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Nach Misstrauensvotum: Oppositionspolitiker Jüri Ratas neuer Ministerpräsident Estlands

Автор: Elisabeth Bauer, Dr. Florian Hartleb
Jüri Ratas, Vorsitzender der bislang oppositionellen linksgerichteten Zentrumspartei, wurde vom Parlament in Tallinn zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Ratas bekennt sich offiziell zur EU und zur NATO.

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Knapp zwei Wochen nach der Absetzung von Taavi Rõivas (liberale Reformpartei) hat Estland einen neuen Regierungschef. 53 von 93 Abgeordneten stimmten am 21. November, bei 33 Gegenstimmen und sieben Enthaltungen, für den Vorsitzenden der Zentrumspartei. Ratas war zuvor Vizepräsident des Parlaments. Seine Zentrumspartei befand sich seit 2007 in der Opposition.

 

Seiner Ernennung waren Gespräche vorausgegangen, in denen Ratas versicherte, an der bisherigen Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik des Baltenstaates festzuhalten. „Wir werden eine Regierung bilden, die Estland gut dienen wird“ , sagte er gegenüber der Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid. Von Mitgliedern des Parlaments zur Krim befragt, antwortete Ratas: „Ja, die Krim ist okkupiert. Und so lange die Krim besetzt sein wird, darf die Krim-Frage nicht von der Tagesordnung des Riigikogu (estnisches Parlament) gestrichen werden.“ Auf die Kooperationsvereinbarung seiner Zentrumspartei mit der Kremlpartei „Geeintes Russland“ angesprochen, antwortete Ratas, dass das Abkommen nicht funktioniere und „auf Eis gelegt“ worden sei.

 

Nachdem das Parlament für ihn gestimmt hatte und Ratas mit der Regierungsbildung beauftragt worden war, wurde bereits am selben Tag ein Koalitionsvertrag der Zentrumspartei mit den Sozialdemokraten und dem konservativen Wahlbündnis IRL, den beiden bisherigen Juniorpartnern des gestürzten Rõivas, unterzeichnet.

 

Drahtseilakt für die konservative IRL

 

 

Für die IRL, Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), bedeuten die jüngsten Ereignisse Chance und Risiko zugleich. Die Partei ist stark antikommunistisch orientiert und warnt vor Putins Russland. Das Motto bei der Tallinner Bürgermeisterwahl 2013 etwa lautete „Stoppt Savisaars Korruption!“. Im Kabinett „Ratas“ hat die IRL nun fünf Ministerposten bekommen, ein Ministerium mehr als zuvor. Offenbar hat die Partei gut verhandelt.

 

Der Parteivorsitzende Margus Tsahkna, früherer Sozialschutzminister, übernimmt künftig das Verteidigungsministerium. Seine Nachfolgerin im Sozialministerium ist Kaia Iva. Sven Sester verbleibt in seinem Amt als Finanzminister, ebenso Umweltminister Marko Pomerants. Weitermachen kann auch Urmas Reinsalu in seinem Amt als Justizminister. Besonders die Übernahme des Verteidigungsressorts ist für die Partei wichtig, da es ihren Markenkern darstellt.

 

Zugleich kämpft die IRL seit einiger Zeit gegen ihren Prestigeverlust. Ihre inhaltliche Ausrichtung führte bereits zum Rücktritt vieler Parteimitglieder, so auch des ehemaligen IRL-Spitzenkandidaten Erik-Niels Kross, zugleich Parteivize, der nach den Bürgermeisterwahlen 2013 zu den Liberalen wechselte.

 

Bei der Parlamentswahl im März 2015 erhielt die IRL lediglich 13,7 % der Stimmen. Dies bedeutete einen Verlust von 6,8 Prozentpunkten. Erschwerend kam hinzu, dass zugleich zwei weitere Rechtsaußenformationen in das Parlament einzogen – die ebenfalls konservativ ausgerichtete Parteiabspaltung „Freie Partei“ und die rechtspopulistische EKRE (Estnische Konservative Volkspartei).

 

Daraufhin wechselte die IRL ihre Führungsspitze aus. Tsahkna übernahm den Parteivorsitz. Zu diesem Zeitpunkt lag die Partei bei Umfragen unter 10 %. Seither ist Tsahkna um Profilierung bemüht. Er steht unter Druck, da die Umfragewerte stagnieren.

Der jüngste Schritt der Koalition mit der Zentrumspartei dürfte einige Mitglieder verprellen, da er als Tabubruch wahrgenommen werden könnte. Nur mit einer klaren Linie in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen, dem Markenkern der Partei, könnte sie sich konsolidieren.

 

Mart Laar, „Übervater“ der IRL und einstiger Premierminister, hat bereits rote Linien markiert, wie weit die Partei in einer Konstellation mit der Zentrumspartei gehen kann. Gerade ein kritisches Verhältnis mit Russland gilt hier als Bedingung.

