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Kabir Jhangiani, NurPhoto, picture alliance

Auslandsinformationen

Welche Farbe hat der Lotus?

von Lewe Paul

Indien will von einem Systemkonflikt nichts wissen

Wenn in den Vereinten Nationen über Russlands Krieg gegen die Ukraine abgestimmt wird, enthält sich Indien regelmäßig, die Beziehungen zu Moskau werden weiter gepflegt. Moralische Appelle werden daran nichts ändern. Wenn die westlichen Staaten die „größte Demo­kratie der Welt“ stärker an sich binden wollen, müssen sie dem Land konkrete Angebote machen, die es bei seiner wirtschaftlichen Entwicklung unterstützen und seine ­Sicherheit vor China erhöhen.

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Für das Logo seiner G20-Präsidentschaft hat Indien eine markante Lotusblüte entworfen, auf der eine Weltkugel zu balancieren scheint. Das Symbol ist nicht nur eine Anlehnung an das Emblem der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi, es gibt auch Hinweise auf Indiens Selbstverständnis als globaler Akteur: Ein besonderes Merkmal der Lotuspflanze, so erklärte ein indischer Diplomat in Berlin, sei ihre Fähigkeit, unter widrigen Bedingungen zu gedeihen und zu blühen.

Einerseits ist es sicher zulässig, diese Symbolik als Wunsch Modis zu interpretieren, die diplomatischen Großereignisse unter Führung seines Landes zu nutzen, um der Welt in einer turbulenten Zeit wieder auf einen grünen Zweig zu verhelfen. Noch deutlicher aber reflektiert das Design die Selbstwahrnehmung Neu-Delhis. Mit Pakistan im Westen und China im Norden blickt Indien auf zwei Gegenspieler und sieht sich in Südasien – das oft als die am wenigsten integrierte Region der Welt bezeichnet wird – auch sonst mit vielen Problemen konfrontiert. Die Lotusblüte steht für Indiens erklärten Anspruch, sich aus diesen ungünstigen Bedingungen heraus zu der prosperierenden Großmacht zu entwickeln, die es zumindest gemäß seinen demografischen Eigenschaften bereits ist. Im Logo nicht übersehen werden sollte auch die Ausrichtung der Weltkugel. Denn so wie Indien darin im Zentrum liegt und der Südpol nach oben zeigt, inszeniert sich Neu-Delhi in seiner Präsidentschaft auch als Stimme und Führer des sogenannten Globalen Südens.

Angesichts der verhärteten Fronten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und der zugespitzten politischen Konfrontation zwischen demokratischen und autoritären Systemen würde der Westen Indien gern als festen Partner verbuchen. Doch das Abstimmungsverhalten Indiens in den Vereinten Nationen zeichnet ein anderes Bild. Trotz steigendem Druck aus Washington, London und Berlin enthielt sich Neu-Delhi, anstatt die Resolution A/RES/ES-11/1 vom 2. März 2022 und nachfolgende Voten gemeinsam mit 141 Ländern für eine Verurteilung der Handlungen Moskaus zu nutzen. Zwar löste dieses Abstimmungsverhalten Irritationen aus, jedoch ist Indien als Partner wichtiger denn je. Es hat China als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelöst, setzt sich äußert ambitionierte wirtschaftliche Ziele und wird für jeden Versuch, die Erderwärmung zu verlangsamen, von entscheidender Bedeutung sein.

Indien ist sich seiner Relevanz beim Umgang mit globalen Herausforderungen bewusst. Seine Interessen bezüglich der Weltordnung sind allerdings anders gelagert als die Deutschlands und anderer Vertreter des politischen Westens. Während der Begriff „Systemkonflikt“ in Europa immer mehr verfängt und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine als ein Symptom dieses Konflikts verstanden wird, herrscht in Indien eine nüchterne Analyse vor, die vor allem von einer Fragestellung geleitet ist: Welche Nährstoffe braucht der Lotus für die Entfaltung seiner prächtigen Blüte, wie sind diese am besten zu bekommen und wer will sie ihm streitig machen?

