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Fabrizio Bensch, Reuters

Auslandsinformationen

Tun, was man für richtig hält

von Frank Priess

Die neue Bundesregierung muss die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in ihrem Außenhandeln schließen

Nach dem Ende einer Ära – so jedenfalls werden die 16 Jahre der Bundeskanzlerin Angela Merkel gerade international momentan in vielen Würdigungen gesehen – lohnt sich eine nüchterne Bestandsaufnahme. Stehen Deutschland und Europa heute besser da als 2005? Ist ihr Einfluss größer, ist ihr Gestaltungsspielraum gewachsen? Ist ihr Modell in einer veränderten Welt widerstandsfähig oder „resilient“, wie es auf Neudeutsch heißt? Wie steht es um die beiden traditionellen Pfeiler deutscher Außenpolitik: die Europäische Union und das transatlantische Verhältnis? Wie um das Gewicht „des Westens“ in der Welt? Antworten auf diese Fragen weisen den Weg zu den Herausforderungen für die neue Bundesregierung und speziell für ihr Außenhandeln.

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Ein kritisches Zwischenfazit sucht dabei nicht nach Alleinverantwortung für die Art der Bewältigung des Krisenreigens, der die Ära prägte: die von den USA ausgehende Banken- und Finanzkrise, die Staatsschulden- und Eurokrise, die Flüchtlingskrise, COVID-19. Es lässt sich dabei durchaus von guten 16 Jahren für Deutschland sprechen und gleichzeitig die Frage stellen, ob das Land für künftige Herausforderungen hinreichend gerüstet wurde. Am Beginn stand – allerdings auch damals hierzulande zu Recht schon kritisch beobachtet – der amerikanische Versuch des „nation building abroad“ der Regierung von George W. Bush. Am Ausgang stehen eine neue Großmachtrivalität mit dem neuen Giganten China, verunsicherten Vereinigten Staaten nach vier Jahren Donald Trump und dem mühsamen Versuch, Vertrauen zurückzugewinnen sowie eine Europäische Union unter Stress, die selbst in der eigenen Nachbarschaft Prägewirkung vermissen lässt und im weltweiten Konzert einen Bedeutungsverlust erleidet.

Für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik dürfte in den kommenden Jahren eine Hauptaufgabe zunächst darin bestehen, die enorme Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen; noch besser, Gleiches auf der Ebene der Europäischen Union zu unterstützen. Eine moralische Weltmacht ohne machtpolitischen Willen und Fähigkeiten ist sonst in der Gefahr, weltweit zur Lachnummer zu werden, auf die man wenig Rücksicht nehmen muss. Und unser Problem sind dabei nicht fehlende Analysen oder kluge Strategiepapiere.

Die deutsche Außenpolitik – und die der EU – sind sehr erfolgreich darin, große Ansprüche zu formulieren. Weltpolitikfähig will man sein, mehr Verantwortung übernehmen – schon vor vielen Jahren formulierten dies Außenminister und Bundespräsidenten. Und die Realität? Hilflos mussten Deutschland und die EU zusehen, wie überall ohne sie Tatsachen geschaffen wurden. Völkerrechtswidrig eignete sich Russland die Krim an, destabilisierte die Ukraine und erweiterte den eigenen Einfluss durch frozen conflicts. In der unmittelbaren Nachbarschaft versank Syrien im Kriegschaos, wurde Libyen zum failed state, in beiden Ländern schufen Mächte wie die Türkei und Russland militärisch Fakten, die Europäische Union versuchte irgendwie, mit den Flüchtlingswellen klarzukommen und sich einzureden, die eigene Zeit komme noch, wenn man für den Wiederaufbau gebraucht werde. Selbst auf Aktionen diktatorisch regierter mittelgroßer Staaten in der eigenen Nachbarschaft wie Belarus findet man keine Antwort, wenn der Herrscher sich entschließt, Flüchtlinge aus dem Irak an die Grenze zu Litauen und Polen zu transportieren. China und die USA befinden sich mitten in einer neuen Großmachtauseinandersetzung, die Europäer müssen aufpassen, nicht zwischen alle Stühle zu geraten und Opfer exterritorialer Sanktionen beider Seiten zu werden, statt eine eigenständige Rolle spielen zu können. Dem Wunsch nach mehr „strategischer Souveränität“ folgen trotzdem kaum Taten: Sicherheitspolitisch bleibt die totale Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten – deren Interessen mit denen der Europäer keineswegs immer deckungsgleich sind –, technologisch gerät man ins Hintertreffen. Das unrühmliche Ende eines 20-jährigen Engagements in Afghanistan hat das Ausmaß der Probleme noch einmal wie unter einem Brennglas deutlich gemacht und das Narrativ befeuert, „der Westen“ danke ab, aller Rhetorik zum Trotz.

