Mit den Stimmen ihrer Liberaldemokratischen Partei (LDP), der Japanischen Innovationspartei (JIP) und mehrerer unabhängiger Abgeordneter wurde Sanae Takaichi am Dienstag (21.10.) im japanischen Unterhaus zur Premierministerin gewählt. Auf die 64-jährige LDP-Vorsitzende entfielen 237 der insgesamt 465 Stimmen. Ihr Gegenkandidat Yoshihiko Noda, Vorsitzender der Konstitutionellen Demokratischen Partei (CDP), gewann 149 Stimmen.
Im Oberhaus, der zweiten Kammer des japanischen Parlaments, verfehlte Takaichi die erforderliche Mehrheit zunächst um eine Stimme, konnte sich gegen Noda dann aber in der Stichwahl durchsetzen.
Takaichi als „konservativste“ Stimme
Japans neue Regierungschefin hat Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kōbe studiert und das renommierte Matsushita Institute of Government and Management absolviert. 1987 zog sie für ein Jahr als U.S. Congressional Fellow nach Washingon DC. 1993 wurde Takaichi zum ersten Mal als Abgeordnete ins japanische Unterhaus (Repräsentantenhaus) gewählt. Unter dem früheren Premierminister Shinzo Abe bekleidete sie zwischen 2006 und 2019 mehrere Ministerposten. 2022 und 2023 übernahm Takaichi auch unter Ex-Premierminister Fumio Kishida eine Reihe an Regierungsämtern.[1]
Die langjährige Abgeordnete aus Nara bezeichnet Margaret Thatcher als ihr politisches Vorbild und galt bei der Wahl um den Parteivorsitz als „konservativste“ Stimme im Bewerberfeld.[2] Sie werde „ihr Leben dafür einsetzen, um die alten Traditionen Japans zu bewahren“.[3] Gleichzeitig bemühte sie sich, ihr kantiges Profil zu glätten, um auch außerhalb ihres traditionellen Lagers anschlussfähig zu sein. Ihre bislang konfrontative Rhetorik gegenüber China milderte sie im Rennen um den Parteivorsitz deutlich ab, sprach von einem „wichtigen Nachbarn“ und hob die Bedeutung stabiler Beziehungen hervor.[4]
Obwohl sie bislang nicht als starke Verfechterin von Frauenthemen galt, kündigte sie steuerliche Entlastungen für Babysitter-Dienste sowie Anreize für Unternehmen an, die ihren Beschäftigten eine Kinderbetreuung anbieten.[5] Als Premierministerin werde die Zusammensetzung ihres Kabinetts „viele überraschen“ – sie wolle Frauen „in einem Umfang einbinden, der den nordischen Ländern vergleichbar ist“.[6]
Takaichi gilt als Protegé des 2022 ermordeten Premierministers Shinzo Abe.[7] Sie setzt sich seit langem dafür ein, die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte (SDF) in der Verfassung zu verankern und die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, wollte sich bis zuletzt aber nicht auf verbindliche Prozentsätze festlegen.[8] Wirtschaftspolitisch versprach sie während ihrer Kandidatur für den Parteivorsitz steuerliche Entlastungen, darunter die teilweise Abschaffung der Benzinsteuer und eine höhere Bemessungsgrenze für steuerfreie Einkommen, die gezielte Förderung strategischer Technologien wie Halbleiter und Künstliche Intelligenz sowie den Ausbau der Kernenergie.[9]
Außenpolitisch will sie die Beziehungen mit den USA, auch im Rahmen der trilateralen Zusammenarbeit mit Südkorea bzw. den Philippinen, weiter stärken.[10] Takaichi pflegt enge Kontakte zu Taiwan und fordert gar ein „quasi-sicherheitsrelevantes Bündnis“ zwischen Tokio und Taipei.[11]
Der Weg an die Macht
Sanae Takaichi hatte bereits 2021 für das Amt der Parteichefin kandidiert. Damals unterlag sie Fumio Kishida. 2024 trat Takaichi erneut an. Sie erreichte die Stichwahl, musste sich aber wieder geschlagen geben. Stattdessen konnte sich Shigeru Ishiba durchsetzen. Beim dritten Versuch gewann sie Anfang Oktober schließlich gegen Shinjirō Koizumi den zweiten Wahlgang und wurde damit die erste Frau an der Spitze der Liberaldemokratischen Partei.