 

Unabhängig, blockfrei und eigensinnig

Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1947 blickt Indien auf eine außenpolitische Tradition der Blockfreiheit zurück. Bereits in den Anfängen des Kalten Krieges gehörte Indien zu den Ländern, die einer Polarisierung der Weltordnung entgegenwirken wollten. 1961 war der damalige Premierminister Indiens, Jawaharlal Nehru, einer der Mitbegründer des Non-Aligned Movement, dem sich 120 Länder anschlossen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges relativierte sich zwar die Bedeutung der Gruppierung, allerdings ging mit ihr weiterhin das Selbstverständnis eines aufstrebenden und unabhängigen „Globalen Südens“ einher. Dessen Mitglieder lehnen es ab, zu Spielbällen in Großmachtkonflikten degradiert zu werden.

Dieser außenpolitischen Tradition entsprechend sind die Anliegen des „Globalen Südens“ auch das zentrale Mantra der indischen G20-Präsidentschaft in diesem Jahr. Während politische und ökonomische Schwergewichte wie die USA, Japan und auch Deutschland das Format nutzen wollen, um auf Russland Druck auszuüben oder zumindest eine klare Haltung gegen Moskaus Angriffskrieg zu formulieren, versteht Indien seine Gastgeberrolle anders. Die G20 sollten sich in ihren Diskussionen nicht in Angelegenheiten verlieren, die man nicht gemeinsam lösen könne, sagte Premierminister Modi in einer Ansprache beim Treffen der Außenminister am 2. März 2023. Stattdessen sei ein konstruktiver Austausch zu Herausforderungen wie Katastrophenresilienz, finanzielle Stabilität, grenzüberschreitende Kriminalität sowie Lebensmittel- und Energiesicherheit gefragt. Modi appellierte an die Verantwortung der Gruppe gerade gegenüber den Ländern, für die diese Themen eine existenzielle Bedeutung haben, die selbst aber nicht über das Privileg verfügen, bei den G20-Formaten mit am Tisch zu sitzen.

Trotz der Mahnung des indischen Premiers konnten sich die Chefdiplomaten, wie zuvor auch schon die Finanzminister bei ihrem Treffen in Bangalore, aufgrund ihrer Divergenzen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine nicht auf eine Abschlusserklärung einigen. Außenministerin Annalena Baerbock nutzte zwar ihre Intervention, um ihren Amtskollegen Sergej Lawrow zu einem sofortigen Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine aufzufordern. Allerdings bekam dieser am Folgetag die Gelegenheit, bei einem gut besuchten Panel im Rahmen des Raisina-Dialogs – Indiens wichtigster sicherheitspolitischer Konferenz – Moskaus Sicht auf die Dinge in all ihrer Ausführlichkeit und Absurdität darzulegen.

Die indischen Streitkräfte sind von russischen Rüstungsgütern abhängig.

 

Indiens Haltung zum russischen Angriffskrieg

Indem sich Indien bei den einschlägigen UN-Resolutionen enthält und Russland gar eine Plattform im eigenen Land bietet, macht Neu-Delhi offenkundig, dass es sich seine Zugänge nach Moskau nicht verbauen will. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Die nächstliegende ist wohl die tiefgreifende Abhängigkeit der indischen Streitkräfte von russischen Rüstungsgütern. Laut einer Analyse des Institut Montaigne stammen circa 90 Prozent der Ausrüstung der indischen Armee aus russischer Produktion, darunter eine große Anzahl von Panzern der Bauarten T-90 und T-72 sowie diverse Raketensysteme. Bei der Luftwaffe liegt der Anteil bei rund 70 Prozent, während die Marine mit etwa 40 Prozent die geringste einseitige Abhängigkeit aufweist. Unabhängig vom politischen Willen wäre es angesichts der Größe der indischen Streitkräfte, der Menge an Gerät und der damit verbundenen Instandhaltung eine Generationenaufgabe, diese Abhängigkeit zu brechen oder auch nur signifikant zu reduzieren.

