottesbegriffes im Islam nicht nur zu dem einen, sondern zum einzigen Gott eine Art kurzgeschlossenes Gottesverhältnis nach sich zieht, so dass der fromme Muslim sich in einer Weise an Allah gebunden fühlt, die ihn aus der Verlorenheit des Daseins heraushebt und ihm in Gott eine sonst nirgendwo zu findende Geborgenheit und Sicherheit verleiht. Das, scheint mir, müssten wir vom Islam lernen: Den Begriff religio zu präzisieren, zu multiplizieren, zu steigern, so dass unsere Bindung an Gott größer wird, als sie bisher ist. Gott darf für uns nicht ein Motiv der Beliebigkeit sein, sondern etwas Zwingendes, etwas uns Faszinierendes und Überwältigendes.

Und wie steht es dann mit dem Judentum? Viel zu wenig wird bedacht, was wir dem Judentum eigentlich verdanken. Es ist die einmalige Großleistung Israels, dass es mit dem Polytheismus der gesamten antiken Welt gebrochen hat. Dort war, wie Schiller in seinem nostalgischen Gedicht Die Götter Griechenlands geschrieben hat, hinter jedem Berg ein Gott, hinter jeder Quelle eine Nymphe, und die ganze Welt war theifiziert. Doch das Judentum hat dieses Prädikat der Welt zum Subjekt gemacht. Jetzt war Gott nicht nur ein Attribut der Welt, sondern der Schöpfer dieser Welt und der Herr dieser Welt, aber zugleich in seiner Überweltlichkeit der Welt näher, als sie sich selber sein konnte. Das ist der Durchbruch im Denken Israels, wie auch immer sich im einzelnen die im Augenblick ja sehr unterschiedlichen Theorien dazu äußern mögen. Diesen Gott brauchen wir, denn dieser Gott hat alles in seiner Hand, dieser Gott begleitet das ganze Menschenleben mit seiner Vorsehung, und gerade der fromme Jude wird sich in seinen Gebeten von der Hand dieses Gottes umgriffen und getragen fühlen.

Was das Christentum zu diesem Konzert der Religionen beizutragen hat, ist nicht weniger bedeutungsvoll, aber es ist tragischerweise viel zu wenig ins allgemeine Bewusstsein getreten. Denn auch in der Christenheit herrscht immer noch die Vorstellung von jenem ambivalenten Gott, von dem anfangs die Rede war: von einem Gott, der ebenso geliebt wie gefürchtet werden muss, weil er ebenso sehr ein gütiger Betreuer seiner Geschöpfe ist wie ein unnachsichtiger Richter. Und ich appelliere in diesem Zusammenhang an ihre eigene religiöse Erfahrung, dass der Mensch mit einem solchen Gott im Grunde nie glücklich sein kann. Es ist ein großes Rätsel, wie Weltreligionen wie das Judentum oder Islam mit diesem Gott innerlich fertig geworden sind. Denn der Mensch erträgt alles, aber nicht, dass er einmal geliebt und dann wieder mit dem Zorn seines Gottes konfrontiert wird; denn das bringt ihn in einen unheilbaren Zwiespalt.

Jesus ist in meinen Augen der größte Psychologe der Weltreligionen; denn er hat instinktsicher, wie nur er es sein konnte, dieses Paradox in den gebrochenen Gottbeziehungen der Traditionen erkannt. Er wusste, dass der Mensch etwas anderes braucht. Einen Gott, dem man sich bedingungslos anvertrauen kann, dessen Händen man sich übergeben kann, ohne fürchten zu müssen, dass dieser Gott die Hände jemals wieder von einem zurückzieht, einen Gott, der sich auch, wenn unser Herz uns anklagt, wie es im ersten Johannesbrief heißt (1 Joh 3,19), als derjenige erweist, der größer ist als unser Herz.

