„100 Tage“ – gemischte Bilanz
Die ersten 100 Tage einer neuen Regierung sind weltweit eine Art Symbol. Wohlwissend, dass diese Zeit zu kurz ist, um Berge zu versetzen, so wird doch erwartet, dass die neue Regierung deutliche Marken setzt, wo und wie sie das Land regieren und verändern will.
Diese symbolische Zahl wird in aller Regel von einer Regierung auch genutzt, um deutlich zu machen, dass ihre Wahl genau die richtige Entscheidung der Bevölkerung war. In Guatemala war dagegen lange unklar, ob die Regierung dieses symbolische Datum überhaupt ernstnehmen würde. Das hat Gründe, die in der Öffentlichkeit auch sehr offen und kritisch analysiert und diskutiert werden.
Um es zusammenzufassen: Die Bilanz der ersten 100 Tage fällt, vorsichtig ausgedrückt, gemischt aus.
Der internationale Kontext
Die internationale Anerkennung der Regierung ist ohne Zweifel ein Plus im Vergleich zur Vorgängerregierung, deren Ruf aufgrund der Korruptionsvorwürfe nachhaltig belastet war.
Arévalo konnte bereits nach dem 1. Wahlgang, als versucht wurde, das Wahlergebnis in Frage zu stellen, auf eine breite internationale Unterstützung bauen. Diese hat sicher auch einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass Arévalo nach dem zweiten Wahlgang die Präsidentschaft antreten konnte.
Seine Europatour, der Empfang im Weißen Haus, all das sind Faktoren, die sehr wohl zur Kenntnis genommen werden. Zudem ist das Interesse der USA, zumindest der aktuellen Regierung, an Zentralamerika aus verschiedenen Gründen, Migrations- und Drogenproblematik an erster Stelle, sehr hoch.
So wichtig diese Anerkennung, damit verbunden natürlich auch vielfältige Formen internationaler Unterstützung auch ist, dies allein sichert keiner Regierung auf Dauer die interne Anerkennung und Stabilität. Hinzu kommt, dass es Kräfte in Guatemala gibt, die selbst die Arbeit von Botschaften als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes brandmarken, so dass internationale Anerkennung als solche von begrenztem innenpolitischem Wert ist.
Zur Kenntnis genommen und nicht überall begrüßt wird der starke Einfluss der USA. Dies wird aber gleichzeitig begleitet von der Sorge darüber, wie sich das Verhältnis zu den USA mit einem denkbaren Präsidenten Trump entwickeln würde.
Die Innenpolitik entscheidet
Trotz dieser positiven internationalen Rahmenbedingungen dürfte sich die Regierung keinen Illusionen hingeben. Über ihre Anerkennung und Zukunft entscheidet die Innenpolitik. Positiv ist anzumerken, dass die Regierung nicht als korrupt in Erscheinung getreten ist und Arévalo als integer gilt. Das ist nach den Erfahrungen der Vergangenheit für Guatemala eine ganze Menge. Angesichts der Problemfülle des Landes reicht das jedoch auf Dauer nicht aus.
In Lateinamerika gab es in Wahlkampagnen schon den Spruch „roban, pero hacen“, d.h. „sie [die Politiker] klauen, tun aber etwas“. Hinter vorgehaltener Hand wird in Guatemala dieser Slogan inzwischen abgewandelt: „Sie klauen nicht, aber sie tun auch nichts“. Das ist in dieser simplifizierten Form unzutreffend und ungerecht, aber eine solche sich verstetigende Wahrnehmung könnte zum zentralen Problem der Regierung Arévalo werden. Die Frage ist, ob, wie und wie lange sich mit einer solchen Perzeption der Bevölkerung regieren lässt und welche der politischen und sonstigen Kräfte ein dadurch geschaffenes Gestaltungsvakuum ausfüllen werden.
„Semillas“ – sie müssen auch gepflanzt werden
Die Regierung verkündete bei Amtsantritt
„10 Semillas“, d.h. in Anlehnung an den Parteinamen „Samenkörner“ als die wesentlichsten Handlungsfelder. Dieser „Plan der 100 Tage“ war von Beginn als ambitiös bis unrealistisch angesehen worden. Aber die Regierung muss sich nun an ihm messen lassen.