 

Das Publikum daheim bleibt zurückhaltend

Die CDU hatte Außen- und Sicherheitspolitik – ein Novum – ausführlich an den Beginn ihres Wahlprogramms gestellt, im Wahlkampf selbst allerdings spielten die dort angesprochenen Fragen samt und sonders keine Rolle. Auch das ein Teil des Problems. Seit Jahren weisen einschlägige Umfragen nach, dass die Bürgerinnen und Bürger internationales deutsches Engagement wünschen, je konkreter und je robuster das allerdings jenseits humanitärer Hilfe eingefordert wird, umso geringer wird die Bereitschaft. Ein Afghanistan-Einsatz war letztlich nicht als militärischer begründbar, es brauchte das entwicklungspolitische Narrativ vom Schulunterricht für Mädchen. Bedrohungsgefühle? Durch Russland oder China? Weitgehend Fehlanzeige. Da ist es natürlich schwierig, eine angemessene Erhöhung des Verteidigungsetats durchzusetzen und auf die Erfüllung deutscher Zusagen innerhalb der NATO zu drängen. Gemeinsame Rüstungsprojekte in Europa, um eigene technologische Fähigkeiten zu erhalten oder erst wieder zu entwickeln? Gern, aber bitte nicht für den Export, was Deutschland als Partner für andere unattraktiv macht. Eine europäische Armee? Vielleicht, aber wohl doch eher als schöne Vision, die von der tristen Realität dessen ablenkt, was unsere Streitkräfte und längst existierende gemeinsame „battle groups“ nicht können und vor allem auch gar nicht sollen. Andere schaffen mit überschaubarem Aufwand und Risiko Fakten, während bei uns die Frage nach der Bewaffnung von Drohnen eine Regierungskoalition an den Rand ihrer Bestandsfähigkeit bringt. Und das dürfte in neuen Koalitionsformationen kaum einfacher werden.

Bleibt die wirtschaftliche Macht, mit der wir punkten könnten. Sie allerdings steht auf zunehmend wackeligen Beinen, die Wettbewerbsfähigkeit nimmt nicht gerade zu, demografische Probleme drücken, Kosten explodieren auch als Folge ideologisch motivierter Klimaentscheidungen. Zudem verbaut man sich mit der Ablehnung von Freihandel – noch nicht einmal das Abkommen mit Kanada ist ratifiziert, eines mit dem MERCOSUR wackelt, an eines mit den USA ist aktuell kaum zu denken – die Stabilisierung wichtiger Märkte und den Einfluss auf Gestaltung von Normen und Standards. Gleichzeitig verstehen es andere deutlich besser, wirtschaftlichen Einfluss in politischen zu übersetzen, man blicke nur auf Chinas Engagement in Afrika und Lateinamerika, eigentlich Kontinente mit europäischen Startvorteilen. Wenn allerdings unser Wirtschaftsmodell nicht mehr so eindrucksvoll strahlt, wird es auch immer schwieriger, mit unseren Werten durchzudringen. In den Vereinten Nationen und den Entscheidungen seines Menschenrechtsrates ist gut zu besichtigen, dass eher autoritäre Modelle Konjunktur haben.

Will man im globalen Konzert eine Rolle spielen, geht das für keinen Nationalstaat Europas allein.

Will man die genannten Defizite in Angriff nehmen, beginnt man nicht am Punkt Null, viele Strategien und Prioritäten sind formuliert, klingen für manche sogar schon fast banal. Stichwort erneut: Umsetzungsdefizit!

 

Grundlage bleibt die Europäische Union

Natürlich braucht es, und hier muss der Schwerpunkt jeder Bundesregierung liegen, eine starke und handlungsfähige Europäische Union. Will man in Zukunft im globalen Konzert eine Rolle spielen und Gehör finden, geht das für keinen Nationalstaat Europas allein. Es gilt, Risse zu kitten, Brüche nicht tiefer werden zu lassen, die Agenden von Mittelost-, West- und Südeuropäern wieder anzunähern. Das bedeutet ein robustes deutsches Engagement für die Sicherheitsinteressen der baltischen Staaten und Polens und die Übernahme von Lasten, die die USA im Rahmen der NATO nur noch begrenzt tragen wollen, auch wenn ihr atomarer Schutzschirm unersetzlich bleibt. Im Süden und Südosten heißt es nicht zuletzt, Antworten auf den Migrationsdruck zu finden, dem gerade diese Staaten auf dem Land- und Seeweg ausgesetzt sind – dieses Thema hat nichts von seiner Bedeutung verloren, auch wenn es zeitweise etwas aus den Schlagzeilen verschwunden ist.

