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Länderberichte

Deutlicher Rechtsruck bei Wahl des Verfassungsrates in Chile

von Olaf Jacob, Caroline Erdmannsdörffer

Erneuter Rückschlag für die Regierung von Gabriel Boric

Am vergangenen Sonntag wurden die Chilenen erneut an die Wahlurnen gerufen. Gewählt wurden 50 Volksvertreter, die in den kommenden fünf Monaten den von einer Expertenkommission im Vorfeld erstellten Verfassungsentwurf überarbeiten und im Anschluss über ihn abstimmen werden.

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Plebiszit und Verfassunggebende Versammlung

Im Oktober 2019 kam es während der Regierungszeit des liberal-konservativen Sebastián Piñera in dem damals als wirtschaftlich und politisch stabil geltenden Land zu teils gewalttätigen Ausschreitungen, dem sogenannten estallido social. Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und Kritik an der politischen Elite wurden laut. Eine gewisse Ruhe kehrte erst dann ein, als die Regierung dem Ruf nach sozialen Reformen und einer neuen Verfassung – die aktuelle stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur Augusto Pinochets – nachkam.

Bei einem ersten Volksentscheid im Oktober 2020 stimmten fast 80 Prozent der chilenischen Bevölkerung für die Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes durch eine Verfassungsgebende Versammlung, deren Mitglieder im Mai 2021 direkt vom Volk gewählt wurden und ein Jahr lang Zeit hatten, eine neue Verfassung auszuarbeiten.

Was mit hohen Erwartungen begann, erwies sich jedoch schwieriger als erwartet, und in den folgenden Monaten ließ die Zustimmung der Chilenen zum Verfassungsprozess immer mehr nach. Rückblickend betrachtet lässt sich festhalten, dass der Entwurf von Anfang an mit Geburtsfehlern behaftet war und eher ein bestimmtes politisches Weltbild zementiert werden sollte, als die für das Land so wichtigen Reformen einzuleiten. Insbesondere Punkte wie die Abschaffung des Senats, die Einschränkung der Rechte des Verfassungsgerichtes und die überproportionale Gewichtung der Stimmen der indigenen Bevölkerung stießen bei einem Großteil der eher konservativen Chilenen auf Widerstand. Ferner wurde die mangelnde politische Erfahrung der gewählten Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung kritisiert.   

 

Das zweite Plebiszit

Im Juli 2022 wurde der innerhalb eines Jahres ausgearbeitet Verfassungsentwurf schließlich verabschiedetet, und im September desselben Jahres fand ein Referendum statt, bei dem 62 Prozent der Chilenen gegen das neue Regelwerk stimmten.

Nach einem zähen Ringen entschieden sich Vertreter von Regierung und Opposition auf Grundlage eines Gesetzes, das im Januar 2023 vom Parlament beschlossen wurde, für einen neuen Verfassungsprozess unter Beteiligung des Kongresses. Im Unterschied zum ersten Verfassungsprozess wurde dieses Mal eine Expertenkommission mit der Ausarbeitung beauftragt – schließlich war einer der Kritikpunkte am vorherigen Verfassungskonvent die mangelnde Erfahrung ihrer Mitglieder in den Bereichen Politik und Verfassungsrecht.

Die auf diese Weise zusammengestellte Expertenkommission besteht aus 12 Frauen und 12 Männern, darunter 21 Juristen. Diese wurden von den politischen Parteien ausgewählt und von Kongress und Senat bestätigt, wobei teilweise öffentlich kritisiert wurde, dass die Auswahlkriterien wenig transparent gewesen seien. Die Kommission nahm ihre Arbeit im März dieses Jahres auf und hat bis zum 6. Juni Zeit, einen ersten Verfassungsentwurf auszuarbeiten, der nach Fertigstellung dem Verfassungsrat zur Überarbeitung und Abstimmung vorgelegt wird.

Eben dieser Verfassungsrat wurde am 7. Mai im Rahmen einer für alle Chilenen obligatorischen Wahl gewählt. Genau wie die Expertenkommission ist auch dieser paritätisch besetzt und besteht aus insgesamt 50 Mitgliedern. Ferner gibt es einen zusätzlichen Sitz für einen der indigenen Kandidaten. 

Im Gegensatz zu den Wahlen im Mai 2021 mussten sich die Bürger am vergangenen Sonntag nicht für den Kandidaten eines Wahlbezirks, sondern für den der jeweiligen Region, in der sie ansässig sind – ähnlich wie bei den Senatswahlen – entscheiden. Für die Metropolregion Santiago kommen auf diese Weise fünf Plätze im Verfassungsrat zusammen. Darüber hinaus sind die Kandidaten zu Wahlbündnissen zusammengeschlossen, insgesamt sind es fünf Listen: Partido de la Gente, Todo por Chile, Partido Republicano de Chile, Unidad para Chile und Chile Seguro. 

