Polarisierung
Ein charakteristisches Merkmal der polnischen Politik ist eine starke gesellschaftliche Polarisierung (mit verschiedenen Konfliktlinien: u.a. Stadt-Land, West-Ost, Haltung zur Religion, ökonomische Stellung) und ein daraus resultierendes politisches Klima, das aufgeheizter kaum sein könnte. Seit 2015 wurde Polen von der von Jarosław Kaczyński angeführten Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Koalition mit kleineren Partnern regiert. In dieser Zeit wurden Reformen eingeführt, die laut PiS zur „Heilung des öffentlichen Lebens und zur Verbesserung des Justizwesens“ führen sollten. Im Rahmen dieser Reformen wurde das politische System so stark deformiert, dass es in vielerlei Hinsicht nicht mehr demokratischen Kriterien entsprach.[1] In den acht Jahren wurden ohne Rücksicht auf demokratische Verfahren Schlüsselinstitutionen im Staat der Regierungspartei untergeordnet. Die Judikative wurde in einer Weise reformiert, die die Unabhängigkeit der Justiz beeinträchtigt. Gleichzeitig wurden politische Gegner der PiS als „Vaterlandsverräter“ abgestempelt. Im Narrativ der nationalkonservativen Kräfte gibt es keinen Platz für Konsens und politische Schnittmengen. Es gibt nur Schwarz und Weiß - wir und sie. Die forcierte politische Polarisierung hat die polnische Gesellschaft massiv gespaltet und eine fundierte Debatte über die tatsächlichen Probleme des Landes behindert. Eine Verständigung und eine sachliche öffentliche Debatte zwischen den beiden Seiten ist nahezu unmöglich geworden. Diese Situation wird in der polnischen Presse als „polnisch-polnischer Krieg“ beschrieben.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums stehen pro-demokratische Parteien, die konservativ-liberale, progressive und ökologische Ansätze vertreten. Programmatisch weisen diese Parteien teils große Unterschiede auf, haben sich aber dennoch darauf einigen können eine gemeinsame Koalition zu bilden. Sie sind mit dem Motto in die Wahlen gegangen, die demokratischen Standards in Polen wiederherzustellen und den „PiS-Staat“ abzuwickeln. Damit griffen die Parteien die mehrheitliche Erwartung ihrer Wähler auf, schnelle und substanzielle Veränderungen vorzunehmen.
Trotz des Wahlsieges der Opposition im Oktober 2023 übertrug der polnische Staatspräsident Andrzej Duda die Aufgabe der Regierungsbildung zuerst seiner Mutterpartei, der PiS, als größter Fraktion im Sejm. Wie erwartet, erhielt die PiS-Regierung im verfassungsmäßigen, aber zeitverschleppenden Verfahren kein Vertrauensvotum. Nach der polnischen Verfassung geht die Initiative zur Ernennung des Premierministers erst im zweiten Schritt an das Parlament. Der Sejm beauftragte mit der Regierungsbildung Donald Tusk, dem Vorsitzenden der PO, der stärksten Partei unter den Koalitionspartnern. Somit wurde die neue Regierung erst zwei Monate nach den Wahlen, am 13. Dezember 2023, vereidigt.
In seiner Regierungserklärung im Sejm wies Premierminister Tusk treffend darauf hin, dass eine der größten Herausforderungen darin besteht, die durch die Polarisierung verursachten gesellschaftlichen Spannungen zu entschärfen. Er betonte auch die Notwendigkeit der Einigkeit und der Unterstützung der Wählerschaft, um schwierige institutionelle Reformen durchführen zu können. Einen solchen Vertrauensvorschuss benötigt die derzeitige Koalition zweifelsohne, insbesondere wenn sie die Wählerschaft mit der Haushaltsrealität konfrontieren muss, die den Rahmen für die Wahlversprechen bilden.