Für Deutschland heißt das traditionell auch, eine Vermittlerrolle aktiv einzunehmen, statt auf einer Seite wahrgenommen zu werden. Gleichwohl wird es ohne strukturelle Reformen nicht gehen: Das Einstimmigkeitsprinzip macht einzelne Länder mit all ihren Spezialinteressen zu Vetospielern, was auf Kosten der Handlungsfähigkeit geht, externen Akteuren massive Einflusschancen bietet und alle anderen erpressbar macht. Die Alternative sind „Koalitionen der Willigen“, die mutig vorangehen. Es braucht auf allen Gebieten attraktive Gemeinschaftsprojekte, von denen sich keiner ausgeschlossen sehen will. Das Feld von Schlüsseltechnologien und Datenwelten ist da zentral, zumal Europa hier die größte Gefahr droht, Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren und international abgehängt zu werden.

 

Blick in die Nachbarschaft

Das unmittelbarste Interesse haben Deutschland und Europa, das muss der zweite Schwerpunkt sein, an einer stabilen Nachbarschaft im Osten und im Süden. Das Interesse an den Staaten des westlichen Balkans und an der Ukraine könnte sich engagierter manifestieren, auch der lieblose Umgang mit Georgien und dem Gebiet des südlichen Kaukasus verdiente ein Upgrade – angesichts der bekannten Interessenunterschiede innerhalb der EU kein einfaches Unterfangen, allerdings eines, bei dem Deutschland eine Führungsrolle spielen muss.

Die Angebote gerade der wirtschaftlichen Integration an die Staaten südlich des Mittelmeeres bleiben weit hinter dem zurück, was nötig wäre, was erwartet wird und was auch in unserem Interesse liegt. Hierzu gehören besonders Perspektiven für die junge Generation, was Qualifizierung und die Schaffung von Arbeitsplätzen angeht, will man nicht eine weitere Destabilisierung und Radikalisierung riskieren, deren Folgen Europa unmittelbar spüren würde. Gleiches gilt in noch stärkerem Maße für das Pulverfass des Nahen Ostens mit seiner bedrohlichen Konkurrenz von Regionalmächten, mit Instabilität selbst in früheren „Musterländern“ wie dem Libanon, mit einer Proliferationsgefahr im Nuklearbereich und nicht zuletzt dem unbewältigten Problem des islamistisch motivierten Terrorismus, der längst zu einem weltweiten Phänomen geworden ist. Und mittendrin Israel, dessen Existenzrecht, so Angela Merkel, zur „Staatsräson“ der Bundesrepublik Deutschland zählt. Ein Schlüsselland bleibt zudem die Türkei. Deutschland hat hier auch durch die türkischstämmige Minderheit im eigenen Land die besten Voraussetzungen – und das größte Interesse –, zu einer engen Bindung an Europa und die EU beizutragen und auch in schwierigen Lagen immer wieder Brücken zu bauen.

Europa muss sich für Amerika relevant machen, will man weiter von den unverzichtbaren Sicherheitsgarantienprofitieren.

Schwieriger ist das derzeit mit Russland. Von der berühmten konzilianten Rede von Präsident Wladimir Putin 2001 im Deutschen Bundestag bis heute hat sich das Verhältnis kontinuierlich verschlechtert, wenige Ansatzpunkte gibt es derzeit für eine wirkliche Verbesserung. Ein großer Bedarf besteht an glaubwürdiger Rüstungskontrolle, gleichzeitig aber spielt hier Europa kaum eine Rolle. Der Verhandlungspartner Russlands, das ohnehin einem traditionellen Großmachts- und Souveränitätsbegriff anhängt und die Europäische Union deshalb aktuell kaum als ebenbürtig wahrzunehmen vermag, sind dabei die USA. Der neuen Bundesregierung muss – innerhalb des EU-Geleitzuges, da sich von Russland immer wieder in den Raum gestellte „Sonderbeziehungen“ verbieten – gleichwohl ein Spagat gelingen: die eigenen Werte nicht zur Disposition zu stellen und Verbündeter einer demokratischen russischen Zivilgesellschaft zu sein, gleichzeitig aber pragmatisch an einem Ausgleich mit diesem wichtigen Nachbarn zu arbeiten, wo gemeinsame Interessen dies gebieten. Gerade eine gemeinsame Regierungsbeteiligung von SPD und Grünen verspricht hier interessante Debatten.