Aufgabe des Verfassungsrates ist es, über den Entwurf der Expertenkommission zu beraten und abzustimmen, wofür sie fünf Monate Zeit haben.

Bei dem dritten Organ des Verfassungsprozesses handelt es sich um ein juristisches Komitee, dessen Aufgabe darin besteht, den fertigen Entwurf zu überprüfen. Anschließend entscheidet die Bevölkerung im Dezember 2023 erneut für oder gegen das neu ausgearbeitete Grundgesetz.

Wähler vor einem Wahllokal. Caroline Erdmannsdörffer / KAS Chile
Wähler vor einem Wahllokal

Mangelndes Interesse

Auffällig ist, dass das Interesse am Verfassungsprozess stark nachgelassen hat oder wie es die Journalistin Ana María Sanhueza formulierte: Die Chilenen haben dem zweiten Verfassungsprozess den Rücken zugekehrt. Laut der Umfrage Pulso Ciudadano vom April dieses Jahres interessieren sich fast 48 Prozent der Bevölkerung kaum oder gar nicht; 22,3 Prozent mäßig und lediglich 29 Prozent sehr für den aktuellen Verfassungsprozess. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zum einen herrscht eine gewisse Verfassungsmüdigkeit, was auf den schlechten Verlauf des letzten Prozesses zurückzuführen ist, auf den die Bevölkerung anfänglich große Hoffnungen gesetzt hatte. Zum anderen sind die Menschen derzeit mit anderen Problemen beschäftigt, insbesondere der zunehmenden Kriminalität im Lande. Auch Themen wie die irreguläre Migration und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und des Ukraine-Krieges spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle.   

In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass sich die Kandidaten des Verfassungsrates bei ihren Diskursen größtenteils auf das Thema Sicherheit fokussiert haben. Im Gegensatz zum vorangegangenen Verfassungsprozess, bei dem Bildung, Rente und Gesundheit im Mittelpunkt standen, gab es einen Themenwechsel: Empfanden 2021 viele Bürger die soziale Ungleichheit als Hauptproblem des Landes, ist es nun die Kriminalität und mangelnde Sicherheit. In dieser Hinsicht verliert die neue Verfassung an Bedeutung, da sie keine direkte Antwort auf die Probleme darstellt, die die Menschen in Chile derzeit am meisten beschäftigen.

Wahlwerbung eines der Kandidaten der Metropolregion. Caroline Erdmannsdörffer / KAS Chile
Wahlwerbung eines der Kandidaten der Metropolregion

Wahlergebnis und politische Bedeutung

Die Rechtsaußenpartei Partido Republicano ist mit 35,42 Prozent der abgegebenen Stimmen und 23 gewählten Vertretern in der Verfassunggebenden Versammlung eindeutiger Wahlsieger. In fast allen Regionen des Landes ging die vom ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast angeführte Partei als eindeutiger Gewinner hervor. Verlierer sind alle anderen Parteien und Bündnisse, die zur Wahl angetreten sind. Die Mitte-Rechts-Allianz Chile Seguro, bestehend aus den traditionsreichen Parteien Renovación Nacional (RN), Unión Demócrata Independiente (UDI) und der liberalen Evópoli, blieb weit hinter den Erwartungen zurück und erhielt nur 21,07 Prozent der Stimmen (11 Sitze). Enttäuschend ist auch das Ergebnis des linken Regierungsbündnisses Unidad para Chile, welches nur 28,57 Prozent der Stimmen (16 Sitze) erlangte und somit noch schlechter als beim Referendum im September 2022 abschnitt. Besonders gravierend ist das Ergebnis für die von der Christdemokratischen Partei (PDC) angeführten Wahlallianz Todo por Chile. Von den erhofften fünf Sitzen wurde kein Kandidat gewählt, obwohl prominente, landesweit bekannte und erfahrene Kandidaten wie Carmen Frei und Andrés Zaldívar angetreten waren. Das Ergebnis bedeutet für die chilenische Christdemokratie eine weitere herbe Niederlage. Die traditionsreiche Partei hat in den letzten Jahren ihre politische Orientierung verloren und versinkt immer weiter in die politische Bedeutungslosigkeit.