Donald Tusk erinnerte die Koalitionspartner in seiner Regierungserklärung an die Grundlage ihrer Zusammenarbeit, als er von der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und von der Verankerung Polens in der EU sprach. Unabhängig von diesen unstrittig gemeinsamen Interessen wird es in der Koalition insbesondere bei gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Fragen absehbar auch Differenzen geben. Für viele wird die Koalition wahrscheinlich oft eine Quelle der Frustration sein - wie es zum Beispiel beim Thema Abtreibung bereits ersichtlich wurde. Noch vor den Wahlen brach eine Diskussion aus, die Unterschiede zwischen den Koalitionspartnern zu diesem Thema deutlich machte. Daher wird ein hohes Maß an interfraktioneller Disziplin nötig sein, um die Parlamentsmehrheit gegenüber der PiS aufrechtzuerhalten und einen Sieg bei den Kommunalwahlen im April und den Europawahlen im Juni zu erringen.
Die Tatsache, dass es in Tusks Regierungserklärung in erster Linie darum ging, was die Polen vereinen und nicht spalten sollte (die Abrechnungen mit der vorherigen Regierung wurden zwar erwähnt, waren aber nicht der Kernpunkt der Rede), wird vielleicht dazu führen, dass zumindest ein Teil der PiS-Wählerschaft in ihr Misstrauen gegenüber der neuen Regierung sukzessive verliert. Allein das wäre schon eine ganze Menge.
Alte Garde - neue Koalition
Die Vertreter aller Koalitionspartner sind gemäß ihrer Parlamentsstärke in der Regierung Tusk vertreten. Dabei wurden die Schlüsselministerien mit erfahrenen Politikern der PO oder der alten Garde aus den früheren PO-PSL-Regierungen besetzt. Donald Tusk selbst ist zum dritten Mal Premierminister. Er hatte das Amt bereits von 2007 bis 2011 und 2011 bis 2014 inne. Das Innenministerium wurde Marcin Kierwiński anvertraut, einem langjährigen Mitglied des Sejms und PO-Generalsekretär. Das Außenministerium wird von Radosław Sikorski geleitet, der seit den frühen 1990er Jahren in der Politik tätig ist und bereits in den vorherigen Tusk-Regierungen Außenminister war. Ebenfalls regierungserfahren ist Borys Budka, ehemaliger Justizminister, jetzt Minister für Staatsvermögen, zuständig u.a. für die staatlichen Energieunternehmen. Das Kulturministerium, das u.a. für die öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuständig ist, wurde dem ehemaligen Innenminister und Koordinator der Sonderdienste, Bartłomiej Sienkiewicz, anvertraut. Ebenfalls in den Händen der PO sind die Ministerien für Finanzen und Gesundheit.
Die kleineren Koalitionspartner haben die Posten der stellvertretenden Premierminister erhalten. Einer von ihnen ist Władysław Kosiniak-Kamysz, Vorsitzender der PSL, der zuvor als Minister für Arbeit und Soziales in Tusks zweiter Regierung tätig war. Jetzt hat er das Ressort des Verteidigungsministers erhalten. Darüber hinaus ist die mitgliederstarke Polnische Volkspartei in der Regierung mit den Ministern für Wirtschaft und Landwirtschaft vertreten. Die PSL ist eine etablierte Partei, die traditionell mit der landwirtschaftlichen Wählerschaft verbunden ist. Wie die PO gehört sie zur Parteienfamilie der EVP.
Der zweite stellvertretende Ministerpräsident ist Krzysztof Gawkowski von der Neuen Linken, der auch Minister für Digitalisierung ist. Die Neue Linke hat noch die Ministerien für Gleichstellung und Wissenschaft erhalten. Die Partei ist ein Bündnis verschiedener sozialdemokratischer und progressiver Gruppierungen. Einige der Politiker der Partei verfügen über umfangreiche Parlaments- und Regierungserfahrung aus den Regierungen mit PSL in den 1990er und frühen 2000er Jahren.
Der vierte Koalitionspartner ist eine neue Partei, die zum ersten Mal Abgeordnete in den Sejm brachte - Polska 2050. Sie erhielt das Ministerium für Zivilgesellschaft sowie das Ressort Klima und Umwelt. Darüber hinaus wurde der Vorsitzende dieser Gruppierung, Szymon Hołownia, gemäß der Koalitionsvereinbarung zum Präsidenten des Sejms gewählt. Polska 2050 präsentiert sich als dynamisch-zentristische Formation. Ideologisch bezieht sie sich einerseits auf christdemokratische und liberale Traditionen und andererseits auf progressive und ökologische Strömungen. Auf europäischer Ebene arbeitet sie mit der Renew Europe Fraktion zusammen.