Ein weiterer Erklärungsansatz liegt in den wirtschaftlichen Chancen, die sich durch die westliche Abkehr von Rohstoffen aus Russland ergeben. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat sich der indische Import von vergünstigtem Rohöl aus Russland vervielfacht, mit dem Ergebnis, dass Indien Anfang 2023 in etwa so viel wie China kaufte – ein enormer Anstieg, auch wenn Indien kürzlich erklärt hat, den von der EU verhängten Preisdeckel einhalten zu wollen. Ganz im Sinne der Blockfreiheit haben aus indischer Sicht die eigenen wirtschaftlichen Interessen klaren Vorrang vor einem Schulterschluss mit dem politischen Lager, das Russland durch Sanktionen zu isolieren versucht und sich als globaler Verfechter der Demokratie sieht. Ein dritter Faktor, der gelegentlich von der BJP-Regierung und von indischen Sicherheitsexperten beschwichtigend ins Spiel gebracht wird, ist eine mögliche Vermittlerrolle Indiens. Nach dieser Darstellung sei Modi einer der wenigen Regierungschefs, die möglicherweise noch Einfluss auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin ausüben könnten, und er sei bereit, als Mediator aufzutreten, wenn die Konfliktparteien es wünschten.

In Indien herrscht die Meinung vor, dass China eine expansionistische Macht ist und dies auch bleiben wird.

Der vielleicht wichtigste Beweggrund für Indiens Umgang mit Russland ist jedoch das Szenario einer längerfristigen machtpolitischen Verschiebung. Neu-Delhi blickt mit Sorge auf die vertiefte und öffentlich zelebrierte Freundschaft zwischen Putin und dem chinesischen Staatschef Xi Jinping. Indien pflegte über Jahrzehnte gute Beziehungen mit der Sowjetunion und mit Russland, sieht in der Volkrepublik China aber schon lange einen Kontrahenten. Für Indien wäre es ein Alptraum, wenn sich nördlich des Subkontinents eine Allianz zwischen den beiden großen Autokratien der Welt verfestigt.

Um dies zu veranschaulichen, muss man sich nur eine Eskalation zwischen indischen und chinesischen Truppen in einer Grenzregion vorstellen. Was würde passieren, wenn Indien in einem Konfliktfall über einen längeren Zeitraum hinweg Chinas Truppen abwehren muss und dringend auf Nachschub an Waffen, Munition und Wartung aus Russland angewiesen ist? Angesichts der chinesischen Dominanz im sino-russischen Verhältnis steht zu vermuten, dass es China nicht schwerfallen würde, Lieferungen nach Indien zu unterbinden. Für die Ausrüstung aus Russland gibt es aber keinen kurzfristigen Ersatz und bisher ist nicht erkennbar, dass Indien auf irgendeine andere Sicherheitsgarantie – etwa durch westliche Partner – bauen könnte oder wollte. Mit dem Risiko einer Wehrunfähigkeit konfrontiert, sieht sich Neu-Delhi daher gezwungen, mit Russland mindestens eine gute Kommunikationsbasis zu erhalten und so bestenfalls mittel- bis langfristig die Freundschaft der Autokraten wieder aufzuweichen. Sollte Indien hingegen alles auf eine Allianz mit dem Westen setzen, würden sich in Peking und Moskau die Anreize für eine vertiefte Freundschaft nur verstärken.

