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Länderberichte

Potentieller Durchbruch bei der Lösung der Flüchtlingskrise – leichte Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet

von Dr. jur. Stefan Gehrold, Kai Zenner, Oliver Morwinsky

EUROPÄISCHER RATSGIPFEL VOM 17./18. März 2016

Nur zehn Tage nach dem letzten Ratsgipfel trafen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs am 17./18. März 2016 erneut in Brüssel. Bestimmendes Thema war auch dieses Mal die Migrationskrise in Europa.

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Potentieller Durchbruch bei der Lösung der Flüchtlingskrise – leichte Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet

EUROPÄISCHER RATSGIPFEL VOM 17./18. MÄRZ 2016

Nur zehn Tage nach dem letzten Ratsgipfel trafen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs am 17./18. März 2016 erneut in Brüssel. Bestimmendes Thema war auch dieses Mal die Migrationskrise in Europa. In Anwesenheit des türkischen Premierministers Ahmet Davutoðlu einigten sich die Staats- und Regierungschef auf ein wegweisendes Abkommen mit der Türkei. Ab kommenden Sonntag weist Griechenland alle illegal einreisenden syrischen und nicht-syrischen Flüchtlinge in die Türkei ab. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden ausgewiesenen Syrer je einen in der Türkei ordnungsgemäß registrierten syrischen Flüchtling auf. Am Donnerstag stand u.a. noch das Thema Wirtschaft (Arbeitsplätze, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit) auf der Tagesordnung. Im Zentrum der Beratungen standen hier die Festlegungen auf nachhaltige, investitionsfördernde Maßnahmen. Auch die Begrifflichkeit der verantwortungsvollen Haushaltspolitik fand wieder Eingang in das Schlussdokument.

1. Migration

Hintergrund: Auf dem EU-Türkei-Sondergipfel am 7. März hatte der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu die anwesenden Staats- und Regierungschefs mit neuen Vorschlägen zur Lösung der Migrationskrise überrascht. Die türkische Regierung versprach in Zukunft stärker gegen Menschenschmuggler vorzugehen und alle illegal nach Griechenland eingereisten Flüchtlinge zurückzunehmen. Im Gegenzug verlangte sie von der EU höhere finanzielle Hilfen, eine baldige Visaliberalisierung, die Öffnung weiterer Beitrittskapitel sowie eine Aufnahme von in der Türkei ordnungsgemäß registrierten syrischen Flüchtlingen. Laut Teilnehmern führten die türkischen Vorschläge zu erheblichen Auseinandersetzungen auf dem Gipfel. Zum einen warfen einige Staats- und Regierungschefs Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dem niederländischen Ministerpräsident und Ratsvorsitzenden Mark Rutte sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, eigenmächtig und ohne Einbindung des Ratspräsidenten Donald Tusk Geheimverhandlungen mit der Türkei geführt zu haben. Zum anderen machten diverse Mitgliedstaaten deutlich, dass sie der jetzigen türkischen Regierung nicht trauten und, dass man trotz der Vorteile einer engeren Kooperation mit der Türkei europäische Werte nicht opfern dürfte. Schließlich gab es auch Meinungsunterschiede darüber, ob die sog. Balkanroute als geschlossen betrachtet werden dürfte und, ob Österreich und die Balkanstaaten eigenmächtig gehandelt hätten. Ratspräsident Tusk stellte nach dem Sondergipfel fest, dass die Schließung der Balkanroute eine gemeinsame Entscheidung der EU gewesen wäre und dankte den betroffenen Staaten für die Umsetzung.

Dem Kabinett Tusk und den nationalen Unterhändlern blieben nur zehn Tage zur Lösung der offenen Fragen nach dem Sondergipfel. Grundlage für den anstehenden regulären Ratsgipfel Mitte März sollte die unter Leitung Tusks entwickelte EU-Strategie zur Bewältigung der Migrationskrise sein, ergänzt um die neuen türkischen Vorschläge. Drei Problemfelder kristallisierten sich bei den Verhandlungen heraus: (1) Der zyp-riotische Präsident Nicos Anastasiades lehnte die Öffnung weiterer EU-Beitrittskapitel infolge eines EU-Türkei-Deals kategorisch ab. Ein solcher Schritt gefährde die gerade stattfindenden Gespräche über eine Wiedervereinigung Zyperns. (2) Die Teilnehmer diskutierten die Vereinbarkeit einer Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei mit dem Europa- und Völkerrecht. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Zeid Ra’ad al Hussein äußerte beispielsweise massive Vorbehalte gegen den von der Türkei vorgeschlagenen Mechanismus und stellte fest, dass kollektive Abschiebungen illegal seien. Der EuGH urteilte am 17. März allerdings, dass Mitgliedstaaten nach der Dublin-III-Verordnung illegal eingereiste Flüchtlinge in einen sicheren Drittstaat zurückweisen dürften. (3) Vertreter des Europäischen Parlaments unterstützten zwar mehrheitlich eine stärkere Zusammenarbeit mit der Türkei, warnten zugleich aber davor, sich zu sehr von der Türkei abhängig zu machen. Dr. Renate Sommer, EVP-Schattenberichtserstatterin zur Türkei, unterstrich, dass man der Türkei keinen Blankocheck ausstellen und die Themen Migration und EU-Beitritt nicht vermischen dürfe. Angesichts der türkischen Verstöße gegen Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Pressefreiheit sowie Vertreibungen der kurdischen Bevölkerung im Südosten des Landes sei ein EU-Beitritt derzeit in ganz weiter Ferne.