Wie wir unser Herz beruhigen könnten, ist nur ein allzu menschliches Bedürfnis. Aber wie Jesus dieses Bedürfnis eingelöst hat, das ist jetzt die entscheidende Frage. Wer hineinschaut in di e Lebensgeschichte Jesu, der findet zunächst einmal jene Antwort, die ich vorhin schon einmal angedeutet habe: Jesus ist nicht in einer abstrakten Zeit in diese Welt eingetreten, sondern in einer höchst komplexen und in politischer Hinsicht außerordentlich gefährdeten Zeit. Kein Volk war wohl schwerer gefährdet als sein eigenes Volk Israel; hinzu kam die Agitation der Zeloten, die sich als die Vollstrecker des göttlichen Strafgerichts fühlten und deswegen den Befreiungskampf gegen Rom vom Zaun zu brechen suchten. Wie die lukanische Szene in der Synagoge von Nazaret berichtet, versuchte Jesus, ihnen in den Arm zu fallen. Beim Gottesdienst wird ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja gereicht; und dort stößt er auf den Satz, der ihm geradezu auf den Leib geschrieben ist: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, er hat mich gesalbt, den Armen die frohe Botschaft zu bringen, den Blinden das Augenlicht, den Gefangenen die Freiheit und allen das Gnadenjahr des Herren anzusagen“ (Jes 61,1-2a). Dann rollt er die Buchrolle zusammen und sagt: „Dieses Wort ist vor euren Augen und Ohren in Erfüllung gegangen“ (Luk 4,21).

Dies ist die grandioseste Predigt, die jemals gehalten worden ist und gehalten werden konnte. Das Volk in der Synagoge ist begeistert. Aber im nächsten Augenblick schlägt die Stimmung um, ein Wort gibt das andere, die ganze Situation eskaliert. Schließlich stößt man Jesus aus der Synagoge hinaus und versucht ihn über einen Abgrund in den Tod zu stürzen. Es ist sozusagen die Ouvertüre zur ganzen Lebens-geschichte Jesu, ein vorweggenommener Abriss seines Schicksals. Wir fragen uns betroffen, warum dieser Stimmungs-umschwung einsetzt. Weil die Anwesenden in dieser Synagoge ihren Jesaja besser kannten als wir, weil sie wussten, dass Jesus den für sie entscheidenden Zusatz weggebrochen hat. Denn da hieß es: „Ich bin gesandt, allen das Gnadenjahr des Herrn anzusagen und den Tag der Rache“ (Jes 61,2b). Diesen „Tag der Rache“ hat Jesus ersatzlos gestrichen. Deswegen eskalierte die Stimmung, deswegen versuchte man, ihn umzubringen.

Wie ist diese furchtbare Tatsache zu erklären, dass Jesus als der größte Wohltäter der Menschheit, von dem es in der Apostelgeschichte heißt, dass er Wohltat spendend durchs Land gezogen ist, dass er nie einen Menschen gekränkt, nie einen Menschen unterdrückt, nie einen Menschen verworfen hat, dass dieser Jesus ans Sklavenkreuz geschlagen worden ist? Die letzte Erklärung kann nur lauten: Weil er in der Gottesbeziehung eine Korrektur herbeigeführt hat. Weil er an die Stelle des ambivalenten, zwischen Güte und Zorn schwankenden Gottes den Gott der bedingungslosen Liebe gesetzt hat. Und weil die Menschen sich davon befremdet und überfordert fühlten. Aber gerade deswegen muss das Christentum endlich neu begriffen werden: begriffen als die große Liebeserklärung Gottes an diese unsere Welt.

Selbstverständlich werden damit nicht alle unsere Probleme gelöst; wohl aber gewinnt das ganze Leben einen neuen Sinn. Die ganzen Beziehungen, nicht nur die zwischen Menschen und Gott, sondern auch die der Menschen untereinander. bekommen eine neue Dignität, eine neue Qualität. Der Mensch kann aufatmen, denn dieser Gott duldet nicht, was wie eine schwere Hypothek auf unseren Herzen lastet.

Der englische Dichter Auden hat unsere Zeit einmal als „The age of anxiety“ bestimmt. Es ist die grassierende Lebensangst, die keine Hochstimmung aufkommen lässt, die eine schwere Depression in allen Lebensbereichen nach sich zieht. Würden wir auch nur einen Anfang machen und die Gottesentdeckung Jesus nachzuvollziehen suchen, würde das ganze Fluidum der Angst von uns weichen und würde ein großes Aufatmen durch unsere Welt hindurchgehen.