 

Transatlantische Partnerschaft wird es nicht zum Nulltarif geben

Die Basis gerade dafür, aber auch für die Wahrnehmung weltweiter Interessen Deutschlands und Europas, bleibt – hier der dritte Schwerpunkt – die enge transatlantische Beziehung zu den Vereinigten Staaten. Die Trump-Jahre haben hier Vertrauen zerstört, das nicht leicht wiederaufzubauen ist, zumal, wenn auch die neue Regierung dem America first ein „buy American“ und unabgestimmten Unilateralismus bei Entscheidungen wie in Afghanistan folgen lässt. Auch die angloamerikanische AUKUS-Achse mit Australien und Großbritannien war sicher nicht vertrauensbildend. Gleichwohl zeigt sich daran deutlich, dass sich Europa selbst für die Vereinigten Staaten relevant machen muss, will man weiter von den unverzichtbaren und von Europa realistisch nicht zu ersetzenden Sicherheitsgarantien profitieren.

Wirtschaftlich ist das eindeutig – ein gemeinsames Freihandelsabkommen wäre eine wichtige Priorität, auch der jetzt etablierte EU-US Trade and Technology Council zu technologischer Abstimmung geht in die richtige Richtung, abgestimmte Aktionen zur Reform der Welthandelsorganisation müssten folgen, auch wenn sich der Blick der USA auch hier in den indopazifischen Raum verschiebt. Das geht aber vor allem durch die Übernahme von mehr Verantwortung und Lasten in der unmittelbaren Nachbarschaft – Ostflanke der NATO, Nordafrika, Nahost, NATO-Beitrag insgesamt – und das dürfte für Europa und Deutschland bei allen Problemen schon der leichtere Teil sein. Andererseits nämlich scheinen die USA ihr Verhältnis zu Europa immer mehr als Funktion ihres Verhältnisses gegenüber China zu betrachten und erwarten, dass Europa hier ohne Wenn und Aber Partei ergreift. Gerade für Deutschland ist das angesichts seiner erheblichen wirtschaftlichen Abhängigkeit von China ein Problem. Und dabei ist noch völlig offen, ob China bereit ist, die saubere Schubladisierung der Europäischen Union mitzumachen, die es gleichzeitig als Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen sehen möchte und bei Bedarf in unterschiedliche Teile des Instrumentenkastens greift. Auch im eigenen Land tun sich zudem viele schwer damit, sich auf die Begrifflichkeiten vom neuen „Systemkonflikt“ einzulassen, von Partnern in Asien, Afrika und Lateinamerika einmal ganz abgesehen. Es braucht nicht viel Fantasie, auf diesem Feld eine weitere Großbaustelle für die neue Bundesregierung zu identifizieren.

Eine engagierte internationale Menschenrechtspolitik bleibt Auftrag jeder Regierung, die die eigenen Werte ernst nimmt.

Ein Faktum ist allerdings, dass Demokratien wie Deutschland international herausgefordert werden und gerade Akteure wie Russland und China robust versuchen, selbst im Inneren unseres Landes und der EU Einfluss zu nehmen. Es braucht Strategien, um Cyberangriffe und Desinformationskampagnen abzuwehren, die die Substanz von Demokratien und das Vertrauen, auf dem ihr Funktionieren beruht, angreifen und nachhaltig beschädigen. Gleichzeitig bleiben Demokratieförderung und die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure weltweit Auftrag jeder Regierung, die die eigenen Werte ernst nimmt. Die Fortsetzung einer engagierten internationalen Menschenrechtspolitik kann von jeder neuen Regierung erwartet werden.