Erwähnenswert neben den politisch erfahrenen Mandatsträgern ist der parteilose Rechtsprofessor Adam Bodnar, ehemaliger Ombudsmann für Bürgerrechte, der zum Justizminister ernannt wurde. Er war bereits als Gegner der früheren Justizreformen der PiS bekannt geworden und macht sich bei heftigem Gegenwind nun daran eine neue Unabhängigkeit der Justiz durchzusetzen.
Herausforderungen für die neue Regierung - Schlüsselbereiche
Laut der Koalitionsvereinbarung steht das Thema Sicherheit an erster Stelle der Prioritäten der Koalition. In der Übereinkunft heißt es, dass die Regierung angesichts der beispiellosen Bedrohung der Sicherheit Polens durch die russische Aggression gegen die Ukraine die Position des Landes konsequent stärken wird. Sie wird „eine klare und überschaubare Außenpolitik verfolgen, verständlich für Freunde und abschreckend für Feinde“. In der Sicherheitspolitik ist eine Verlagerung des Schwerpunkts hin zu europäischen Lösungsansätzen zu erwarten. Obwohl Polens Sicherheit weiterhin auf einer engen Zusammenarbeit mit der NATO und einer strategischen Partnerschaft mit den USA beruhen wird, ist davon auszugehen, dass die Regierung Tusk Pläne zur Stärkung der gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU wohlwollender betrachten wird als die Vorgängerregierung. Absehbar wird im Falle eines Sieges von Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen und der von ihm angekündigten Reduzierung des US-Engagements in der NATO die europäische Komponente der Sicherheitsarchitektur zu einem zentralen Anliegen für Polen. Ungeachtet dessen behandelt Polen als Frontstaat die Frage der Aufrüstung und Modernisierung der eigenen Armee als vorrangige Aufgabe. In dieser Frage gibt es auch einen parteiübergreifenden Konsens. Der Haushalt 2024 sieht vor, nahezu 4 Prozent des BIP für die Armee auszugeben.
Die Prioritäten der polnischen Außenpolitik lassen sich an den ersten Auslandsbesuchen des neuen Premierministers ablesen. Noch im Dezember 2023 reiste Tusk nach Brüssel. Eines seiner Ziele war die Freigabe von Mitteln aus dem Wiederaufbaufonds, die aufgrund von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Polen zurückgehalten worden waren. Eine zweite Reise unternahm der Premierminister im Januar in die Ukraine. Zum einen zeigte Tusk seine Unterstützung für die kämpfende Ukraine und zum anderen sprach er strittige Fragen in Bezug auf die Einfuhr und den Transit von ukrainischem Getreide durch Polen an.
Nach wie vor ist die Unterstützung für eine Aufnahme der Ukraine in die EU groß, wenngleich die Debatte über konkrete Folgen einer möglichen Erweiterung in Polen noch geführt werden muss. Zu denken ist beispielsweise an eine dann anstehende Änderung der Verteilung der Strukturfonds in künftigen EU-Haushalten, die dazu führen würde, dass Polen nicht mehr der größte Nettoempfänger wäre. Daneben wäre die ukrainische Konkurrenz auf wirtschaftlichem Gebiet eine große Herausforderung, etwa für Polens Landwirte oder die Logistikbranche.Die Koalitionspartner beabsichtigen, die durch das Vorgehen ihrer Vorgänger erschütterte Rechtstaatlichkeit wiederherzustellen. Dies soll durch eine Entpolitisierung der Gerichte und der Staatsanwaltschaft geschehen. Dies wird keine leichte Aufgabe, denn die Vorgängerregierung hat ein legislatives und institutionelles Chaos hinterlassen. Die Justiz ist gespalten in Befürworter und Gegner der von der PiS eingeführten Reformen. Die Folge dieser Spaltung ist eine Art Dualismus des Justizwesens, der zu widersprüchlichen Linien in der Rechtsprechung führte. Um in diesem Bereich Ordnung zu schaffen, müssen neue Gesetze verabschiedet werden. Staatspräsident Duda hat jedoch bereits angekündigt, dass er sein Veto gegen Gesetze einlegen wird, die die von der PiS eingeführten Reformen rückgängig machen.