Das ist der Beitrag des Christentums. Natürlich darf der Zusammenhang Jesu mit Israel in keiner Weise geschmälert werden. Denn Jesus gehört unabdingbar in die Reihe der israelischen Propheten; aber er ist in der Reihe dieser Propheten derjenige, der die größte Innovation herbeigeführt hat. Eine Innovation im Gottesbild Israels und im Gottesverhältnis der gesamten Menschheit.

Was aber können die einzelnen Religionen unter diesem Gesichtspunkt zur Bewältigung der gegenwärtigen desaströsen Verhältnisse beitragen? Ich muss noch einmal auf eine Bestimmung unserer Zeit zurückkommen, die ich im Anschluss an Sigmund Freud als die Zeit der sich Zug um Zug realisierenden Utopien glaubhaft zu machen suchte. Aber dazu gehört noch eine ganz andere Utopie, die ich vorhin unerwähnt gelassen habe. Es ist die Utopie, in der alle Menschen einig sind und der die Menschheit von Anfang an ihre besten Gedanken gewidmet hat: die Utopie des ewigen Friedens.

Allerdings stand dieser Utopie eine bittere Erfahrung entgegen. Sie drückt sich aus in dem Begriffspaar Krieg und Frieden. Denn für die Menschheit war es beinahe zur Selbstverständlichkeit geworden, dass auf alle Friedenszeiten irgendwann ein neuer Krieg folge, dass aber, wenn genug Blut geflossen sei, schließlich auch wieder neuer Frieden geschlossen werde. Diese Übereinkunft hat sich in Form eines Teufelskreises durch die ganze Geschichte hindurch fortgesetzt. Das Begriffspaar Krieg und Frieden, das wir alle im Mund führen, ist dafür paradigmatisch.

Aber meine These heißt: Wer dieses Begriffspaar in den Mund nimmt, hat den Frieden bereits an den nächsten Krieg verraten. Und deswegen muss das Friedenspotential der abrahamitischen Religionen aufs neue ausgeschöpft werden. Wie ich vorhin sagte, ist Allah im Grunde ein barmherziger und gütiger Gott, ein Gott nicht des Schwertes, sondern des Friedens. Und ich brauche ja keinen von ihnen daran zu erinnern, dass die Friedensthematik die ganze alttestamentliche Literatur durchzieht, angefangen von jenem Altar Gideons, der von ihm mit dem Wort „Jahwe ist Friede“ charakterisiert wird, bis hin zu den Psalmen, bis zur Ankündigung des messianischen Friedensreiches, bis zu jener wiederholten Weissagung, die für die Friedensbewegung unserer Zeit geradezu zum Programm geworden ist: „Und sie werden ihre Schwerter umschmieden zu Pflugscharen, und ihre Lanzen zu Winzermessern, und das Kriegshandwerk wird keine Schüler mehr haben“ (Jes 2,4). Das war die große Verheißung Israels; das Christentum aber behauptet, dass diese Hoffnung durch Jesus eingelöst worden ist, ja, dass er der Person gewordene Friede ist (Eph 2,14). Wir begreifen natürlich, was es heißt, dass Christen dann ungeachtet dieser Tatsache miteinander Krieg geführt, ja sogar Religionskriege vom Zaun gebrochen haben, die ja bekanntlich diejenigen sind, die mit der denkbar größten Grausamkeit ausgetragen zu werden pflegen.

Deshalb müssen wir zu einem neuen Friedensbewusstsein kommen. Der Friede muss endlich begriffen werden als eine Idee, die zu den höchsten der Menschheit gehört. Die allerhöchste Menschheitsidee ist selbstverständlich die Gottesidee. Eine ihr benachbarte ist nach Auskunft der großen griechischen Philosophen und der Denker des Mittelalters die Idee des Guten. Eine andere ebenso große Idee ist die Idee der Freiheit, und dazu gehört selbstverständlich nun auch die Idee des Friedens. Aber diese von mir angesprochenen höchsten Ideen der Menschheit sind durch eine Qualität gekennzeichnet: nämlich durch ihre Alternativlosigkeit. Gott hat keinen Gegensatz. Der Teufel ist kein Gegensatz zu Gott, sondern ein heruntergekommenes Geschöpf, das die Wege Gottes zu stören sucht. Das Böse – das hat Thomas von Aquin überzeugend gezeigt – ist kein Gegensatz zum Guten, sondern es ist ein Defekt des Guten, eine Fehlanzeige des Guten.

