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Die Leipziger Buchmesse: Belletristische Neuerscheinungen

Prof. Dr. Michael Braun
Während der drohende Irak-Krieg die Schriftsteller diesseits und jenseits des Atlantiks spaltet und bedächtige Stimmen wie die von Louis Begley, der vor einseitigen „Boykottaufrufen und anderen Formen ökonomischer Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit“ warnt (FAZ, 20.2.2003), eher die Seltenheit sind, ist die Produktivität der Frühjahrsbelletristik, die auf der diesjährigen Buchmesse in Leipzig präsentiert wird, ungebrochen. Angesichts der Umsatzrückgänge der letzten drei Jahre sieht sich die Buchbranche allerdings auf allen Ebenen einem Konzentrationsprozeß ausgesetzt. Der Erfolg verteilt sich auf immer weniger Titel, Autoren und Verlage. Dies zwingt zu verlegerischen Innovationen wie die der Reihe „Lyrikedition 2000“ von Heinz Ludwig Arnold, deren Bände „books on demand“ sind: elektronisch gespeichert und nur auf Bestellung gedruckt, also nie vergriffen (aber auch kaum in den Buchhandelsauslagen zu sehen). – Der folgende Überblick versucht einige markante Themen und Tendenzen aus der deutschsprachigen Belletristik des Frühjahrs herauszustellen.

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Familienromane im Aufwind

Familienromane haben spätestens seit Jonathan Franzens Bestseller „Die Korrekturen“ (2002), der mit den „Buddenbrooks“ verglichen wurde, auf dem Buchmarkt wieder Konjunktur. Dem Genre der Biographie, die Goethe zufolge „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen“ bestrebt ist, „inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt“, wird eine neue Seite abgewonnen, indem nicht nur über interessante Lebenswege erzählt wird, sondern auch über das Schreiben von Biographien selbst. Wirtschaftsgeschichte, Künstlerbiographie, Familiengeheimnisse, Lebenskrisen, an deren Ende ein Aufbruch stehen kann oder der Tod – das ist die Spannweite, innerhalb derer sich die Romane von Burkhard Spinnen, Daniel Kehlmann, Ruth Schweikert, Reinhard Jirgl und Maxim Biller bewegen.

Der KAS-Preisträger Spinnen porträtiert in seinem Buch „Der schwarze Grat“ die „Geschichte des Unternehmers Walter Lindenmeier aus Laupheim“, eines mittelständischen Metallfabrikbesitzers, in dessen wechselvollem Firmenleben sich auch die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen zwischen Kriegstrümmern bis zu ihrer Gegenwart im Zeichen der Globalisierung spiegelt. Der 1975 in München geborene Kehlmann widmet sich in „Ich und Kaminski“ einer Künstlerbiographie. Ein Kunststudent, beauftragt, die Biographie des Picasso-Schülers Kaminski zu schreiben, verheddert sich in den Widersprüchen von Lebenslüge und Wahrheit der Kunst. Der Held in dem Roman „Ohio“ der Schweizer Autorin Ruth Schweikert gerät durch einen Unglücksfall während einer Südafrikareise auf die Spur verschwiegener Familiengeschichten, die zurückreichen bis in das Breslau der letzten Kriegstage. Reinhard Jirgl legt mit seinem fünften Roman „Die Unvollendeten“ eine Familiensaga von Heimatlosen vor, in deren Zentrum vier Frauen stehen; sie sind die letzten Mitglieder einer 1945 aus dem Sudetenland vertriebenen Familie.

Der Roman „Esra“ des 1970 in Prag geborenen Maxim Biller sorgte jüngst für Aufsehen, weil Vertrieb und Bewerbung des Buches per Gerichtsbeschluß verboten wurden. Zwei Personen – darunter eine alternative Nobelpreisträgerin – hatten sich in der Titelheldin des Romans und ihrer Mutter wiedererkannt und eine entsprechende einstweilige Verfügung erwirkt. Doch Billers Roman ist mehr als ein Sittengemälde der Münchner Kulturschickeria. Mit Sarkasmus, aber mit radikaler Aufrichtigkeit porträtiert der Autor die Welt der Halbfamilien und Lebensabschnittspartnerschaften unserer Gegenwart, in der sich Trennungen und Versöhnungen mit der gleichen Selbstverständlichkeit abspielen wie Schuldvorwürfe und Anklagereden, Generationenbrüche und Generationenverträge.