 

Weltweit den Schulterschluss mit Gleichgesinnten suchen

In jedem Fall – hier lässt sich an Bestehendes anknüpfen – ist die „Allianz der Multilateralisten“ eine gute Idee, die nach Partnern Ausschau hält, die ähnlich wie Deutschland eine wertegeleitete und regelbasierte internationale Ordnung favorisieren und alles andere wünschen als ein neues Konzert der Großmächte, in dem tatsächlich nur diese etwas zu sagen haben. Der wohlklingende Begriff allein allerdings macht noch nicht den Unterschied, ebenso wenig wie die zahlreichen „strategischen Partnerschaften“ Deutschlands, bei denen man sich fragt, was daran eigentlich das Strategische ist. In jedem Fall ist der Begriff vermutlich hilfreicher, als den des „Westens“ zu retten und zu erklären, warum eigentlich auch Länder wie Japan und Indien irgendwie „Westen“ sind. Beide aber gehören eindeutig in den Kreis der Länder, mit denen auch in internationalen Organisationen ein enger Schulterschluss gesucht werden sollte, für Australien, Neuseeland und Kanada gilt das ohnehin, ebenso für Großbritannien, das trotz Brexit so eng wie irgend möglich mit Deutschland und der Europäischen Union verbunden bleiben muss. In all diesen Fällen und darüber hinaus ist dann auch der Einsatz der berühmten soft power Europas besonders geboten: mit einem engagierten Ausbau von Begegnungsangeboten, vom Jugendaustausch bis zum Deutschen Akademischen Austauschdienst, von den Plattformen der Goethe-Institute bis zu den medial gestützten der Deutschen Welle – hier ist ein wirtschaftlich starkes Land wie Deutschland noch viel zu schüchtern. Auch in Lateinamerika finden sich viele Länder, die Europa historisch und kulturell eng verbunden sind, hier allerdings zu wenig Aufmerksamkeit erfahren und selbst wenig tun, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gerade die großen player wie Mexiko und Brasilien, eigentlich natürliche Partner, boxen deutlich unterhalb ihrer Gewichtsklasse, Länder wie Kolumbien und Chile bieten mit ihren Ambitionen in der OECD hoffnungsvolle Anknüpfungspunkte und irgendwie möchte man, trotz aller erfahrungsgesättigten Enttäuschung, auch den MERCOSUR noch nicht abschreiben.

Europäische Union, unmittelbare europäische Nachbarschaft, Transatlantik und NATO, Multilateralismus – bei aller Priorisierung fallen Leerstellen ins Auge, bliebe es dabei. An erster Stelle denkt man an den Nachbarkontinent Afrika, dessen Wichtigkeit für Deutschland und Europa außer Zweifel steht und das nicht nur unter dem Gesichtspunkt Migration und Fluchtursachenbekämpfung. Diese Aspekte finden sich auch in Zentral- und Südasien, wie aktuelle Migrationsstatistiken belegen. Afrika mit seiner jungen Bevölkerung und seinem gewaltigen demografischen Wachstum, boomenden Megacitys, seinem Rohstoffreichtum, mit seinen vielen demokratischen Hoffnungsschimmern, mit seinem Gewicht von mehr als 50 Stimmen in internationalen Organisationen, aber auch mit seinen zahlreichen Konflikten ist für Deutschland von besonderer Bedeutung. Gleichwohl bleibt das Engagement jenseits des entwicklungspolitischen Schwerpunkts überschaubar, traditionelle Platzhirsche wie England und Frankreich nutzen ihre Startvorteile, auch wenn koloniale Belastung nachwirkt. Hier immerhin hat Deutschland mit seiner Aufarbeitung ein Zeichen gesetzt, auf das sich aufbauen lässt.

Bleiben strukturelle Fragen, die mit schöner Regelmäßigkeit alle vier Jahre auftauchen und letztlich doch selten zu größeren Reformen des Regierungsgebäudes führen – so auch diesmal nicht. Braucht es, so fragten auch jetzt wieder wichtige Stimmen, ein unabhängiges Entwicklungsministerium? Wäre eine Verbindung mit dem Außenministerium die bessere Lösung oder eine, die speziell die Außenwirtschaft stärker adressiert? Wäre gar eine neue Konstruktion naheliegend, die etwa BMZ und Umwelt zu einem Ministerium für globale Fragen verbände, vielleicht sogar in Verbindung mit Agrarfragen? Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, interessegeleiteten Kommentaren auch nicht. Vermutlich aber hätte jede dieser Lösungen das Problem des Ressortdenkens nicht behoben, zumal auch eine ganze Reihe anderer Ministerien international unterwegs sind, von der europäischen Ebene ganz zu schweigen. Ob ein Bundessicherheitsrat Abhilfe schaffen könnte und ob er überhaupt eine Realisierungschance hat, ist offen. Der Wunsch nach „Außenhandeln aus einem Guss“ dürfte ein frommer bleiben, soviel scheint jetzt schon sicher.

 


 

Frank Priess ist stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.


 

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