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Pojedinačnepublikacije

„Die ganze Wahrheit“

von Prof. Dr. Michael Braun

Neue Bücher der KAS-Literaturpreisträger zur Frankfurter Buchmesse

Paul Valéry hat berichtet, wie der Maler Degas vor gut hundert Jahren mit dem damals neuen Medium des Telefons umging. Ein wohlhabender Freund wollte Degas beeindrucken und ließ sich während des Mittagessens von seinem Diener anrufen. Der Freund kam erwartungsvoll an den Tisch zurück: „Und, Verehrter, was sagen Sie dazu?“ Degas antwortete: „So, das ist also das Telefon: Man schellt Ihnen, und Sie rennen.“

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Ähnlich ist es mit den neuesten Medien heute, die als Konkurrenz des Buches antreten. Digitale Bücher, genannt E-Books, und das iPad schellen und alle rennen. Doch die Gutenberg-Galaxis ist nicht zerstoben. Hartnäckig und erstaunlich wandlungsfähig behauptet sich das klassische Buch auf dem Markt, auch bei den „digital natives“. „Der Begriff des Buches erweitert sich, die Grenzen werden durchlässiger und damit die Aufgaben der Verleger, der Buchhändler“ – und der Autoren. Das sagt der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder.

Unter den Neuerscheinungen, die diesen hoffnungsvollen Ausblick belegen und mit Grass’ Hommage an „Grimms Wörter“, mit Andreas Maiers hessischem Familienroman „Das Zimmer“, mit Marica Bodrožićs Migrationsepos „Das Gedächtnis der Libellen“ und den Büchern auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises im Bücherherbst 2010 um Leser werben, fallen besonders lesenswerte Titel der Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung ins Auge.

Günter de Bruyn (Preisträger der KAS 1996) setzt die Arbeit an seinen preußischen Geschichtsbüchern fort. Nach der Königin Luise, der Prachtstraße Unter den Linden, dem Adelsgeschlecht der Finckensteins kommen in „Die Zeit der schweren Not“ nun Schicksale aus dem Berliner Kulturleben 1807 bis 1815 in den Blick, ein kulturelles Netzwerk aus der literarisch fruchtbaren Zeit bürgerlichen Salons. De Bruyn erzählt spannend, anschaulich und anekdotenreich von den berühmten Staatsmännern und Generälen der Zeit wie Hardenberg, Gneisenau oder Clausewitz, von Autoren der Romantik wie Kleist, Rahel Varnhagen, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann, von politisch schillernden Figuren wie Theodor Körner oder „Turnvater“ Jahn. Und von Adelbert von Chamisso, von dem der Titel des Buches stammt. „Die Zeit der schweren Not“ meint nicht die materielle und politische Not nach 1807, sondern die Not eines zum Deutschen gewordenen Franzosen, der inmitten der chauvinistischen Kriegsbegeisterung und restaurativen Tendenzen seiner Zeit zum Außenseiter wird.

Das wohl am meisten beachtete Buch stammt von Norbert Gstrein (Preisträger der KAS 2001). Es geht in „Die ganze Wahrheit“ um eine zum Okkultismus neigende Verlegerwitwe und um einen abtrünnigen Lektor. Schon vor Erscheinen des Buches hat die Kritik daraus einen Skandal mit Ansage gemacht: Die Suhrkamp-Konstellation sei unverkennbar. Doch der Verlag in Gstreins Roman sitzt in Wien und hat nur ein kleines Programm. Das steht der einfachen Lesart von Gstreins Buch als Schlüsselroman entgegen. Dennoch hat der Autor freimütig eingeräumt, „Prosa mit schwerem Wirklichkeitsgewicht“ geschrieben zu haben.

Wulf Kirsten (Preisträger der KAS 2005) hat das im mehrfachen Sinne gewichtigste Buch des Bücherherbstes vorgelegt. Seine Anthologie „Beständig ist das leicht Verletzliche“ versammelt auf tausend Seiten Gedichte von Nietzsches Wortwende bis zu Celans „Todesfuge“, von 1880 bis 1945, darunter bekannte Dichter wie Trakl, Benn, Brecht, aber auch viele randläufige und vergessene Autoren. Überaus kenntnisreich und findig zeichnet Kirsten ein Grundmuster der Entstehung der modernen Lyrik. Ein reicher Ertrag aus jahrelanger Arbeit, ein vorzügliches Lesebuch, in dem jedes Gedicht sein ureigenes Recht behauptet.