Rückblick: Bruch der Regierungskoalition

 

Am 9. November wurde Taavi Rõivas, der im März 2014 zum Regierungschef benannt worden war, durch ein Misstrauensvotum der Opposition vorzeitig abgewählt. 63 der 91 anwesenden Mitglieder des Parlaments stimmten für seine Absetzung, 28 waren dagegen. Auch Abgeordnete der beiden Koalitionspartner von Rõivas, die Sozialdemokraten und das konservativen Wahlbündnis IRL, votierten dafür. Sie hatten ihn auch schon zuvor zum Rücktritt aufgefordert.

 

Wortführer gegen Rõivas waren der Sozialdemokrat und ehemalige Gesundheits- und Arbeitsminister Jevgeni Ossinovski und der vormalige Sozialminister Tsahkna (IRL). Beide hatten ihren Amtssitz im Sozialministerium. Sie warfen Rõivas Führungs- und Entschlussschwäche vor. Rõivas habe sich im Glanz der Internationalität gesonnt und sei zu viel im Ausland unterwegs gewesen, anstatt an den wöchentlichen Kabinettssitzungen teilzunehmen. Sie machten ihn für die wirtschaftliche Stagnation des Landes verantwortlich.

 

Neue Machtposition der Zentrumspartei

 

 

Unmittelbar nach dem Parteikongress am 7. November, vor dem offiziellen Misstrauensvotum, soll Rõivas der Zentrumspartei eine Regierungsbeteiligung angeboten haben. Sogar in der größten estnischen Tageszeitung „Postimees“ wurde darüber berichtet. Sowohl Rõivas Reformpartei als auch die Zentrumspartei sind Mitglieder der liberalen ALDE. Zwar dementiert Rõivas die Behauptung, es hätten bereits Koalitionsgespräche stattgefunden, doch seine Verteidigungsstrategie scheint mangels Glaubwürdigkeit ins Leere zu laufen.

 

Am Tag des Misstrauensvotums gegen Rõivas nahmen dann seine ehemaligen Juniorpartner, die Sozialdemokraten und das konservative Wahlbündnis IRL, Gespräche mit der oppositionellen Zentrumspartei über mögliche Regierungskoalitionen auf.

Von 2007 an war die Zentrumspartei wegen Spekulationen einer möglichen Kremlfinanzierung auf nationaler Ebene isoliert. Das lag hauptsächlich an ihrem Gründer Edgar Savisaar, der seit demselben Jahr als Oberbürgermeister von Tallinn amtiert. Allen Parteien galt er mit Blick auf eine etwaige Koalition auf nationaler Ebene als „Persona non grata“.

 

Insbesondere die russischstämmige Minderheit, die in Tallinn mehr als 40 % der Bevölkerung ausmacht, unterstützte Savisaar. Doch im November 2016 wurde der Ökonom und Jurist Jüri Ratas, der bereits 2011 gegen Savisaar kandidiert hatte, zum Parteivorsitzenden ernannt.

 

Ob es innerhalb der Zentrumspartei zukünftig aufgrund des Generationenwechsels auch zu einer inhaltlichen Neuausrichtung, etwa mit Blick auf Russland, kommt, bleibt Spekulation. Immerhin existiert die nach wie vor gültige Kooperationsvereinbarung mit Putins Partei „Geeintes Russland“.

 

Internationale Perspektive auf den Regierungswechsel

 

 

Estland gilt als digitaler Vorreiter Europas. Als solcher wird der Baltenstaat auch in Deutschland immer stärker wahrgenommen. Taavi Rõivas, geboren 1979, verkörperte als jüngster Premierminister Europas dieses Image. So lud ihn Angela Merkel im Sommer 2016 zur Kabinettsklausur ein, um das estnische e-government, ein Export- und Marketingschlager, zu erläutern. Schon im Januar war er bei der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth zu Gast. Auch in einer US-amerikanischen Talkshow war er eingeladen. Ratas hingen ist in Berlin und Brüssel ein unbeschriebenes Blatt.

 

Die deutschen Medien fürchten eine mögliche „Russifizierung“ der bislang prowestlichen estnischen Regierung. Es darf bezweifelt werden, dass die Regierungskoalition mit der Zentrumspartei so drastische Folgen haben wird. Bislang hat sich Estland deutlich zur europäischen Solidarität bekannt, nicht zuletzt in der Flüchtlingsfrage. Auch Ratas ist bemüht, mögliche Zweifel zu entkräften. Und dies nicht erst seit Regierungsantritt – bereits in der Vergangenheit kritisierte er Russlands Aggressionen. Kann die IRL sich in der neuen Regierung profilieren, den Abwärtstrend stoppen und sich für die Kommunalwahlen im kommenden Oktober gut aufstellen? Es scheint jedenfalls eine neue Phase in der estnischen (Partei-)Politik eingeläutet, zumal die Dominanz der Liberalen gebrochen ist.

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