Die Koalitionsvereinbarung sieht auch Gehaltserhöhungen für wichtige Berufe im Staatsapparat und öffentlichen Dienst vor, wie Lehrer, Verwaltungsangestellte, Richter und Staatsanwälte. Die Koalitionsparteien sind der Ansicht, dass das niedrige Lohnniveau in diesen Berufen zu einer Abwanderung von Fachkräften führt, was die Stabilität des Staates und die Ausbildung junger Menschen gefährdet. Angesichts des allgemeinen wirtschaftlichen Abschwungs und der zunehmenden Verschuldung des Landes wird dies eine schwere Belastung für die zu konsolidierende Staatskasse. Der Haushalt 2024 sieht eine Gehaltserhöhung von 30% für Lehrer und 20% für weiter Staatsbedienstete vor. Die staatliche Gesundheitsversorgung ist ein weiterer Bereich, in dem die Ausgaben steigen werden. Die Mittel dafür wurden im Haushalt um fast 7 Mrd. € im Vergleich zum Vorjahr erhöht. Mit dieser Ausgabenpolitik wird die Staatsverschuldung 50 % des BIP überschreiten. Das geplante Haushaltsdefizit 2024 wird einen Rekordwert von 41 Milliarden Euro (5,1 % des BIP) erreichen, bei geplanten Einnahmen von knapp über 156 Milliarden Euro. Insgesamt ist es jedoch noch zu früh, um die Auswirkungen der fiskalischen Maßnahmen auf die öffentlichen Finanzen zu beurteilen. Zumal das im Januar 2024 verabschiedete hochdefizitäre Haushaltsgesetz weitgehend von der Vorgängerregierung vorbereitet war. Im Koalitionsvertrag wurde explizit festgehalten, dass die Transparenz der öffentlichen Finanzen wiederhergestellt und eine „demokratische Kontrolle“ über sie gewährleistet werden soll. Der PiS wird vorgeworfen, Staatsausgaben in außerbudgetären Fonds versteckt zu haben. Im Gegensatz dazu haben die Koalitionsparteien sich dazu verpflichtet, die Ausgaben zu überprüfen und ein Weißbuch über die Staatsfinanzen zu veröffentlichen.
Die Politiker der neuen Koalition betonten im denkbar schmalen Koalitionsvertrag, dass in vergangenen Jahren die polnischen Unternehmer durch die Regierung schikaniert wurden. Sie betonen, dass ohne eine Wiederbelebung des Unternehmergeistes eine Rückkehr auf den Weg eines langfristigen Wirtschaftswachstums, das zu höheren Löhnen führt, nicht möglich sein wird. Im Rahmen der Koalitionsvereinbarungen wurden eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Unternehmer vorgesehen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Mittelstand und die Mittelschicht für die PO die Wählerbasis bilden. Die Koalitionsvereinbarung sieht auch die bessere Planbarkeit in der Steuerpolitik vor, indem das Prinzip einer mindestens sechsmonatigen vacatio legis für Änderungen im Steuerrecht eingeführt wird. Die Koalitionsparteien haben sich außerdem verpflichtet, die Steuerlast für Erwerbstätige zu senken und den Steuerfreibetrag zu erhöhen, um die Erwerbsbeteiligung und die Unterstützung für Familien zu fördern.