Das zweite Buch

Autoren haben es mit ihrem zweiten Buch am schwersten, weil es immer am Erfolg ihres Debüts gemessen und zugleich von der Erwartungshaltung des Neuen und Andersartigen bestimmt wird. Judith Hermann, die nach ihrem ersten Buch „Sommerhaus, später“ (1999) mit Kritikerlob und Preisen überschüttet und zur authentischsten Stimme ihrer Generation erkoren wurde, hat nach über dreijährigem Schweigen weitere Erzählungen vorgelegt, die zwar in einigen der ersten Rezensionen kräftig verrissen wurden, die aber nach wie vor von der Meisterschaft gepflegter Schwermut zeugen. „Nichts als Gespenster“ ist ein lose gefügter Zyklus aus sieben Erzählungen, die nach Venedig, Prag und Karlsbad, in die Wüste Nevadas, nach Island oder in das Norwegen nördlich des Polarkreises führen. Aller äußeren Unruhe zum Trotze sind die weiblichen Helden unbewegt von großen Gefühlen, von Leidenschaft, Zorn oder Sehnsucht. Doch die dreiunddreißigjährige Judith Hermann verwandelt die Nöte ihrer Figuren, ihre Erfahrungsarmut und Larmoyanz, ihre Nähe zu Kitsch und Pop-Kultur, in die Tugenden von Stimmungsbildern, die durch die intensive Darstellung eines Lebensgefühls bestechen und den Nerv ihrer Generation (der „Generation Golf“) treffen.

Die DDR lebt – weiter

Wie stark die DDR in der gegenwärtigen Kultur nachlebt, haben nicht nur Erinnerungsbücher der jüngsten Autorengeneration wie Jana Hensels „Zonenkinder“ (2002) vor Augen geführt. Auch Wolfgang Beckers Erfolgsfilm „Good bye, Lenin!“ zeigt, wie einer glühenden Sozialistin, die am 40. Jahrestag der DDR ins Koma fällt und nach ihrem Erwachen unter allen Umständen vor weiteren Aufregungen geschont werden muß, das Weiterleben eines untergegangenen Staates mit allen – komischen und tragischen – Mitteln der Kunst vorgegaukelt werden kann.

Ralf Rothmann, der sich als Autor einer Romantrilogie des Ruhrgebiets einen Namen gemacht hat, versucht sich in einem neuen Genre, dem Berliner Großstadtroman, doch die Übertragung in ein neues Milieu glückt nur stellenweise. „Hitze“ erzählt die melancholische Liebesgeschichte zwischen einem abgehalfterten Hilfskoch und einer polnischen Stadtstreicherin, die sich im Berlin der Wendejahre begegnen. Die aus der Türkei stammende Autorin Emine Sevgi Özdamar schreibt in ihrem semiautobiographischen Roman „Seltsame Sterne starren zur Erde“ vor dem Hintergrund des Deutschen Herbstes und der WG-Atmosphäre der siebziger Jahre über ihre Erfahrungen in der geteilten Stadt Berlin, in die es die Schauspielerin aus Istanbul 1976 verschlagen hat – mit dem Wunsch, das Theater Brechts an der Volksbühne kennenzulernen, wo sie als Regieassistentin arbeitet.

Niederländische Literatur

Leon de Winters Roman „Malibu“ blättert anhand eines tragischen Alltagsschicksals das Sorgenregister unserer Zeit auf: das allgemeine Gefühl der Unsicherheit, die Angst vor einem Unglück, die schreckliche Vergangenheit, die unüberschaubare Gegenwart mit ihren Verschwörungstheorien. Mit zwei neuen Romanen beschließt A.F.Th. van der Heyden seinen siebenbändigen Zyklus „Die zahnlose Zeit“. Sie führen ähnlich wie bei Proust in einen vielstimmigen, zeitübergreifenden Erzählkosmos, in deren Mittelpunkt die Figur des Albert Egbert, eines tragischen „Narziß“ steht, der „sich nur dadurch mit der Welt vereinigen konnte, daß er in ihr untertauchte“. Als Überraschung darf die Wiederauflage des Debütromans des wohl bekanntesten niederländischen Gegenwartsautors, Cees Nooteboom, gewertet werden. „Philip und die anderen“, 1958 bei Diederichs in Köln erschienen und neu übersetzt, erzählt eine typisch Nooteboomsche Geschichte, ein melancholisches Märchen vom Traum des Lebens.

Der 1957 in Enschede geborene, heute in Rotterdam lebende Marcel Möring erzählt in seinem Roman „Mendel“ (2003) die Familiengeschichte assimilierter Juden, die in der niederländischen Kleinstadt E. angesehene Bürger waren, bis sie in die nationalsozialistischen Vernichtungslager im Osten deportiert wurden; die Großeltern und die Mutter des Titelhelden, der den Namen Mendel Adenauer trägt, überleben den Holocaust, aber ihr Vertrauen in die europäische Zivilisation ist erschüttert. „Mendel“ ist Mörings Debütroman (die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel „Mendels erfenis“), der den Autor schlagartig an die Spitze der niederländischen Gegenwartsliteratur beförderte. Marcel Möring liest am 5. Mai 2003 im Rahmen der Fachtagung der Konrad-Adenauer-Stiftung „Begegnung mit dem Nachbarn (II.): Niederländische Gegenwartsliteratur“ im Bonner Wissenschaftszentrum.