 

Indien, China und die Rivalität der Zivilisationen

Indien und China blicken auf eine lange Geschichte gegenseitigen Respekts zurück. Dieser hielt allerdings nur so lange, wie der Himalaya und Tibet in ihrer gewaltigen Ausdehnung eine fast unüberwindbare natürliche Grenze bildeten. Nach Auffassung indischer Sicherheitsexperten hat die Wirksamkeit dieser Pufferzone über das vergangene Jahrhundert erheblich nachgelassen: Über viele Jahrzehnte hinweg spürte Indien, wie sein nördlicher Nachbar den Druck entlang der Grenze erhöhte. Während der Westen lange rätselte, in welche Richtung China sich nach seiner Öffnung in den 1980er-Jahren entwickeln würde, herrscht daher in Indien seit geraumer Zeit eine fest verankerte Mehrheitsmeinung vor: China ist eine expansionistische Macht und wird dies auch bleiben. Eine wie auch immer geartete Demokratisierung Chinas ist in Indiens strategischem Denken schlicht keine Option. Auf das Szenario eines langwierigen Systemkonflikts angesprochen, erwidert ein indischer Wirtschaftswissenschaftler ohne langes Zögern, hier handele es sich nicht lediglich um einen Konflikt zwischen politischen Systemen, sondern um eine Rivalität der Zivilisationen. In China habe man es mit einem Staat zu tun, der auf völlig unterschiedlichen Werten fuße und dessen Vorstellungen für die Zukunft der Menschheit mit den im Westen geläufigen Denkmustern und Normen unvereinbar seien.

Von dieser Analyse geleitet, ist China immer mehr zur unangefochtenen Priorität indischer Außenpolitik geworden. Selbst der Erzfeind Pakistan rückt zunehmend in den Hintergrund, auch wenn der Konflikt um Kaschmir alles andere als beigelegt ist und gerade innerhalb der BJP eine scharfe Rhetorik gegen das muslimische Nachbarland vorherrscht. Trotz der schwelenden Animositäten hat Pakistan für Indien nicht mehr das gleiche außenpolitische Gewicht wie noch vor einigen Jahren. Einerseits ist das Land durch eine schwere politische und wirtschaftliche Krise geschwächt und kann seinerseits kein Risiko einer Eskalation eingehen. Zum anderen führt die Tatsache, dass die wirtschaftliche Schwäche Pakistans mit einer besonders ausgeprägten Abhängigkeit von China einhergeht, letzten Endes wieder zu der oben genannten strategischen Priorität.

Aus den zahlreichen Erfahrungen im Umgang mit China zog Neu-Delhi die Lehre, bilaterale Auseinandersetzungen nicht öffentlich auszutragen. „Alles, was wir tun, findet hinter verschlossenen Türen statt“, fasst der Politikwissenschaftler Pramit Pal Chaudhuri, Mitglied des indischen National Security Advisory Boards, die Herangehensweise seiner Regierung zusammen. Für ein konstruktives Ergebnis sei es essenziell, Peking einen „Notausgang“ offen zu halten. Denn sobald sich China in eine Ecke getrieben sehe und dies für andere sichtbar sei, könne es aufgrund seiner autoritären Strukturen keine Zugeständnisse machen. In diesem Fall müsse man mit einem Konflikt rechnen. Eine damit eng verflochtene Erkenntnis ist das Primat physischer Überlegenheit, das in Peking vorherrscht, oder schlicht und ergreifend: „China versteht nur die Sprache der Macht.“

Diese Auffassung nährt sich auch aus den immer wieder aufflammenden Auseinandersetzungen entlang der rund 3.500 Kilometer langen chinesisch-indischen Grenze. Von diversen Gebietsansprüchen etwa in indisch kontrollierten Teilen von Jammu und Kaschmir und Arunachal Pradesh getrieben, testet China so die militärische Stärke und politische Entschlossenheit Indiens. Auch wenn viele Konflikte fernab der Öffentlichkeit ausgetragen würden, habe sich Neu-Delhi längst einer Politik der „harten Reziprozität“ verschrieben, um in China keinen Appetit auf eine größer angelegte Auseinandersetzung aufkommen zu lassen, führt Chaudhuri aus.