Im Hinblick auf die Finanzpolitik ist die Kontrolle über die Geldmenge auf dem Markt ebenfalls ein problematischer Aspekt. Zumal die Notenbank eine Geldpolitik verfolgen kann, die sich von den Zielen der Regierung völlig unterscheidet. Die kumulierte Inflation vom Ausbruch der COVID-19-Pandemie bis zum dramatischen Anstieg der Energiepreise aufgrund des Krieges in der Ukraine betrug bis Dezember 2023 über 42,5% und lag damit deutlich über dem EU-Durchschnitt im selben Zeitraum. Gleichzeitig ist der Chef der Zentralbank, Adam Galpinski, ein Vertreter der PiS, nicht erpicht darauf, die Zinssätze zu erhöhen, da er davon ausgeht, dass hohe Konsumquoten das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Für diese Haltung wurde er bereits von Tusk kritisiert, als er noch Oppositionsanführer war. Für Tusk war die Eindämmung der galoppierenden Inflation vorrangig. Der Umgang der derzeitigen Regierung mit der Zentralbank scheint äußerst schwierig zu werden. Das Dilemma ist, dass die Zinsen deutlich steigen müssten, um die Inflation zu bekämpfen, dies aber die Konjunktur belastet.
Der Koalitionsvertrag sieht auch eine Entpolitisierung der staatlichen Unternehmen vor, indem klare Bewerbungskriterien für Führungspositionen eingeführt werden. Die vorherige PiS-Regierung hat eine Wirtschaftspolitik umgesetzt, die stärker auf inländische Unternehmen vor allem mit staatlichen Anteilen setzen sollte. Aus diesem Grund wurden Unternehmen verstaatlicht und staatseigene Konglomerate geschaffen. Der Staat agierte hier nicht nur als Regulierer, was seine Pflicht ist, sondern auch als Marktakteur. Viele der Investitionen der aufgeblähten Staatskonzerne dienten nicht der Volkswirtschaft, sondern den Interessen der Regierungspartei, d.h. der PiS, wie z.B. der Kauf von Regionalzeitungen durch den staatlichen Energiekonzern Orlen oder die Finanzierung der staatlichen Medien nicht nur durch staatliche Subventionen, sondern auch durch Anzeigen staatlicher Unternehmen. Außerdem förderte eine solche Konzentration die Entwicklung von Monopolpraktiken. Orlen bestimmte die Preise der Energieträger auf dem gesamten Markt und beeinflusste damit zusätzlich die öffentliche Stimmung. Die pro-demokratischen Parteien hingegen verpflichteten sich in der Koalitionsvereinbarung, niedrige Energiepreise für Haushalte und Unternehmen auf der Grundlage von Mechanismen des gesunden Wettbewerbs und klarer Marktregeln zu gewährleisten. In diesem Bereich zeigt sich eine grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen der aktuellen und der vorherigen Regierung. Was für die einen ein wünschenswerter Wettbewerb auf einem freien Markt ist, bedeutet für die anderen den Abbau von Ressourcen, die für die staatliche Handlungsfähigkeit wichtig sind.
In der Energiepolitik wird die Fortführung der Pläne zum Bau von Kernkraftwerken als Quelle sauberer, d.h. emissionsfreier Energie erwartet. Diesbezüglich gab es schon klare Aussagen der Regierung. Gleichzeitig wird der Anteil der erneuerbaren Energiequellen am polnischen Energiemix steigen, was bereits ein Trend und eine Folge der europäischen Verpflichtungen ist. Die Aufgabe für die nahe Zukunft, d.h. für 2024, wie von der Koalition angekündigt, wird jedoch darin bestehen, die Energiepreise durch ein System von Subventionen zu stabilisieren.
Dem Koalitionsvertrag zufolge ist auch die Lösung des Wohnungsproblems „eine der wichtigsten Herausforderungen für Polen“. Die Koalitionsparteien verpflichten sich die Verfügbarkeit von Eigentumswohnungen, Mietwohnungen, sowie Sozial- und Kommunalwohnungen zu erhöhen. Eines der bereits eingeführten Instrumente sollen zinsgünstige Wohnungsbaudarlehen sein, die gleichzeitig das Angebot weiter ankurbeln und so zur Entwicklung der Bauwirtschaft beitragen sollen, die rund 10 % des BIP ausmacht.
