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Kluger Verzicht auf einen faulen Kompromiss

Dr. Katja Gelinsky

Warum das gescheiterte Koalitionsvorhaben „Kinderrechte ins Grundgesetz“ kein Unglück ist

SPD und Union hatten im Koalitionsvertrag vereinbart, Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich zu verankern. Ziel des Vorhabens war es, „Kinder [zu] stärken“. Der Koalitionsvertrag ließ jedoch Interpretationsspielraum, was genau beabsichtigt war: Sollten die Grundrechte, die Kinder ohnehin haben, im Text des Grundgesetzes abgebildet werden? Oder sollte die grundrechtliche Position von Kindern gestärkt werden? Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur ausdrücklichen Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz (Drucksache 19/28138) wurde klargestellt: Kinderrechte sollten „besser sichtbar gemacht werden“. Die grundrechtlichen Interessen anderer Personen sollten dadurch aber „nicht geringer veranschlagt werden“. Ein „Kernanliegen“ sei es, „das Elternrecht und die Elternverantwortung nicht zu beschränken“. „Das bestehende wohl austarierte Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Staat soll durch die Änderung bewusst nicht angetastet werden.

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Eine Veränderung der bisherigen Grundrechtspositionen war nach dem Gesetzentwurf der Regierungsparteien also nicht gewollt. Das bedeutet umgekehrt, dass Kindern mit Beibehaltung des bisherigen Artikels 6 GG keine Rechtspositionen weggenommen beziehungsweise vorenthalten werden. Das Grundgesetz schützt Kinder schon jetzt umfassend. Auch wenn sie nicht explizit als Trägerinnen und Träger von Grundrechten genannt sind, stehen ihnen alle Grundrechte zu. Ihre besondere Schutzbedürftigkeit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung berücksichtigt. Die gescheiterte Einigung über eine ausdrückliche Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz führt also nicht zu rechtlichen Schutzlücken.

Auch die Verpflichtungen Deutschlands aus der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) werden nicht berührt. Die in der KRK ausbuchstabierten Rechte von Kindern auf Schutz, Förderung, Beteiligung und Achtung ihrer wachsenden Fähigkeiten sind in Deutschland unmittelbar geltendes Bundesrecht. Politik, Behörden und Gerichte müssen die Vorgaben der Konvention schon nach geltender Rechtslage beachten. Eine Hochzonung der Konventionsbestimmungen auf die Ebene des Grundgesetzes ist dafür nicht nötig. Woran es zuweilen hapert, ist die Umsetzung der Konventionsbestimmungen. Die verfassungsrechtliche Abbildung wichtiger Prinzipien aus der Konvention, etwa des Kindeswohls oder des Rechts von Kindern auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten, hätte vielleicht Hebelwirkung entfaltet. Aber ein Automatismus auf gebührende Berücksichtigung der Konventionsvorgaben wäre damit nicht geschaffen worden. Damit Kernprinzipien wie Kindeswohl und Beteiligungsrechte prägende Wirkung in Deutschland entfalten – wie in den vergangenen Jahren zunehmend geschehen –, ist es weder erforderlich noch ausreichend, Artikel 6 GG um Aspekte aus der Konvention zu ergänzen.

Ob Kinder gestärkt werden, hängt nicht in erster Linie davon ab, ob ihre Rechte im Grundgesetz sichtbar werden. Entscheidend ist, den Belangen von Kindern im Alltag Geltung und Wirksamkeit zu verschaffen. Der Gesetzgeber hat mittlerweile viel dafür getan, Lücken zwischen den Anforderungen der KRK und der Lebenswirklichkeit zu schließen. Wie sich gerade in der Corona-Pandemie gezeigt hat, bleibt aber noch viel zu tun, damit Kinder stärker in den Blickpunkt der Politik rücken – vor allem, wenn es um die Mobilisierung finanzieller und personeller Ressourcen geht. Um Kindern durch Investitionen in staatliche Infrastruktur bessere Chancen zu geben, bedarf es keiner Verfassungsänderung, dazu bedarf es politischen Willens.

Das Grundgesetz ist nicht nur ein Dokument, in dem die grundlegenden Regeln und Prinzipien unseres Verfassungsstaates niedergelegt sind. Es dient zugleich der Selbstvergewisserung darüber, wie wir uns als Individuen, als Familien und als Gesellschaft im Verhältnis zum Staat verstehen. Für dieses Selbstverständnis spielt Artikel 6 GG eine Schlüsselrolle, da hier das Verhältnis von Kindern, Eltern und Staat austariert wird. „Wächter Staat“ ist erst dann gefragt und gefordert, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Nicht nur der Primat elterlicher Erziehung, auch das Recht von Kindern auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens setzt staatlicher Familienpolitik Grenzen. Wird diese Grenze staatlicher Eingriffsmöglichkeiten durch Änderungen von Artikel 6 GG aufgeweicht, hat das Folgen für die Möglichkeiten von Eltern und Kindern, über ihre eigenen Angelegenheiten zu bestimmen. Das Projekt „Kinderrechte ins Grundgesetz“ wäre am Ende nur um den Preis einer Staatszielbestimmung „kindgerechter Lebensbedingungen“ zu haben gewesen, mit der man Verschiebungen im Dreieck Kind, Eltern, Staat riskiert hätte – obwohl genau dieses Szenario nach dem Koalitionsentwurf vermieden werden sollte. Gut, dass dem Grundgesetz, vor allem aber Kindern und Eltern, dieser faule Kompromiss erspart geblieben ist.

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