Selbstverständlich ist auch die Sklaverei kein Gegensatz zur Freiheit, sondern der betrübliche Zustand, dass es in den Sozietäten der Menschheit immer wieder Zustände gegeben hat und gibt, in denen Menschen die Freiheit entzogen wird. Dabei brauchen wir nicht nur an die Antike mit der Institution der Sklaverei zu denken, sondern auch an unsere Gegenwart; denn zu meinen großen Kümmernissen gehört die Tatsache, dass die Ereignisse von 1989 längstens vergessen und verdrängt worden sind. Wer denkt noch daran, was damals geschehen ist, als der eiserne Vorhang zusammenbrach, als Millionen von Menschen die vierzig bzw. siebzig Jahre lang erduldete Sklaverei abgenommen bekamen? Als über Ungarn die Menschen aus den abgeriegelten Ostgebieten in den freien Westen herübergekommen sind, in den freien Westen, und als dann etwas geschehen ist, wovon selbst die besten Politiker im Grunde nur träumen konnten, weil nur drei – nämlich Gorbatschow, Helmut Kohl und der alte Bush – das gewollt haben. Die Wiedervereinigung Deutschlands war ein wahres Himmelsgeschenk, und sie müsste nach meinem Ermessen nicht nur dichterisch gewürdigt, nicht nur künstlerisch gerühmt, sondern endlich theologisch ausgewertet werden. Denn davon kann bis zur Stunde noch gar keine Rede sein.

Wir leben auch in dieser Hinsicht in der denkbar größten Stunde der bisherigen Menschheitsgeschichte; und wir sollten dabei auch nicht vergessen, was das neue Europa bedeutet. Vergegenwärtigen Sie sich doch, was dieser europäische Zusammenschluss realisiert! Auf dem blutgetränkten Boden Europas, auf dem Jahrhunderte hindurch die entsetzlichsten Raub- und Vernichtungskriege geführt worden sind bis hin zu den beiden Weltkriegen mit ihren Hekatomben von Menschenopfern: auf diesem blutgetränkten Boden entsteht eine Zitadelle des Friedens. Ich bin tief bekümmert darüber, dass dieses neue Europa immer nur unter politischen und pekuniären Gesichtspunkten gewertet wird. Natürlich müssen die Finanzen in Ordnung gebracht werden, natürlich muss für eine innere Ordnung und eine Verfassung gesorgt werden. Aber was Europa braucht, ist vor allen Dingen ein Bewusstsein des Himmelsgeschenkes, das uns mit diesem neuen Europa geschenkt ist. Das muss auch in die Köpfe der Schüler hinein gebracht werden, denn dieses neue Europa ist der Lebensraum, in der sie einer gesicherten Zukunft entgegengehen.

Mein Vater hat, als ich zehn Jahre alt war, gesagt: „Auch du musst noch einmal in den Krieg“. Er hat leider recht behalten, schlimmer und bitterer, als ich es je befürchtet habe. Die heutige Jugend braucht das nicht mehr zu fürchten. Dies ist ein Privileg und eine Vergünstigung, die endlich in die Köpfe – der Pädagogen wie der Schüler – getragen werden muss.

In diesem Sinne müsste auch eine religiöse Allianz gebildet werden. Denn bei einem Zeichen der Verständigung darf es nicht bleiben. Die drei Weltreligionen, die wie keine anderen auf dieser Welt von ihrem innersten Prinzip her Religionen des Friedens sind, müssten ungeachtet all des Schrecklichen, was die Vergangenheit über sie gebracht hat, sich zusammenfinden, und jeder von uns sollte in seinem Bereich darauf hinarbeiten, dass die größte aller Menschheitsutopien Wirklichkeit wird in unserer Welt und Zeit. Doch der Friede in der Welt ist gebunden an die Friedensbereitschaft im kleinsten häuslichen Raum. Dort den Frieden herzustellen – den Frieden in den Familien, den Frieden an den Arbeitsstellen, in den Büros, in den Klassenzimmern – ist bekanntlich die schwerste, aber auch vordringlichste Aufgabe. Dort muss der Anfang gemacht werden, denn in der Welt kann nur leuchten, was im kleinen Raum des privaten und zwischenmenschlichen Lebens seinen Anfang nimmt.

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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

erscheinungsort

Sankt Augustin Deutschland