Ein besonderer Punkt in der politischen Vereinbarung zwischen KO, Polska 2050, PSL und der Neuen Linken war der Rechenschaftspflicht der PiS-Regierungen gewidmet. „Die Gesetzlosigkeit unserer Vorgänger muss beim Namen genannt und zur Rechenschaft gezogen werden. Ohne Rechenschaft über die Pathologien und Verbrechen der Vorgängerregierung gibt es und wird es kein gerechtes und gesetzestreues Polen geben“. Die ersten Schritte in dieser Hinsicht waren die Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, die Unregelmäßigkeiten und Missbräuche während der PiS-Regierung aufdecken sollen[2].
Wie kann man eine ramponierte Demokratie reparieren?
In Tusks Vorstellung soll der demokratische Rechtsstaat und nicht die jeweils regierende Partei der Bezugspunkt für die Bürger sein. Dies ist die Grundlage für das, was Tusk als Rechenschaftspflicht, Wiedergutmachung und Versöhnung bezeichnet. Die Macht soll von der Parteizentrale der PiS an die Regierung und Organe des Staates zurückkehren. Im Gegensatz dazu war die wirkende Entscheidungsgewalt im PiS-Staat letztlich in den Händen des Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński konzentriert. Die in der Verfassung festgehaltene Kompetenzen von staatlichen Institutionen wurden entweder umgangen oder die Institutionen wurden von der Partei abhängig gemacht. So war es auch im Falle des von der PiS reformierten Justizsystems. Während europäische Gerichte und große Teile der polnischen Jurisprudenz anerkannt haben, dass diese Reformen die Unabhängigkeit der Justiz nicht garantieren, kann eine en bloc Anfechtung der aktuellen Rechtsordnung folgenschwer sein und gefährliche Präzedenzfälle schaffen.
Die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen wird daher eine äußerst schwierige Aufgabe sein, bei der sich die derzeitige Regierung auf dünnem Eis bewegt. Es stellt sich die Frage, ob dies überhaupt mit rechtsstaatlichen Mitteln umsetzbar ist, wenn mächtige Vetospieler aus dem politischen System heraus dagegen wirken. Womit die Regierung Tusk es zu tun hat, lässt sich an zwei Beispielen aus jüngster Zeit verdeutlichen.
Eine der ersten Maßnahmen seiner Regierung bestand darin, die Leitung der staatlichen Medien, die als Propagandaorgan der PiS galten, zu ersetzen. Dies konnte nur mit schnellen gesetzlichen Änderungen gelingen. Daher wurde eine Variante von umstrittener Rechtmäßigkeit gewählt, nämlich die Liquidierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Nach der Ankündigung des Kulturministers sollte die Liquidation dazu dienen, Aufsichtsräte und Vorstände loszuwerden. Das Landesgerichtsregister verweigerte daraufhin die Eintragung des Liquidators und das Verfassungsgericht entschied, dass die von der Regierung angeführte Rechtsgrundlage für den Liquidationsprozess verfassungswidrig sei. Das Kulturministerium hat erklärt, dass es sich von der Entscheidung des politisierten Verfassungsgerichts nicht abhalten lassen wird und gegen die Entscheidung des Landesgerichtsregister Berufung einlegen wird. Es gibt zwar gute Gründe, das Verfassungsgericht als ein Werkzeug in den Händen der PiS zu betrachten, aber wie soll die Exekutive insgesamt mit seinen Urteilen umgehen? Wie und wer soll entscheiden welche Urteile der vergangenen Jahre gültig sind und welche nicht?
