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Bolivien – zwischen Demokratie und Autoritarismus

Автор: Peter-Alberto Behrens
Die MAS (Movimiento al Socialismo) setzt absolute Mehrheit als Wahlmodus in der Verfassunggebenden Versammlung durch - Opposition wirkt machtlos - Widerstand in Regionen und Bevölkerung wächst.

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Vielen Bolivianern erschien das Projekt einer neuen Verfassung als eine letzte Hoffnung, um die seit geraumer Zeit starken Spannungen innerhalb ihrer Gesellschaft zu überwinden oder zumindest zu lindern. Dieser Tage jedoch scheint die seit dem 6. August tagende Verfassunggebende Versammlung diese Spannungen eher noch zu verschärfen. Am 18. November entschied die Fraktion der Regierungspartei MAS – bei Abwesenheit der Oppositionsfraktionen – die absolute Mehrheit als vorherrschenden Wahlmodus für alle zukünftigen Wahlgänge in der Versammlung festzulegen. Abgesehen davon, dass dies dem Geist eines breit und demokratisch legitimierten zukünftigen Grundgesetzes widerspricht und dass dies in legaler Hinsicht eine zumindest fragwürdige Entscheidung ist (1) , macht es die Existenz einer demokratisch gewählten Opposition hinfällig – die MAS verfügt über eine bequeme absolute Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung (137 von 255 Mitgliedern) und könnte ab nun eine Verfassung nach ihrem Gusto gestalten.

Die Reaktion darauf ließ etwas auf sich warten. Seit Ende November häufen sich im ganzen Land spontane Protestmärsche, Demonstrationen, Kundgebungen und selbst Hungerstreiks für den „2/3-Modus“, der eigentlich für jeden Verfassungsprozess in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit ist. Die Lage hat sich durch wiederauflammende Forderungen nach mehr Autonomie der Regionen verschärft, nachdem in der am 2. Juli gehaltenen Volksbefragung zu diesem Thema die vier östlichen Departments sich einhellig für mehr Eigenständigkeit ausgesprochen hatten und die politische Brisanz des Themas sich dadurch abgeschwächt hatte. Offensichtlich sehen aber die Wähler aus Santa Cruz, Pando, Tarija und Beni ihr demokratisches Votum in Gefahr. Zumal die Regierung Morales sich noch kurz vor dem Referendum im Juli gegen die „oligarchische Autonomie“ aussprach und kaum ein Zweifel daran besteht, dass sie am liebsten dieses Votum über ihre Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung aushebeln möchte. Für Freitag den 15. Dezember sind in den entsprechenden Departments mehrere „Cabildos“, also Volksversammlungen angekündigt, auf denen die „de facto-Autonomie“ ausgesprochen werden soll. Die schon vergangen geglaubten Befürchtungen eines anstehenden Bürgerkriegs sind damit erneut erwacht.

Die neue Verfassung, ein Herrschaftsprojekt der MAS

„Refundar Bolivia“ – Bolivien neu zu gründen, war immer schon das offen ausgesprochene Ziel der MAS. Eine neue Verfassung ist dafür die Grundlage. Allerdings formulierten die Parteiführer dieses Ziel so offen wie möglich. So konnten auch große Teile der Mittelschicht für dieses Projekt gewonnen werden, die nach so vielen politischen Turbulenzen der vergangenen Jahre stark am traditionellen Parteisystem zweifeln. Die MAS war geschickt genug, diese Klientel nicht mit allzu radikalen Forderungen zu verprellen und eher von einem Projekt zu sprechen, in dem sich „endlich“ alle Bolivianer ohne Unterschied wieder finden sollten. Tatsache ist, dass seit der Wahl am 2. Juli die Signale in eine zunehmend autoritäre Richtung weisen, die verdeutlicht, dass die MAS keineswegs Interesse daran hat, eine Verfassung nach demokratischen und pluralistischen Kriterien zu erarbeiten :