Erste Schritte sind eingeleitet worden. So werden auf der Positiv-Seite der ersten 100 Tage beispielsweise die Maßnahmen zur Aufdeckung der korrupten Machenschaften der vorherigen Regierung mittels der neuen „Nationalen Kommission zur Korruptionsbekämpfung“ verbucht. Auch erste Maßnahmen zur Kontrolle der Gefängnisse und der nicht zuletzt von dort ausgehenden kriminellen Machenschaften, insbesondere der exorbitanten Erpressungsmafia, haben Erfolge gezeigt und werden positiv vermerkt. In manch andern Themenfeldern bestehen Handlungsanweisungen des Präsidenten, bislang aber keine weiter erkennbaren Maßnahmen.
Die guatemaltekische Organisation „diestra“ kommt in ihrer Analyse zum Ergebnis, dass lediglich 21 Prozent der angekündigten Maßnahmen als abgeschlossen angesehen werden können. 46 Prozent können danach als „initiiert“ bewertet werden, während 33 Prozent bislang nicht in Angriff genommen wurden. Dies betrifft vor allem den sozio-ökonomischen Bereich mit seinen zentralen Herausforderungen wie Armutsbekämpfung, Modernisierung der Infrastruktur, Unterernährung, medizinische Versorgung oder Wohnungsbau.
Dies ist zum einen angesichts der Komplexität der Probleme nicht verwunderlich und wäre sicherlich vermittelbar. Da es aber auch nicht gelang, weniger komplexe Ankündigungen schnell umzusetzen, wurde die Handlungs-fähigkeit der Regierung zum Thema. Beispiel hierfür ist die Ankündigung Arévalos, die Gehälter von Staats- und Vize-Präsident sowie der Minister um 25 Prozent zu kürzen. Erst in seiner 100-Tage-Rede gab er bekannt, dass er angewiesen habe, sein und das Gehalt der Vize-Präsidentin zu kürzen. Das heißt, für diese Entscheidung brauchte er 100 Tage, konnte in dieser Zeit aber offensichtlich das Kabinett nicht überzeugen, auch für die Ministergehälter mitzuziehen.
Kontext der „Regierbarkeit“
Von Beginn an stellte sich die Frage nach dem Kontext der „gobernabilidad“, d.h. den Faktoren, die über die Regierbarkeit des Landes entscheiden. Alle bereits frühzeitig genannten Risiko-Faktoren haben sich in mehr oder minder deutliche Ausmaße manifestiert. Genannt wurde bereits das Fehlen bzw. die Unerfahrenheit der „eigenen Leute“. Dies zeigt sich im operativen Umsetzungsdefizit der Regierung. Dies ist zum einen der fehlenden Regierungserfahrung des Großteiles der neuen Verantwortlichen geschuldet. Zudem bewegt sich die Regierung in einem institutionellen Kontext (Kongress, Behörden, Justiz, Kommunen), der nicht gerade als regierungsfreundlich umschrieben werden kann. Da Semilla als Partei sich nach wie vor in einem Verbotsprozess befindet, konnte die Partei keine eigene Parlamentsfraktion bilden oder im Präsidium des Kongresses mitwirken. Die Regierung ist daher auf eine Kooperation nicht zuletzt mit den politischen Kräften angewiesen, von denen sie sich eigentlich abgrenzen will.
Die wenig regierungsfreundlich bis feindlich gesinnten Kräfte im Justizapparat, vor allem in Gestalt der Generalstaatsanwältin bilden ein für die Regierung problematisches institutionelles Gegengewicht. Auch darf sich die Regierung nicht auf der Unterstützung der Bevölkerung in den letzten Monaten vor der Amtsübernahme ausruhen. In diesen Monaten ging es vielen nicht vorrangig um Arévalo, sondern um die Bewahrung der guatemaltekischen Demokratie. Das bedeutet, dass sich die Regierung in einem problematischen und hochkomplexen System von faktisch-institutionellen Gegenmächten bewegt, ohne gleichzeitig selbst über hinreichende Macht- und Umsetzungsstrukturen oder ein stabiles, belastbares und einflussreiches natürliches Unterstützerumfeld zu verfügen.
Kongress als Gegenmacht?