Für die vorgezogene Wahl waren die 295 amtierenden LDP-Abgeordneten von Ober- und Unterhaus sowie Parteidelegierte aus den Präfekturen zur Stimmabgabe aufgerufen. Takaichi gewann die Stichwahl gegen Koizumi mit 185 zu 156 Stimmen. In 36 von insgesamt 47 Präfekturen fand sie unter den Parteidelegierten eine Mehrheit. Noch kurz vor der Abstimmung favorisierten die LDP-Abgeordneten nach einer Umfrage der Nachrichtenagentur Jiji Press hingegen Koizumi mit leicht über 20 Prozent, dicht gefolgt von Yoshimasa Hayashi mit etwas unter 20 Prozent. Für Takaichi sprachen sich demgegenüber lediglich zehn Prozent der Mandatsträger aus.[12] Am Ende wurde sie auch deshalb mehrheitlich zur Parteivorsitzenden gewählt, weil einige moderat-konservative Abgeordnete Koizumi mit Blick auf die für ihn schlechten Abstimmungsergebnisse in den Präfekturen fallenließen. So kam Takaichi unter den Mandatsträgern schließlich auf 149 Stimmen. Koizumi musste sich mit 145 Stimmen geschlagen geben.
Der Spagat für die LDP-Abgeordneten bestand darin, dass sie nicht nur einen Parteivorsitzenden wählen mussten, der in der Bevölkerung populär ist und die eigenen Anhänger hinter sich vereint; der künftige LDP-Chef sollte darüber hinaus auch beim kleinen Koalitionspartner ankommen. Nach Ishibas Rücktritt hatte Kōmeitō-Chef Tetsuo Saito gegenüber Reportern bereits erklärt, dass seine Partei, die seit 1999 mit den Liberaldemokraten kooperiert, keine Koalitionsregierung mit einem Partner bilden könne, der gemäßigt konservative Grundsätze über Bord wirft.
Die Zitterpartie
Dass die LDP auch unter neuer Führung auf einen Koalitionspartner und zusätzliche Stimmen aus der Opposition angewiesen sein würde, war klar. Bei der Unterhauswahl im vergangenen Jahr haben die Regierungsparteien ihre Mehrheit eingebüßt. Zusammen kamen LDP und Kōmeitō nur noch auf 220 der 233 für eine Mehrheit erforderlichen Sitze. Bei der LDP konzentrierte sich die Suche deshalb zunächst auf einen möglichen dritten Partner.
Da sie als größte Oppositionspartei mit 148 Unterhaussitzen als Gegenleistung für ihre Unterstützung Kabinettsposten fordern würde, galt eine Unterstützung durch die liberale Konstitutionelle Demokratische Partei (CDP) als eher unwahrscheinlich. Stattdessen wurde erwartet, dass LDP und Kōmeitō ein Bündnis mit der liberal-zentristischen Demokratischen Volkspartei (DPP; 27 Unterhaussitze) oder der konservativen Innovationspartei (JIP/Nippon Ishin no Kai; 35 Unterhaussitze) anstreben. LDP, Kōmeitō und DPP hatten bereits Ende 2024 eine Zusammenarbeit bei wirtschaftspolitischen Themen vereinbart.
Dann passierte am 10. Oktober, knapp eine Woche nach der Wahl von Sanae Takaichi zur Parteivorsitzenden, das, womit in der LDP trotz der Ankündigung von Tetsuo Saito wohl nur wenige ernsthaft gerechnet hatten: Nach 26 Jahren kündigte Kōmeitō die Koalition auf. Plötzlich standen die Liberaldemokraten ohne Partner da. Gegenüber den LDP-Abgeordneten übernahm Takaichi für den Bruch die Verantwortung: „Es war alles meine Schuld.“ Die LDP müsse jetzt „eine beispiellos flexible Haltung in Bezug auf ihre Politik zeigen“.[13]
Statt als Minderheitsregierung – auch im Oberhaus hatten LDP und Kōmeitō im Sommer die Mehrheit verloren – schon für die Wahl der Premierministerin „nur“ einige zusätzliche Stimmen der Opposition einzuwerben, musste jetzt gleich ein neuer Koalitionspartner her. Die Oppositionsparteien sondierten untereinander ebenfalls. In der Summe kommen auch CDP, DPP und JIP im Unterhaus aber nur auf 210 Sitze. Sie hätten mithin wenigstens 23 Stimmen von LDP und Kōmeitō benötigt, um für das Amt des Premierministers einen eigenen Kandidaten durchzusetzen. Aus Sicht der Innovationspartei war das keine Option.