  • Am 10. August, 4 Tage nach der konstituierenden Sitzung der Verfassunggebenden Versammlung, fordert Präsident Morales die „sozialen Bewegungen“ dazu auf, sich in die Hauptstadt Sucre zu begeben, um dort die Mitglieder der Versammlung zu kontrollieren (2).
  • Schon am 2. September fordern einzelne MAS-Mitglieder, die Verfassunggebende Versammlung möge alle Entscheidungen mit absoluter Mehrheit beschließen. Am gleichen Tag klagt das von der Regierung eingesetzte und offiziell überparteiliche Koordinierungsgremium REPAC (Representación Presidencial para la Asamblea Constituyente) über eine starke Bevormundung seitens des Vize-Präsidenten, Alvaro García Linera. 12 Tage später wird das Gremium aufgelöst.
  • Ende September häufen sich z.T. unbedachte Aussagen von MAS-Politikern, die eine politische Steuerung durch die Exekutive offenbaren (z.B. Vize-Minister A. Rada: „Unsere Mitglieder in der Verfassunggebenden Versammlung sind dazu autorisiert, (mit anderen Fraktionen, d.V.) politischen Konsens herzustellen“ )(3).
  • Nachdem am 5. Oktober in Huanuni (Potosí) bei gewalttätigen Auseinandersetzungen unter Minenarbeitern zahlreiche Tote und Verletzte beklagt werden und dadurch die Regierung massiv unter Druck steht, scheint die MAS von ihrer zunehmend harten Haltung abzukommen.
  • Ab dem 11. November jedoch beklagen selbst bislang der MAS gegenüber positiv eingestellte Oppositionspolitiker, die Position der MAS habe sich schlagartig und in noch stärkerem Maße verhärtet. Die Forderung der MAS nach „absoluter Mehrheitsabstimmung sei demnach „nicht verhandelbar“ . (4)

Am 18. November schließlich zogen sich die Oppositionsfraktionen aus Protest wegen der unbeugsamen Haltung der MAS zurück – und gaben somit den Weg zur Entscheidung „pro absolute Mehrheit“ erst frei. Wenig nutzten dann im Nachhinein die Aufrufe des Oppositionsführers Jorge Quiroga zum „zivilen Widerstand“, nachdem auch schon sein Kollege der Partei UN, Samuel Doria Medina, daraufhin einen Hungerstreik begonnen hatte.

Die Opposition, ein zahnloser Tiger

Den größten Oppositionsparteien, PODEMOS und UN, kann vorgeworfen werden, dass sie zu spät und zu schwach auf die offen vorgetragene, agressive und autoritäte Haltung der MAS reagierten. Denn schon Mitte August pflichteten sie der katholischen Kirche und Unternehmerverbänden öffentlich bei, welche auf das „Risiko einer ausschliessenden Verfassung“ hinwiesen .(5) Die Präfekten, also die direkt gewählten Departmentsvorsteher, zeigten sich handlungsfähiger: ab den 19. August trafen sich die Präfekten aus den vier östlichen Departments regelmäßig, z.T. auch mit Anwesenheit ihrer Kollegen aus La Paz und Cochabamba, um über mögliche politische Maßnahmen zu beratschlagen. Tatsächlich bewirkten sie, dass am 8. September in einigen Regionen Generalstreiks ausgerufen wurden. Allerdings wurden diese nur teilweise befolgt .(6) Hier zeigte sich jedoch der begrenzte politische Spielraum der Präfekten, welche trotz politischer Legitimation durch Direktwahl einerseits über keinerlei eigene Kompetenzen verfügen und andererseits auf die Mobilisierungsfähigkeit der politischen Opposition angewiesen sind. Möglicherweise hat das Fehlen einer gemeinsam artikulierten und organisierten Widerstandsaktion zwischen Parteien und Präfekten die MAS in ihrer Absicht eher noch gestärkt.

Der demokratische Protest gegen den autoritären Vorstoß der „absoluten Mehrheit“ wirkt bislang verzweifelt, versprengt und verzettelt. Der Rückzug der Oppositionsparteien aus der Verfassunggebenden Versammlung scheint eher der MAS zu nutzen – ähnlich wie vor einigen Jahren in Venezuela geschehen; damals hieß der Begünstigte Hugo Chávez. Die Wortführerschaft der Widerstandsaktivitäten geht eher von einzelnen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus, z.B. den Schriftsteller Juan Claudio Lechín, Sohn des legendären Gewerkschaftsführers J. Lechín, oder auch den ehemaligen Armeechef, A.Anaya. Ihnen ist zu verdanken, dass sich landesweit immer mehr Menschen die sich eigentlich als „unpolitisch“ verstehen, den Protestkundgebungen anschliessen. Eine weitere Gefahr, die der Unfähigkeit der Oppositionsparteien entspringt den politischen Widerstand zu organisieren, ist das vermehrte Aufkommen von unkontrollierten, radikalen und gewalttätigen Gruppen, die in den letzten Tagen Überfälle und tätliche Angriffe auf MAS-Anhänger verübt haben. Selbst wenn auch MAS-Sympathisanten in La Paz, mit stillschweigender Duldung der Polizei, z.B. auf Hungerstreikende losgingen, können solche gewaltsamen Aktionen den demokratischen Widerstand nur schwächen. In ähnlicher Weise häufen sich in Santa Cruz Aufrufe zur Unabhängigkeit, die den schwelenden regionalen Konflikt nur noch stärker anheizen. Klar ist, daß mit solchen Initiativen höchstens die Versuchung mancher MAS-Führer z.B. nach militärischen Lösungen genährt wird.