Herta Müller ist Preisträgerin der Stiftung 2004 und Literaturnobelpreisträgerin 2009. Viele Leser hungern nach neuen Büchern von ihr. Ihnen kann geholfen werden. Im Oktober 2009, drei Wochen, nachdem die Nobelpreisehre bekannt wurde, stellte sich Herta Müller in Leipzig den Fragen des Schriftstellers Michael Lentz. Im Gespräch entwickelt sie zentrale ästhetische und existentielle Aspekte ihrer Arbeit. Sie macht deutlich, dass Leben und Schreiben angesichts ihrer Erfahrungen mit dem rumänischen Geheimdienst nicht unabhängig voneinander zu denken sind. Genauigkeit der Poesie ist für sie der beste Selbstschutz. Herta Müller gibt in dem Band Lebensangst und Worthunger Auskunft über ihre detailreiche Erinnerungskunst und ihre generationsübergreifenden Heimaterforschungen.

Burkhard Spinnen (Preisträger der KAS 1999), Mitglied des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung und seit 2008 Vorsitzender der Klagenfurter Jury beim Bachmann-Preis, hat abermals ein faszinierendes Kulturbetriebsbuch geschrieben. Es geht diesmal um die Lesungen, die der Autor in Schulen absolviert hat. Ihm ist es dabei wie bei „Auswärtsspielen“ ergangen: Mit Niederlagen ist zu rechnen. Anders als in Literaturhäusern, Buchhandlungen, Stiftungen, wo der Autor bei Kennern und Liebhabern ein Heimspiel bestreitet, betritt der professionelle Vorleser in Schulen unsicheres Terrain. Einerseits. Gewonnene Auswärtsspiele zählen andererseits bekanntlich doppelt. Lesungen an Schulen, gerade in PISA-Zeiten, können Literatur fürs Leben prägen. „Auswärtsspiele“ ist ein pointiertes und pointenreiches Buch über Lesungen in der pädagogischen Provinz.

Zum Schluss zwei persönliche Empfehlungen: Petra Morsbach (Preisträgerin der KAS 2007) hat einen so gut wie vergessenen Roman neu herausgebracht: Der Pojaz von Karl Emil Franzos (1847-1904). Es ist die Geschichte eines osteuropäischen Possenreißers, in der es um die Herkunft aus dem jüdischen Ghetto und die Zukunft in der deutschen Kultur geht. Der als Entdecker von Georg Büchners Werken bekannte Autor Franzos stattet seine Figur reichlich mit Phantasie aus, um dem Ghetto-Los und Waisen-Schicksal, um Intoleranz und Gewalt zu entrinnen. Obwohl er am Ende nicht auf der Theaterbühne steht, sondern mit einem Shylock-Zitat auf den Lippen stirbt, so lässt er doch den Leser seine Menschenfreundlichkeit erkennen. Diese Ausgabe und das umsichtige Nachwort von Petra Morsbach holen Franzos’ Roman aus der langen Vergessenheit heraus. Morsbach bescheinigt dem Roman zu Recht, „beseelt, komisch, opulent, mit saftigen Charakteren und herrlichen Dialogen“ bestückt zu sein.

Und: Die Verfilmung des Polit- und Liebesromans Der große Kater von Thomas Hürlimann (Preisträger der KAS 1997), die bereits im Frühjahr in Bern Premiere hatte, kommt am 28.10.2010 in die deutschen Kinos. Es geht – mit Bruno Ganz und Ulrich Tukur in Hauptrollen – um das Intrigenspiel im Ambiente des Schweizer Bundespräsidenten, der eine kleine Staats- und eine große Familienkrise mit dem Besuch des spanischen Königspaars vereinbaren muss. Sehr sehenswert (vgl. den Trailer auf youtube und die Homepage des Autors).

Und hier die (unvollständige) Liste empfehlenswerter Bücher:

  • Günter de Bruyn: Die Zeit der schweren Not: Schicksale aus dem Kulturleben Berlin 1807 – 1815 (S. Fischer Verlag)
  • Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit. Roman (Hanser)
  • Herta Müller: Lebensangst und Worthunger (Suhrkamp Taschenbuch)
  • Atemschaukel. Gekürzte Lesung von Ulrich Matthes. 5 CD (hr2 kultur, Hörbuch Hamburg).
  • Karl Emil Franzos: Der Pojaz: Eine Geschichte aus dem Osten. Hrsg. und mit einem Nachwort von Petra Morsbach (Sankt Michaelsbund)
  • Petra Morsbach: Der Cembalospieler (Piper Taschenbuch)
  • Uwe Tellkamp: Die Schwebebahn – Dresdner Erkundungen (Suhrkamp)
  • Walter Kempowski: Hamit. Tagebuch 1990 (btb)
  • Thomas Hürlimann: Vierzig Rosen (S. Fischer Taschenbuch)
  • Burkhard Spinnen: Auswärtslesen. Mit Literatur in die Schule (Residenz)
  • Wulf Kirsten (Hrsg.): Beständig ist das leicht Verletzliche. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan (S. Fischer)
  • Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht (Suhrkamp Taschenbuch)

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Prof. Dr. Michael Braun

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Referent Literatur

michael.braun@kas.de +49 30 26996-2544

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Herausgeber

Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

erscheinungsort

Sankt Augustin Deutschland