Stoffquelle Osteuropa

Osteuropa wird nicht nur von deutschsprachigen Autoren immer mehr als Fundgrube an Themen entdeckt. Jens Sparschuh erzählt in dem Roman „Eins zu eins“ die Geschichte eines doppelten Verschwindens. Auf der Suche nach seinem verschollenen Kollegen, einem Wanderkartenzeichner, gerät der Erzähler auf die Spuren des untergegangenen Volkes der Wenden, dessen Vergangenheit sich in keinem Kartenraster erhalten hat. Die Recherchen führen zurück in die Zeit der Völkerwanderungen und der slawischen Besiedlungsgeschichte des Raums zwischen Elbe und Oder; und sie spiegeln zugleich mit dem aus Sparschuhs Erfolgsroman „Der Zimmerspringbrunnen“ (1995) vertrauten skurrilen Humor die deutsch-deutsche Gegenwart wider.

Der ungarische Schriftsteller und Karlspreisträger György Konrád widmet seinen Roman „Glück“ der Erinnerung an jenen entscheidenden Tag in seinem Leben, als er nach dem Einmarsch der Roten Armee mit seiner Schwester – die Eltern waren verschleppt – Budapest verlassen mußte, um dann später in sein Heimatdorf zurückzukehren und dort einen neuen Anfang zu wagen. Glück und Leid, Krieg und Frieden werden in diesem Roman, teils aus sentenziöser Distanz, teils aus anrührender Näge, als gleichberechtigte Aspekte der osteuropäischen Geschichte gezeigt: „Am Leben bleiben ist Glück, zu sterben Mißgeschick, der Mensch kann für sich selbst etwas tun, viel allerdings nicht, und aus Hochmut tut er manchmal nicht einmal das“. – Wie man aus einem Mercedes eine Familiengeschichte entwickeln kann, illustriert der Roman „Mercedes Benz“ (polnische Erstausgabe „Weiser Dawidek“, 1997) des 1957 in Gdansk geborenen Autors und Journalisten Pawel Huelle. Ein Benz 170 ist das Leitmotiv dieser Erzählung, die von den zwanziger Jahren über die sowjetische und deutsche Besatzungszeit bis in die Gegenwart der neunziger Jahre führt.

Richard Wagners „Der leere Himmel“, der zugleich Reiseroman und politischer Essay ist, befragt Geschichte und Kulturen, Religionen und Nationalitäten des Balkan und schildert die eigenen teils kuriosen, teils abenteuerlichen Erlebnisse, die dem Autor auf seinen jahrelangen Reisen in der Region widerfahren sind. Wagners Buch zeigt, daß auf dem Balkan auch unsere Geschichte und die europäische Identität verhandelt werden: „Der Balkan hat viel mit uns zu tun. Mehr, als wir denken, und mehr, als wir zu denken bereit sind. Die größte Gruppe der Ausländer, die in Deutschland leben, stellen, nach den Türken und Kurden, die Menschen aus dem jugoslawischen Raum. Es sind Gastarbeiter und Flüchtlinge und deren Nachkommen. Auch der Balkan ist Europa“.

Ausgewählte belletristische Neuerscheinungen im Überblick

Romane und Erzählungen

Biller, Maxim: Esra. Roman. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 2003.

Hermann, Judith: Nichts als Gespenster. Erzählungen. Frankfurt a.M.: Fischer, 2003.

Heyden, A.F.Th. van der: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit. Roman. – Unterm Pflaster der Sumpf. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Huelle, Pawel: Mercedes Benz. Roman. München: Hanser, 2003.

Jirgl, Reinhard: Die Unvollendeten. Roman. München: Hanser, 2003.

Kehlmann, Daniel: Ich und Kaminski. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Kuckart, Judith: Die Autorenwitwe. Erzählungen. Köln: Dumont, 2003.

Möring, Marcel: Mendel. Roman. München: Luchterhand, 2003.

Nooteboom, Cees: Philip und die anderen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Özdamar, Emine Sevgi: Seltsame Sterne starren zur Erde. Roman. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 2003.

Rothmann, Ralf: Hitze. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Sparschuh, Jens: Eins zu eins. Roman. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 2003.

Schweikert: Ohio. Roman. Zürich: Ammann, 2003.

Spinnen, Burkhard: Der schwarze Grat. Die Geschichte des Unternehmers Walter Lindenmeier aus Laupheim. Frankfurt a.M.: Schöffling, 2003.

Winter, Leon de: Malibu. Roman. Zürich: Diogenes, 2003.

Essays

Beyer, Marcel: Nonfiction. Essays und Vorträge. Köln: Dumont, 2003.

Grünbein, Durs: Warum schriftlos leben. Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Nizon, Paul: Abschied von Europa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Wagner, Richard: Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan. Berlin: Aufbau,2003.

Lyrik

Aigner, C.W.: Giuseppe Ungaretti: Zeitspüren. Gedichte. Auswahl und Übertragung durch C.W.A. Stuttgart: DVA, 2003.

Enzensberger, Hans Magnus: Die Geschichte der Wolken. 99 Meditationen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Heske, Henning: Ereignishorizonte. München: Lyrikedition, 2003.

Mayröcker, Friederike: Mein Arbeitstirol. Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Samson, Horst: La Victoire. Poem. München: Lyrikedition, 2003.

Internet-Links:

www.faz.de/fruehjahrsprogramme (ab 17.3.03)

www.literaturkritik.de(10.3.03)

www.perlentaucher.de(10.3.03)

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2003 оны гуравдугаар сарын 14
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