Um sich einen geostrategischen Vorteil zu erarbeiten, braucht Neu-Delhi die QUAD.

Indien, das sich selbst in der internationalen regelbasierten Ordnung verankert sieht, pflegt eine äußert skeptische Haltung zu der Vertragstreue Chinas. Geht man ein Abkommen mit China ein, so warnen indische Gesprächspartner, sollte dies als Momentaufnahme des Kräfteverhältnisses zwischen China und den jeweiligen Partnern verstanden werden. Im Falle einer Verschiebung sei aber damit zu rechnen, dass sich China nicht an Vereinbarungen halten werde; aus Sicht Pekings gelte am Ende stets das Recht des Stärkeren. Da die Volksrepublik in erster Linie versucht, diese Trumpfkarte gegenüber unterlegenen Staaten auszuspielen, ist das Ausbalancieren chinesischen Einflusses in internationalen Organisationen ein wichtiger Teil indischer Außenpolitik. So finden sich Delegationen aus Neu-Delhi und Peking gemeinsam an den Verhandlungstischen von Formaten wie der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) sowie der Staatengruppe BRICS.

Angesichts der Tatsache, dass China in der AIIB die treibende Kraft ist, könnte man eine defensive Position Indiens darin vermuten. Da Indien aber bisher der größte Empfänger von AIIB-Darlehen ist, wird Neu-Delhi nicht müde, den multilateralen Charakter der Bank zu betonen. Bevor die Freundschaft zwischen Xi und Putin die heutigen Züge annahm, trat Indien 2017 auf Anregung Russlands der SCO bei, woraufhin Peking den Beitritt Pakistans im selben Jahr veranlasste. Es steht zu vermuten, dass diese Konstellation nur Einigungen auf einem bescheidenen Niveau zulassen dürfte. Aus indischer Sicht stellt es jedoch heute für die zentralasiatischen SCO-Mitglieder eine Erleichterung dar, dass sie in dieser Versammlung nicht ausschließlich von Russland und China in die Zange genommen werden.

Kalkuliert ist auch die Haltung Indiens zu BRICS. Das Konstrukt der Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika hat zwar einige spezialisierte Austauschformate auf der Arbeitsebene hervorgebracht, ist aber in jüngster Zeit nicht durch wegweisende Kooperation aufgefallen. Dennoch bringt BRICS laut Pramit Chaudhuri einen besonderen Vorteil mit sich: In der chinesischen Öffentlichkeit habe das Quintett eine exklusive und aufstrebende Aura und die prestigeträchtigen Gipfeltreffen fänden in chinesischen Medien viel Anklang. Für indische Sicherheitsexperten ist diese relativ oberflächliche Annäherung durchaus von Bedeutung, denn nach ihrer Auffassung trägt eine – zumindest in Teilen – positive Wahrnehmung Indiens in China dazu bei, dass chinesische Aggressionen gegen Indien unwahrscheinlicher werden.

 

QUAD ist der Ort, wo „De-risking“ greifbar wird

Formate wie diese erlauben es Indien, Chinas Handeln zu beobachten und zu einem gewissen Grad sogar auf gemeinsam geführte Diskussionen einzuwirken. Zudem verschafft es sich als regionale Macht und Gegengewicht zum autokratischen China Gehör. Um sich einen geostrategischen Vorteil zu erarbeiten, braucht Neu-Delhi allerdings in erster Linie die QUAD (Quadrilateral Security Dialogue). Nachdem diese über einige Jahre ins Hintertreffen geraten war, fand der Zusammenschluss aus Australien, Indien, Japan und den USA am Rande des ASEAN-Gipfels 2017 eine neue Dynamik. Um seine außenpolitische Unabhängigkeit zu bewahren und China nicht direkt zu konfrontieren, lehnte Indien zwar US-amerikanische Bestrebungen für ein militärisches Bündnis ab. Dennoch fanden die vier Mitglieder Einigkeit darin, sich gemeinsam für einen „freien und offenen Indo-Pazifik“ sowie die „regelbasierte Ordnung im Ost- und Südchinesischen Meer“ einzusetzen und damit ein klares Signal gegen Chinas Gebietsansprüche und Untergrabungen des Seerechts zu setzen.