Einigung auf den letzten Metern
Stattdessen brach die JIP die Gespräche mit den beiden anderen Oppositionsparteien ab und entschied sich nur wenige Tage vor der Abstimmung im Parlament für Verhandlungen über ein Koalitionsbündnis mit der regierenden LDP. Beide Parteien würden, so JIP-Chef Yoshimura, „grundlegende Werte teilen“.[14] In kürzester Zeit trafen sie eine Vereinbarung. Am Montag (20.10.) wurde die siebenseitige Übereinkunft von Takaichi und Yoshimura unterzeichnet. Damit war praktisch sicher, dass Takaichi zur neuen Premierministerin gewählt würde und die LDP an der Macht bleiben konnte. Von kurzen Ausnahmen abgesehen, regiert die Partei das Land seit ihrer Gründung im Jahr 1955 durchgehend.
Als Regierungspartner wollen LDP und JIP in die Verteidigung investieren. Einige Beschränkungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern sollen entfallen. Die maßgeblichen Sicherheitsstrategien des Landes werden überarbeitet. Beide Parteien streben möglichst enge Beziehungen mit den USA an. Daneben soll auch mit Australien und Indien die Zusammenarbeit intensiviert werden. Einigkeit besteht überdies darin, eine Reform der pazifistischen Verfassung voranzutreiben, um die Rolle und den Auftrag der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte zu stärken. Die Koalitionsvereinbarung sieht überdies einen Ausbau der Atomkraft vor.
Die Einwanderung soll begrenzt oder zumindest auf die gezielte Zuwanderung (hoch)qualifizierter Fachkräfte und zeitlich befristete Arbeitsaufenthalte zugeschnitten werden. Trotz seiner rapide alternden Gesellschaft soll sich Japan nicht zu einem Einwanderungsland entwickeln. Bis März 2027 wird mit dieser Ausrichtung eine Bevölkerungsstrategie ausgearbeitet. Für Investitionen ausländischer Unternehmen sind strengere Kontrollen vorgesehen. Per Nachtragshaushalt soll ein Konjunkturpaket auf den Weg gebracht werden, um die Auswirkungen der Inflation auf die Lebenshaltungskosten abzumildern. Die auf Benzin erhobenen Steuern sollen teilweise abgeschafft werden.
Beide Parteien haben angekündigt, die Sitze im Unterhaus um zehn Prozent zu reduzieren. Osaka soll neben Tokio künftig als zweite Hauptstadt ebenfalls Regierungsbehörden beheimaten. Die Dezentralisierung der Regierungsarbeit zählt zu den wichtigsten Forderungen der JIP. Die Konzentration der Macht allein auf Tokio birgt aus Sicht der Partei das Risiko, bei einem schweren Erdbeben ohne einen zweiten Regierungsstandort die nötige Handlungsfähigkeit zu verlieren.
Mögliche Risiken
Konflikte drohen vor allem in den Bereichen, wo die JIP mit ihren Wahlversprechen zum Teil weit über die Positionen der LDP hinausgeht. Das betrifft unter anderem die Forderung nach einer deutlichen Kürzung der Staatsausgaben, darunter der Subventionen. Von Steuererleichterungen sollen nach den Vorstellungen der JIP vor allem die Arbeitnehmer profitieren. Das könnte sich zulasten der Rentnerinnen und Rentner auswirken. Gerade in den ländlichen Regionen gehören diese zu den Stammwählern der LDP. So stößt die Forderung nach einer Reduzierung der Verbrauchssteuer (JCT) auf Waren und Dienstleistungen bei den Liberaldemokraten auf Widerstand. Denn mit diesen Steuereinnahmen finanziert die japanische Regierung einen großen Teil der Renten, Gesundheitsfürsorge und sonstigen Sozialleistungen.
Mit ihrer Forderung, Spenden von Unternehmen und Industrieverbänden an einzelne Abgeordnete zu verbieten, konnte sich die JIP bis jetzt auch nicht durchsetzen. Grundsätzlich hat Takaichi zwar Gesprächsbereitschaft signalisiert; im Vergleich zu allen anderen Parteien streicht die LDP insgesamt aber weiterhin die meisten Parteispenden ein. Gerade bei diesem Thema muss die JIP als Koalitionspartner zumindest einen Teilerfolg erzielen. Andernfalls droht gegenüber den eigenen Anhängern ein Verlust an Glaubwürdigkeit. Der Umstand, dass die Innovationspartei derzeit keinen Anspruch auf Ministerposten erhebt, zeigt bereits, dass sie bei strittigen Themen eine gewisse Distanz zur LDP wahrt, um sich weiter profilieren zu können.