Mancher politischer Beobachter warnt Präsident Morales schon vor Anflügen von Größenwahn, sollte er glauben, dass dieses einseitige Vorgehen seiner Partei auf große Zustimmung stößt: denn selbst wenn die große Mehrheit der Bevölkerung noch eine passive, aber besorgte Rolle in diesem Konflikt einnimmt, hat das von vielen ersehnte Projekt der Verfassung Schaden genommen. Ende September fiel nach einer Meinungsumfrage die Zustimmung zur Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung von 69% (August) auf 45% (September) . (7)

Die Wahl zwischen Demokratie und Autoritarismus

Selbst im Umfeld der MAS hört man mittlerweile Klagen über die verlorene Chance, Bolivien zu einem breit getragenen politischen Neustart zu verhelfen und aus Morales eine historische Figur vom Range eines Nelson Mandela zu machen. Zweifellos können diese Vorstellungen getrost als politisch naiv gekennzeichnet werden. Ernüchternder und besorgniserregender ist jedoch, dass die Verfassunggebende Versammlung noch nicht einmal ihre Geschäftsordnung beschlossen hat, die Debatte zu den wirklich konfliktreichen Themen noch gar nicht begonnen hat und die Bolivianer sich schon jetzt um den Forterhalt ihrer Demokratie ernsthaft sorgen müssen.

(1) Das „Gesetz zur Einberufung der Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung“ (Kürzel = “LECAC, Ley de Convocatoria a la Asamblea Constituyente“ legt ganz allgemein fest, dass die Verfassung mit einer 2/3-Mehrheit gebilligt werden soll. Es spricht sich nicht über den Wahlmodus für die einzelnen zu entscheidenden Artikel aus. Damit läßt sie einen Spielraum für Interpretationen, den die MAS für ihre politischen Herrschaftsziele nutzt.

(2) Öffentlich gaben die großen Indigenen-Organisationen, CONAMAQ, CIDOB u.a.m. zu, die Regierung habe ihnen Räumlichkeiten in Sucre zu diesem Zwecke zur Verfügung gestellt. Erst am 4. September und nach tätlichen Auseinandersetzungen zwischen MAS-Befürwortern und Gegnern zog Morales seine Aufforderung zurück, um „politische Gewalt zu vermeiden“, La Razón, 4.9.06.

(3) A. Rada, Vize-Minister für Beziehungen zu den sozialen Bewegungen: “Nuestros Asambleístas están autorizados para buscar consensos en la Asamblea Constituyente“, La Razón, 29.9.06

(4) Der Präsidentin der Versammlung, Silvia Lazarte (MAS) entglitt ganz arglos, die Regierung habe eine entsprechende Anweisung an die MAS-Fraktion gegeben : “Vino el Vice-Ministro Hector Arce y dio la instrucción de que todo sea por mayoría absoluta”, El Deber und La Razón, 19.9.06.

(5) „Riesgo de una Constitución excluyente“, La Razón, 12.8.06.

(6) Die Streiks liefen unter dem Motto „Für die 2/3-Mehrheit und die Autonomie“. Sie wurden von einzelnen Präfekten als „Warnung“ bezeichnet und wurden daher auch nur für 24 Stunden ausgerufen. Insbesondere in Santa Cruz wurden gewalttätige Auseinandersetzungen registriert.

(7) So z.B. die bislang keineswegs als „MAS-feindlich“ eingestufte politische Analystin Ximena Costas.

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Susanne Käss

Susanne Käss bild

Leiterin des Auslandsbüros Argentinien / Leiterin des Auslandsbüros Brasilien (kommissarisch)

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