Dem ersten Anschein nach hat die QUAD nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten. Sie ist weder durch Verträge formalisiert noch verfügt sie über ein Sekretariat oder verbindliche Entscheidungskanäle. Bei näherer Betrachtung erweist sich die flexible Dialogstruktur aber eher als ein Vorteil. Seit ihrer Wiederbelebung verdichten sich in der QUAD die Gipfeltreffen der Staatschefs und Außenminister, die das tatsächlich vorhandene gemeinsame strategische Interesse belegen. Ein anschauliches Beispiel bietet die kürzlich bewilligte Investition der taiwanischen Firma Foxconn im indischen Bundesstaat Karnataka: Bis 2025 soll dort ein neues Werk im Wert von einer Milliarde US-Dollar einen Großteil der iPhone-Herstellung übernehmen und damit in Konkurrenz zum Produktionsstandort China treten. Nach Darstellung indischer Experten geht das Bekenntnis von Foxconn zum Subkontinent nicht zuletzt auf das Einwirken der USA zurück – gekoppelt an Absprachen in der QUAD.

Deutschland kommt eine zentrale Rolle in den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zu.

Auch wenn einige Beobachter es herbeireden, ist die QUAD nicht als indopazifisches Pendant der NATO konzipiert. Es gibt keinen Bündnisfall, in dem ein Angriff auf ein Mitglied eine gemeinsame Verteidigung aller auslöst. Eine Verpflichtung dieser Art einzugehen, widerspräche den geostrategischen Grundprinzipien Indiens. Allerdings haben die Mitglieder der QUAD erkannt, dass sich China an die Spitze der Weltordnung setzen will, indem es seine technologischen Fähigkeiten auf ein Weltklasse-Niveau hebt und so seine Machtprojektion maximiert. Aus dieser Erkenntnis heraus hat die QUAD mehr als 20 Arbeitsgruppen ins Leben gerufen, die als eine Art sicherheitspolitische Vorsorge oder auch praktisch angewendetes „De-risking“ verstanden werden können. Experten aus den vier Mitgliedstaaten und aus QUAD-Partnerländern tauschen sich darin zu gemeinsamen Ansätzen in einer Vielzahl von praktischen Fragen aus, deren thematische Bandbreite von Cybersicherheit über Rohstoffverarbeitung bis hin zu Pharmazeutik reicht. Auch die indische 5G-Strategie wurde in der QUAD diskutiert, mit dem Ergebnis, dass chinesische Hard- und Softwareunternehmen – darunter Hersteller wie ZTE und Huawei, aber auch TikTok sowie rund 250 weitere Apps – systematisch aus der indischen Wirtschaft ausgeschlossen werden.

 

Deutschland, trau dir mehr zu!

Indiens strategische Positionierung gegenüber China bildet einen wichtigen Rahmen, wenn es darum geht, Neu-Delhi noch stärker als Partner für den Westen zu gewinnen. Deutschland verfügt über eine gute Ausgangslage, um bei diesem Unterfangen eine aktive Rolle zu spielen. Indien und Deutschland pflegen seit dem Jahr 2000 eine strategische Partnerschaft und hielten im vergangenen Jahr ihre sechsten bilateralen Regierungskonsultationen ab. Bei seinem Besuch in Indien im Februar 2023 hob Bundeskanzler Olaf Scholz hervor, die beiden Länder seien durch die „grundlegenden Werte der Demokratie“ verbunden und brachte den Wunsch nach einer noch tieferen Zusammenarbeit sehr deutlich zum Ausdruck.