Für die LDP besteht ebenfalls das Risiko, sich von einem Teil ihrer Wählerschaft zu entfremden. Danach befragt, welches Bündnis sie befürworten würden, lag die Zustimmung für eine Koalition aus LDP und JIP Mitte Oktober in mehreren Umfragen bei 35 bis 40 Prozent. Die Aussicht auf eine Koalition aus LDP und Kōmeitō wurde in den Vorjahren wiederholt aber von 45 bis 50 Prozent der Befragten goutiert. Einem Teil der moderaten Wählerinnen und Wähler dürfte die eher pazifistisch ausgerichtete, vor allem in urbanen Wahlkreisen und der buddhistischen Laienbewegung Sōka Gakkai verwurzelte Kōmeitō als mäßigender „Sicherheitsgurt“ der Regierungsarbeit künftig mithin fehlen. Dazu kommt, dass LDP und JIP im Unterhaus gemeinsam über 231 Sitze verfügen und damit nicht über die erforderliche Mehrheit. Dafür sind wenigstens zwei zusätzliche Stimmen erforderlich. Mit ihren drei Unterhaussitzen könnte die Partei Sanseito für die Regierungskoalition bei so mancher Entscheidung deshalb das Zünglein an der Waage sein. Sanseito war mit dem Slogan „Japaner Zuerst“ bei der Oberhauswahl im Juli überraschend erfolgreich. Den moderaten Flügel der LDP dürfte vor diesem Hintergrund versöhnlich stimmen, dass Takaichi für ihre Regierungsmannschaft keineswegs nur auf die eigenen Gefolgsleute setzt.
Der in den Medien überaus populäre Shinjiro Koizumi, für die Premierministerin der gefährlichste Konkurrent im Rennen um den Parteivorsitz, wurde zum Verteidigungsminister ernannt. Yoshimasa Hayashi, der sich ebenfalls um den Parteivorsitz beworben hatte, ist der neue Minister für Inneres und Kommunikation. Japans neuer Außenminister heißt Toshimitsu Motegi. Er war in derselben Funktion schon unter den früheren Premierministern Abe, Suga und Kishida tätig. Ryosei Akazawa wurde zum Minister für Wirtschaft, Handel und Industrie ernannt. Er zählt zu den engsten Vertrauten von Ex-Premierminister Ishiba. Was die Spitzenpositionen für Politikerinnen angeht, blieb Premierministerin Takaichi hingegen weit hinter ihrer Ankündigung zurück: Mit Satsuki Katayama als Finanzministerin und Kimi Onoda als Ministerin für wirtschaftliche Sicherheit wurden nur zwei Frauen in das 19-köpfige Kabinett berufen.
Für die Zusammenarbeit mit Deutschland und Europa sind die Spitzenbesetzungen eine äußerst vielversprechende Nachricht. Neben viel Expertise versprechen diese Stabilität. Das neue Kabinett blickt auf viel Erfahrung in der Zusammenarbeit mit internationalen Partnern zurück. Die bereits unter Premierminister Abe begonnene sicherheitspolitische „Zeitenwende“ dürfte auch in der neuen Ministerriege auf viel Zustimmung stoßen.
[1] https://japan.kantei.go.jp/101_kishida/cabinetlist2/daijin/takaichi_sanae_e.html
[2] https://www.japantimes.co.jp/news/2025/09/22/japan/politics/ldp-candidates-profile/
[3] https://japannews.yomiuri.co.jp/politics/politics-government/20250923-282586/
[4] https://www.japantimes.co.jp/news/2025/09/19/japan/politics/takaichi-announce-candidacy/
[5] https://www.japantimes.co.jp/news/2025/09/20/japan/politics/takaichi-female-pm-possibility/
[6] https://japantoday.com/category/politics/japan-pm-candidate-vows-%27nordic%27-gender-balance
[7] https://thediplomat.com/2025/09/will-iron-lady-takaichi-sanae-be-japans-first-female-prime-minister/
[10] https://www3.nhk.or.jp/nhkworld/en/news/backstories/4270/
[13] https://japannews.yomiuri.co.jp/politics/politics-government/20251015-286666/
[14] https://www.japantimes.co.jp/news/2025/10/20/japan/politics/ldp-nippon-ishin-coalition-agree/
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