Manchmal lösen Zahlen etwas aus. Dieses Jahr war es die 9, die Gedächtnis und Gedanken beherrscht. Zum Bonner Forum zur Einheit hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung eingeladen, und der ehemalige Plenarsaal des Deutschen Bundestags war wieder bis hoch zur Empore gefüllt, als der Vorsitzende der Stiftung, Bundestagspräsident a.D. Prof. Dr. Norbert Lammert, die Gedenktage mit der Zahl 9 am Ende Revue passieren ließ: 1919, 1939 und 1949/1989 – und immer, wenn Deutsche ihre Gedenktage aufzählen, stehen Schicksalstage ganz nah beisammen. Später wird Prof. Dr. Andreas Rödder, Historiker aus Mainz, den Gedanken, den auch Lammert weiter umtrieb, in Sätze fassen: Wenn wir zeitlich zurückschauen, sehen wir Bestimmung und Notwendigkeit, wenn wir nach vorne schauen, Offenheit. Und so rief Lammert die 800 Teilnehmer in die Gegenwart der Teilung Deutschlands zurück: „Wer hätte damals gedacht, dass…?“.
Niemand ist besser geeignet, um diesen Zustand zwischen Aussichtslosigkeit und Ungewissheit, mauerumschlossen und die kleine Freiheit suchend, wenn die große schon verwehrt wird, in Worte zu fassen als der 1962 in Dresden geborene Lyriker und Essayist Durs Grünbein. Er las so aus seinen Werken, dass es im Saal ganz, ganz still wurde – weil doch Grünbeins damalige Gegenwart nicht die der meisten Anwesenden gewesen ist.
„Wer hat die Mauer niedergerissen?“ – das war die zweite Hauptfrage des Abends, und natürlich ist es leicht, eine Addition der Akteure vorzunehmen, aber wer war es wirklich? Grünbein selbst schilderte in Lyrik und dichter Prosa jene Zeit, als er selbst einer der – wie er sich selber titulierte – „Protestclowns“ war, der ganz frühen, die auf die damals noch geringgeschätzten Polen von der Solidarność hofften, die eben nicht wissen konnten, wie es ausgeht, und die sich der noch ungebrochenen Staatsgewalt aussetzten. Sie sind für ihn diejenigen, die den schweren Wagen friedliche Revolution angeschoben haben. Und noch bis zum Schluss, bis zur endgültigen Öffnung der Übergänge, waren die Menschen – so Grünbein in einem der dichtesten Texte des Nachmittages – wegen der absoluten Offenheit der Situation hin und hergerissen zwischen Mut und Resignation.
„Unrechtsstaat“? Ja natürlich, aber leicht bekommt dieses Wort aus dem Munde eines Ahnungslosen, von der Geschichte Verwöhnten, einen falschen Beigeschmack. Denn sagt man damit nicht auch, dass alle damals am Unrecht mitgewirkt hätten? Grünbein ließ das Alltagsleben der vielen Zweifelnden mit „Seelenknurren“ wieder aufleben, in einem „hypnotischen Schlaf“, „verliebt ins Verschwinden“, abgestumpft von der öffentlichen Leugnung der Wahrheit. Ihre Erfahrungen lapidar durchzustreichen, vertieft nur die immer noch bestehende Kluft zwischen West und Ost.
In der anschließenden Diskussion wurden alle diese Fäden wieder aufgenommen, und Rödder und Grünbein versuchten zusammen mit Lammert den Ablauf zu sortieren: Es entstand das Bild einer allmählich immer mehr an Dynamik gewinnenden Bewegung, die in einem günstigen internationalen und personalen Umfeld (Kohl, Gorbatschow, Bush sen.) stand. Als aber – und das betonte Rödder – nach den wenigen Mutigen auch „das Volk“ von der Revolution erfasst war, der Durchbruch da war (Mauerfall), wurde das Geschehen in die Hände der internationalen und der deutsch-deutschen Diplomatie übergeben und „dem Volk“ entwunden – eine der vielen möglichen Ursachen für die heutige Unzufriedenheit in den ostdeutschen Ländern.
Natürlich darf an einem solchen Tag die Deutsche Frage nicht fehlen. Rödder sieht sie – nachdem man sie 1990 für erledigt hielt – wieder aufkommen. Wir Deutsche steckten in der „Wahrnehmungsfalle“. Wir hielten unser außenpolitisches Vorgehen für gutes Recht oder unsere Pflicht, werden von den Nachbarn und Partnern aber häufig des Vormachtstrebens beargwöhnt. Mehr denn je besteht für Rödder die Notwendigkeit der Balance, weder „rücksichtslose Führung noch führungslose Rücksicht“ walten zu lassen, weder in erratischer Form zu wenig zu tun (Verteidigung) noch die eigenen Vorstellungen zu sehr den anderen aufzudrängen (Verteilung der Migranten in der EU). Auch Grünbein fühlt, dass es in Deutschland „immer noch gäre“, dass unser Land noch nicht „fertig“ sei.
Bei soviel Nachdenklichkeit war es die Musik, die die Teilnehmer wieder ins Offene hinausriss: Ein aus Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammengesetztes Quartett führte auf beruhigende Weise ein Flötenquartett Haydns auf – und wo Haydn ist, kann an einem solchen Tag auch „Das Lied der Deutschen“ nicht weit sein, das der Saal nach den Schlussworten von Dr. Melanie Piepenschneider, der Leiterin der Politischen Bildung der Stiftung, anstimmte: „Einigkeit und Recht und Freiheit …“
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