Tatsächlich ist die Palette der bilateralen Kooperation bereits jetzt immens. Gleichzeitig wird sie in allen Bereichen aber auch von der Wahrnehmung eines nicht voll ausgeschöpften Potenzials überschattet. In diesem Kontext steht auch die Hoffnung, Indien in seiner geopolitischen Ausrichtung auf lange Sicht an der Seite des Westens zu wissen. Diese Ambition wird sich absehbar nicht komplett verwirklichen lassen. Allerdings kann Deutschland einen wichtigen Beitrag zu einer allmählichen Annäherung leisten, indem es sich auf Indiens klar formulierte Interessen und die eigenen Stärken konzentriert. Deutschland sollte sich dabei nicht von der Vorstellung leiten lassen, in Indien einen „Wertepartner“ zu finden, sondern vielmehr anerkennen, wo Differenzen bleiben werden und wo eine vertiefte Zusammenarbeit für beide Seiten einen strategischen Nutzen bietet.

Die wichtigste Orientierung dafür sind Indiens ehrgeizige Wachstumsziele sowie die Stärkung seiner Verteidigungsfähigkeiten. Als mit Abstand wichtigster Handelspartner Indiens innerhalb der EU kommt Deutschland eine zentrale Rolle in den im Sommer 2022 aufgenommenen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zu. Nachdem vor zehn Jahren der erste Anlauf für ein solches Abkommen angesichts unvereinbarer Positionen auf frustrierende Weise gescheitert war, können und wollen sich weder die EU noch Indien eine weitere Pleite leisten. Zwar liegen die Vorstellungen zur Ausgestaltung des Abkommens in einigen wichtigen Fragestellungen weit auseinander, wie eine einschlägige Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik zeigt. Im Sinne einer engeren Bindung an Indien liegt es aber nicht zuletzt an einflussreichen EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland, bei der Abwägung von Zugeständnissen auch die Frage nach politischem Kapital zu berücksichtigen, das für eine positive Gestaltung der internationalen Ordnung aus Sicht Europas und des Westens gebraucht werden könnte.

Es muss aber nicht gleich der große Wurf gelingen. Geht es um den sinnvollen Ausbau der deutsch-indischen Beziehungen, verwenden indische Experten gern den Begriff der „low-hanging fruit“, um sich auf die Projekte zu beziehen, die eigentlich ohne größere Anstrengung umsetzbar wären. Professor D. Suba Chandran, Direktor der School of Conflict and Security Studies am National Institute of Advanced Studies in Bangalore, bringt etwa den Vorschlag einer Technologiepartnerschaft an. Im Bereich der erneuerbaren Energien und beim Bau von Batterien könnte Indien erheblich von deutscher Expertise profitieren. Auf ähnliche Weise könnten deutsche Experten ihr Fachwissen in bestimmten Arbeitsgruppen der QUAD zur Geltung bringen – etwa bei Fragen der Verarbeitung von Mineralien, die zum Tragen kommen, wenn Alternativen zu Rohstoffen und Dienstleistungen aus China gesucht werden. Kaum zu überschätzen ist auch der Aspekt der Mobilität zwischen den beiden Ländern. Studiums- und Jobperspektiven in Deutschland sind für Indien ein willkommenes Element zur Förderung seiner Fachkräfte, die so generierten Rücküberweisungen spielen für die indische Wirtschaft eine nicht unerhebliche Rolle. Die konsequente Umsetzung des im Dezember 2022 unterzeichneten Migrations- und Mobilitätsabkommens – insbesondere der Abbau von Visahürden – ist daher von größter Bedeutung.

Wer darauf hofft, dass Indien im Systemkonflikt eine klare Position für den Westen einnimmt, wird enttäuscht werden.