Eine erste, auf Dauer höchst problematische Konstellation scheint sich herauszubilden: Die Verselbständigung des Kongresses. Nicht, dass der Kongress nicht diskutieren würde. Aber nahezu alle Gesetzesvorlagen, die zur Debatte stehen, stammen aus vergangenen Jahren. Es gibt nicht wie beispielsweise in Deutschland den Diskontinuitätsgrundsatz. Das bedeutet, ein irgendwann einmal in den Kongress eingebrachtes Gesetzesvorhaben kann, auch wenn es Jahre in den Ausschüssen geschlummert hat, wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden. Die ehemaligen Regierungsparteien und ihre Verbündeten haben die Mehrheit im Kongress. Auch wenn einige davon es ermöglicht haben, zusammen mit Semilla ein Parlamentspräsidium zu wählen zeigt sich deutlich, dass es sich um eine für den Staatspräsidenten äußerst fragile und unzuverlässige „Koalition“ handelt. So hob der Kongress eine Notstandsverfügung des Präsidenten wegen der ausufernden Brände in Guatemala am Tage danach wieder auf. Und der Vorsitzende des Wahlausschusses schob die vom rechtlich zuständigen Wahlgerichtshof nach intensiven Konsultationen vorgelegten Reformvorschläge für das Wahl- und Parteienrecht schlichtweg zur Seite und machte die Vorschläge seiner eigenen Partei zur Beratungsgrundlage. Das wird als klares Zeichen dafür gedeutet, dass die momentan weitgehende politische Ruhe sich sehr schnell als trügerische erweisen kann und die Gegner Arévalos ihren Stand-by-Modus verlassen. Mit einem Kongress als institutionellem Blockadeinstrument wäre die Regierung Arévalo sehr schnell am Ende ihrer Handlungsfähigkeit.
Herausforderungen der Regierung
An Ratschlägen für die Regierung fehlt es nicht, was an sich als positives Zeichen zu bewerten ist.
Einige sollen schlagwortartig genannt werden:
- Arévalo selbst muss sich aus seiner Rolle als „Opfer“ gegnerischer Mächte herausarbeiten. Er ist jetzt Präsident, er muss als dominierender Akteur in Erscheinung treten.
- Die Regierung muss eine überzeugende Kommunikationsstrategie entwickeln. Die Tik-Tok-Maschinerie und ihre spezielle Zielgruppe mag in Wahlkampfzeiten dienlich sein, als entscheidendes Kommunikationsinstrument einer Regierung ist das jedoch untauglich bis schädlich. Hierzu zählt auch eine Verbesserung der Abstimmung und Kommunikation zwischen den verschiedenen Teilen der Regierung. Das „Sprechen mit einer Stimme“ muss noch gelernt werden.
- Die Beratungsstruktur muss überprüft werden. Es braucht mehr Selbstkritik. Die als „Semilla Lovers“ bezeichneten bedingungslosen Gefolgsleute des Präsidenten oder ideologische Puristen aus der Partei können diese Funktion nicht erfüllen.
- Es müssen pragmatische Umsetzungsstrukturen geschaffen und gestärkt werden. So hat, um ein Beispiel zu nennen, die monatelange Verzögerung der Ernennung der Gouverneure, die in den Departments die operative Verbindungsebene zwischen Regierung und den Kommunen sind, der Regierung geschadet und den gegnerischen Parteien in die Hände gespielt. Semilla stellt nur einen von 248 Bürgermeistern.
- Die Regierung muss ihre Kapazität für kohärente Gesetzgebungsinitiativen unter Beweis stellen und so versuchen, die Agenda des Kongresses zu beeinflussen. So kann es der Regierung gelingen, auch eine breite gesellschaftliche Unterstützung für Reformen zu gewinnen und institutionelle Blockaden zumindest zu minimieren.
- Die Regierung muss eine Strategie im Umgang mit anderen Parteien und Parlamentsfraktionen entwickeln, um die Durchsetzung ihrer eigenen Agenda zu ermöglichen und zu vermeiden, dass der Kongress sich zum Blockadeinstrument gegenüber der Regierung entwickelt.
Vertrauen und Hoffnung nutzen
In einfachen Worten: Die Regierung muss genau diejenige Herkulesaufgabe bewältigen, die realistischerweise zu erwarten war. Im Moment scheint eher die Skepsis zu überwiegen, ob und in welchem Umfang die Regierung das schaffen kann. Ein Analyst schrieb mit Blick auf die „100 Tage“: Sie „haben die Chance verpasst und nun sind sie dabei, die Macht zu verlieren“. Die Regierung hat es versäumt, den durch die Wahl und die breite Unterstützung der Bevölkerung gegebenen Anfangsschwung zu nutzen. Nun kommt es darauf an, auf der Grundlage des noch vorhandenen Vertrauens und der immensen Veränderungserwartung schlichtweg in die Gänge zu kommen und deutlich zu machen, wie und wohin diese noch neue Regierung das Land führen will. Das Zeitfenster hierfür schließt sich mit jedem Tag etwas mehr.
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