Mit diesem Ergebnis wird die Partido Republicano bei der Erarbeitung der neuen Verfassung eine maßgebliche und entscheidende Rolle spielen. Mit 23 Vertretern im Verfassungsrat kann die Rechtsaußenpartei jede Initiative der anderen Parteien blockieren. Es bedarf nämlich einer Zwei-Fünftel Mehrheit, um Verfassungsinitiativen abzulehnen. Aus diesem Grund hängt die Arbeitsfähigkeit der neuen Verfassungsgebenden Versammlung maßgeblich von der Bereitschaft der Vertreter der Partido Republicano, auf Verfassungsvorschläge der anderen Parteien (insbesondere des Mitte-Rechts-Bündnisses Chile Seguro) einzugehen und Kompromisse zu schließen, ab. In dieser Konstellation würde die Partido Republicano und Chile Seguro insgesamt die für die Verabschiedung der neuen Verfassung notwendige Drei-Fünftel Mehrheit erreichen. Bisher haben die Republikaner diese Kompromissbereitschaft jedoch nicht gezeigt. Es bleibt daher abzuwarten, ob die Partido Republicano in der Lage sein wird, Verantwortung zu übernehmen und sich von extremen politischen Positionen zu distanzieren.

Anzahl der Sitze im Verfassungsrat. eigene Ausarbeitung
Anzahl der Sitze im Verfassungsrat
Ergebnisse der Wahlen in Prozent (Parteien und Bündnisse). eigene Ausarbeitung
Ergebnisse der Wahlen in Prozent (Parteien und Bündnisse)

Niedergang der politischen Mitte

Hauptverlierer der Wahl ist eindeutig die politische Mitte. Von den Christdemokraten wurde kein Kandidat in den Verfassungsrat gewählt, die Sozialdemokraten konnten innerhalb des linken Regierungsbündnisses Unidad para Chile nur sechs Kandidaten durchsetzen. Die restlichen elf Vertreter des Linksbündnisses repräsentieren die linksradikalen Parteien der Wahlallianz. Somit verschärft sich die politische Polarisierung in Chile deutlich. In diesem Sinne ist bemerkenswert, dass über 20 Prozent der Chilenen ihre Stimme ungültig gemacht oder für keinen Kandidaten gestimmt haben. Dies bedeutet, dass ein Großteil der Wähler der Mitte sich von keiner politischen Kraft vertreten gefühlt hat. Die neuen politischen Bewegungen, die sich maßgeblich aus Austritten der Christdemokratie formiert haben (wie Amarillos por Chile oder Demócratas) besitzen noch nicht den Status einer politischen Partei und konnten daher nicht zur Wahl antreten. Aber auch bei den Parteien der gemäßigten Rechten ist ein Einflussverlust zu erkennen. Renovación Nacional (RN), Unión Demócrata Independiente (UDI) und Evópoli galten bisher als Hauptvertreter liberal-konservativer Positionen. Diese Rolle wird zumindest vorübergehend während des Verfassungskonvents die Partido Republicano übernehmen.

 

Fazit

Analog zum Referendum im September 2022 war die Wahl am 7. Mai eine klare Protestwahl. Die Regierung Boric wurde mit einem noch schlechteren Ergebnis als beim Referendum vom 4. September 2022 politisch bestraft. Laut letzten Umfragen erreicht die Unzufriedenheit der Chilenen im Hinblick auf die Regierung Boric zirka 65 Prozent. Die steigende Kriminalität, die Verschärfung der Inflation und die Ambivalenz der Regierung bei der Durchsetzung von notwendigen Reformen in der Gesundheits- und Pensionspolitik führen zu einer wachsenden Ablehnung der Regierung. Die meisten Chilenen sehen das politische Experiment der linken Regierung Boric als gescheitert an und suchen nach einer Alternative, die sie am anderen (rechten) Rand des politischen Spektrums verorten. In diesem Sinne wäre es wünschenswert, wenn die gewählten Vertreter der Partido Republicano den Wahlsieg verantwortungsvoll in einer Kompromiss- und Konsensbereitschaft umsetzen, den Dialog mit den gemäßigten Vertretern des liberal-konservativen Bündnisses Chile Seguro suchen und somit gemeinsam eine moderne, zeitgemäße Verfassung erarbeiten. Sollte die Partido Republicano auf rechtspopulistischen Parolen und Vorschlägen verharren, droht beim Referendum am 17. Dezember 2023, an dem die Chilenen erneut über die neue Verfassung abstimmen werden, wieder eine Ablehnung.  Die Folgen für die Regierbarkeit des vormals (während der Regierung der Concertación von Patricio Aylwin, Eduardo Frei, Ricardo Lagos und der ersten Regierung von Michelle Bachelet) in Lateinamerika als Musterland der Demokratie geltenden Landes, wären verheerend.  

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Kontakt

Olaf Jacob

Olaf Jacob

Leiter des Auslandsbüros Chile

olaf.jacob@kas.de

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