Ein richtungsweisender Impuls für die Partnerschaft und das gegenseitige Vertrauen könnte entstehen, wenn Deutschland seine Rüstungspolitik gegenüber Indien auf ein neues Niveau hebt. Indien signalisiert seit Langem Interesse und formuliert konkreten Bedarf. Berichten zufolge sollen Scholz und Modi im Februar auch ein deutsches Angebot für sechs U-Boote im Kostenrahmen von 5,2 Milliarden US-Dollar diskutiert haben. Verträge von dieser Tragweite könnten perspektivisch dazu beitragen, Indiens Abhängigkeit von Russland zu verringern und – was für Neu-Delhi den größeren Anreiz darstellt – Indien die Möglichkeit zu geben, seine Abschreckungs- beziehungsweise Verteidigungsfähigkeiten gegenüber China zu verbessern. Auch hier gilt es für Deutschland, die Anforderungen und Erwartungen Indiens, etwa im Hinblick auf eine Fertigung der U-Boote in Indien, äußerst sorgfältig zu prüfen und zu bewerten. Auch wenn in einigen Fällen aus wirtschaftlicher Sicht Abstriche zu machen wären, könnten diese durch erhebliche politische Gewinne wettgemacht werden.

 

Fazit: Indien geht seinen eigenen Weg, aber hoffentlich nicht ganz allein

Wer darauf hofft, dass Indien im Systemkonflikt eine klare Position für den Westen einnimmt, wird enttäuscht werden. Wie im Logo der G20-Präsidentschaft wird der Lotus auch weiterhin nur in Orange und Grün blühen. Diskussionen in Indien werden nicht vom Systemkonflikt geprägt, sondern von Indiens Anspruch, das eigene Land durch massives wirtschaftliches Wachstum aufleben zu lassen und sich international zu behaupten. In Modis Visier ist das 100-jährige Jubiläum der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 2047. Bis dahin will er das Land durch die Politik seiner BJP zu einer entwickelten Volkswirtschaft machen. Auf der Grundlage dieses Eigeninteresses wird Indien weiter Entscheidungen treffen und Abkommen abschließen, ob diese nun zu den westlichen Vorstellungen und Hoffnungen einer globalen Kräfteverschiebung zugunsten der Demokratien passen oder nicht.

Nichtsdestotrotz sind die Überschneidungen in den geopolitischen Interessen Indiens und des Westens real. Aufgrund der Bedrohung durch China ist Neu-Delhi auf ein umfassendes Ausbalancieren angewiesen, das im Rahmen von Formaten wie der QUAD als Katalysator für praktische Kooperationen wirkt und vertieften Wirtschaftsbeziehungen mit der EU eine gewisse Dringlichkeit verleiht. Indien will sich nicht der Interpretation anschließen, dass zwischen Autokratien und Demokratien ein Systemkonflikt ausgetragen wird, geschweige denn, dass es selbst dabei eine entscheidende Rolle spielen könnte. Allerdings ist es sich der globalen Machtverschiebungen überaus bewusst und will darin seine selbst erkorene Rolle als Advokat des „Globalen Südens“ ausgestalten. Auf Dauer strebt Indien eine multipolare Ordnung an, denn für eine Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Seite in einem anderswo diskutierten Systemkonflikt sind die eigenen Ansprüche zu hoch.

Um das Land bei der Ausgestaltung seiner Ambitionen dennoch so nah wie möglich an ihre Seite zu bringen, sollten Deutschland und die westlichen Partner ihre Angebote so genau wie möglich auf konkrete Bedarfe zuschneiden. Wo immer möglich, sollten in der praktischen Umsetzung materielle Zugeständnisse gemacht werden, um Vertrauen aufzubauen und politisches Kapital zu generieren. Auch sollten Erfolgsgeschichten der bilateralen Kooperation wirkungsvoller erzählt werden. Gerade Deutschland würde gut daran tun, seine umfangreiche Zusammenarbeit mit diesem so wichtigen Partnerland geschickter in Szene zu setzen. Die gewonnenen Sympathiepunkte könnten durchaus eine neue Ära in den Beziehungen zum Subkontinent einläuten.

 


 

Lewe Paul ist Referent für Südasien bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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