Ein zweites Beispiel für Chaos in der Justiz sind die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit der Verurteilung der PiS-Abgeordneten Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik zu Haftstrafen wegen Überschreitung ihrer Befugnisse, als sie die zentrale Antikorruptionsbehörde geleitet haben. Die erste Verurteilung wurde 2015 ausgesprochen. Bevor sie rechtskräftig wurde, begnadigte Präsident Duda die beiden Politiker. Daraufhin erklärte der Oberste Gerichtshof den Gnadenakt für unwirksam, da es sich um eine nicht rechtskräftige Verurteilung handelte und verwies den Fall zur erneuten Prüfung zurück. Das Verfassungsgericht hingegen entschied das Gegenteil, nämlich dass die Begnadigung rechtskräftig sei. Trotzdem verkündete das Bezirksgericht, also die zweite Instanz, im Dezember 2023 die Verurteilung. Die PiS-Politiker wurden kurzzeitig inhaftiert, und der Präsident begnadigte sie ein zweites Mal. Dabei argumentierte er, das Urteil des Bezirksgerichts sei ungerecht und offenbar gefalle jemandem der Kampf gegen die Korruption nicht. In der Zwischenzeit verhandelte der Oberste Gerichtshof über die Berufung der beiden Abgeordneten gegen den Entzug ihrer Parlamentssitze im Zusammenhang mit der jüngsten Verurteilung. Eine Kammer dieses Gerichts entschied, dass sie keine Abgeordneten mehr sind, eine andere Kammer desselben Gerichts entschied, dass ihre Mandate doch nicht erloschen sind, weil die Begnadigung vom Staatspräsidenten noch aus Jahr 2015 gilt und die Verurteilung vom 2023 keine rechtlichen Wirkungen entfaltet. Das zeigt die Politisierung der Gerichte noch einmal deutlich auf.
Um die polnische Justiz zu sanieren sind nicht nur tiefgreifende Gesetzesänderungen nötig, die die Billigung des Staatspräsidenten erfordern. Schon das erscheint bei den derzeitigen Machtverhältnissen fast unmöglich. Auch ein Konsens zwischen Politikern, Richtern und Staatsanwälten über Parteigrenzen hinweg ist notwendig, um die demokratische Rechtsordnung nachhaltig zu bewahren. Überdies ist eine inklusive öffentliche Debatte über die Prinzipien der Rechtstaatlichkeit nötig. Andernfalls wird die PiS vermeintliche Fehler des neuen Kabinetts ausnutzen und sie der Verletzung der Verfassung, der Heuchelei oder des „Terrors der Rechtsstaatlichkeit“ beschuldigen, wie Präsident Duda kürzlich sagte. Die Veränderungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die Verurteilung von PiS-Politikern, so wie die neulichen Entlassungen von Bediensteten der Staatsanwaltschaft durch den Justizminister werden bereits von Demonstrationen der Gegner der derzeitigen Regierung begleitet. Vielleicht ist dieser Ansatz idealistisch, aber jemand muss den ersten Schritt tun, um den „polnisch-polnischen Krieg“ zu beenden. Ob es der derzeitigen Regierung und der Parlamentsmehrheit gelingen wird, diesen Konflikt zu beenden und das Gemeinschaftsethos wiederherzustellen, wird die Zeit zeigen.
Momentan sieht jedoch alles nach einem fortgesetzten Kulturkampf aus wie die jüngsten Entwicklungen zeigen. Zwar hat Präsident Duda am 31. Januar das für die Regierung wichtige Haushaltsgesetz unterzeichnet, gleichzeitig aber an das Verfassungsgericht verwiesen. Der Grund dafür waren seine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens zur Verabschiedung dieses Gesetzes, d.h. daran, dass die Abgeordneten Kamiński und Wąsik, nicht an der Haushaltsabstimmung teilnehmen konnten. Weiter kündigte der Staatspräsident an, dass er jedes Gesetz, das ohne die Beteiligung der beiden PiS-Abgeordneten verabschiedet wird, auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen wird. Politiker aus dem Regierungslager kündigten ihrerseits die Einleitung des Verfahrens zur Amtsenthebung des Staatspräsidenten an. Insofern haben sich die politischen Wogen auch Monate nach der Parlamentswahl nicht geglättet.
[1] Bertelsmann Transformation Index: https://bti-project.org/en/reports/country-dashboard/POL
[2] Bislang wurden drei Untersuchungsausschüsse eingesetzt. Ein zur Rechtmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Briefwahl für die Präsidentschaftswahl 2020, die faktisch nicht auf diese Weise stattgefunden hat. Der zweite befasst sich mit der sogenannten Visa-Affäre, bei der es um Korruption bei der Ausstellung von Schengen-Visa durch das Außenministerium geht. Der letzte Ausschuss befasst sich mit der illegalen Überwachung der Opposition durch Software (Pegasus) während der PiS-Regierung.