Die Europäische Kommission veröffentlichte am 16. März sechs Grundsätze für die weiteren Verhandlungen mit der Türkei und wies darauf hin, dass alle Vereinbarungen in vollem Einklang mit dem Europa- und Völkerrecht erfolgen müssten. Zugleich kündigte sie die Bereitstellung von zusätzlichen 445 Millionen Euro an Syrien und seine Nachbarstaaten an. Zudem startete mit EURO ECHO das neue EU-Instrument für eine schnelle Bereitstellung humanitärer Hilfe. Griechenland erhält 300 Millionen Euro zur Versorgung existentieller Bedürfnisse von Flüchtlingen und umfangreiche Sachleistungen von anderen EU-Mitgliedstaaten. Trotz der politischen Fortschritte zeigten sich Kommissionspräsident Juncker und Bundeskanzlerin Merkel vor dem Gipfel nur vorsichtig optimistisch. Auch Ratspräsident Tusk erwartete schwierige Verhandlungen und machte deutlich, dass eine Einigung nur mit der Zustimmung aller 28 Mitgliedstaaten möglich wäre.

Entscheidungen auf dem Gipfel: Die Migrationskrise wurde in mehreren Etappen auf dem Ratsgipfel am 17./18. März besprochen. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich während einer fünfstündigen Dinner-Sitzung am Donnerstagabend zunächst auf eine gemeinsame Verhandlungsposition. Diese basiert auf der zuvor vom Rat und der Kommission entwickelten europäischen Migrationsstrategie und geht nur teils auf die türkischen Forderungen ein. Der Europäische Rat legte fest, dass eine Rückführung von Flüchtlingen europarechts- und völkerrechtskonform sein muss, das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge in den Prozess einzubeziehen ist und Asylgesuche einzelfallweise entschieden werden müssen. Eine Visaliberalisierung ist zudem nur bei der Erfüllung aller 72 Kriterien möglich. Schließlich sei eine Öffnung weiterer Beitrittskapitel ohne Entgegenkommen der Türkei in der Zypernfrage nicht denkbar.

Am Freitagvormittag trafen sich zunächst Ratspräsident Tusk, Kommissionspräsident Juncker und der niederländische Premierminister Rutte mit dem türkischen Premierminister. Die drei EU-Verhandlungsführer stellten Ahmet Davutoğlu die europäische Position vor und versuchten anschließend eine Einigung mit der Türkei zu erzielen. Nach Informationen von Anwesenden verlangte die türkische Regierung aus innenpolitischen Gründen feste Zusagen der EU hinsichtlich finanzieller Hilfen, der Öffnung weiterer Beitrittskapitel und eines festen Zeitpunkts des Starts der Flüchtlingsrückführung. Gerade letzteres bewertete die EU aus rechtlichen und organisatorischen Gründen kritisch. Bislang hat die Türkei die Genfer Konventionen nur teilweise ratifiziert und besteht auf geographischen Beschränkungen. Zurzeit verstieße daher Griechenland bei einer Abschiebung von Flüchtlingen in die Türkei gegen internationales Recht, da die Türkei nicht die Kriterien für einen sicheren Drittstaat erfüllt. Zudem entspricht der griechische Rechtsschutz von Flüchtlingen (bspw. gegen Abschiebungen in die Türkei) derzeit noch nicht internationalen Standards. Folglich müssen beide Staaten vor einer Implementierung der Pläne ihr nationales Recht anpassen. Der raschen Umsetzung der Rückführung stehen auch logistische Probleme entgegen. Es fehlt an Fachpersonal. Zudem gilt es, die aktuell 8.000 Flüchtlinge auf den griechischen Inseln zu evakuieren.

Trotz der Meinungsunterschiede verständigten sich die drei EU-Verhandlungsführer mit dem türkischen Premierminister auf ein gemeinsames Vorgehen zur Lösung der Flüchtlingskrise. Die Staats- und Regierungschefs nahmen die Einigung auf der anschließenden Lunch-Sitzung einstimmig an. Die Schlussfolgerungen im Überblick:

(1)Prioritär für den Europäischen Rat ist die Sicherung der europäischen Außengrenzen. Die Staats- und Regierungschefs begrüßten die umfangreiche EU-Strategie zur Lösung der Krise und zeigten sich zufrieden mit den erzielten Fortschritten beim europäischen Grenzschutz und der gemeinsamen Küstenwache. Die Arbeit an einer umfassenden EU-Migrationspolitik, einschließlich Reformen des Dublin-Systems, wird fortgesetzt.

(2)Ab dem 20. März 2016 werden alle illegal aus der Türkei nach Griechenland eingereisten Migranten abgewiesen. Kollektive Ausweisungen wird es allerdings nicht geben. Für jeden ausgewiesenen syrischen Flüchtling nimmt die EU einen in der Türkei ordnungsgemäß registrierten syrischen Flüchtling auf. Nichtsyrische Flüchtlinge fallen nicht unter das Abkommen. Der beschlossene Mechanismus gilt nur solange bis der Flüchtlingsstrom abgeebbt ist.

(3)Die auf diese Weise aufgenommenen Flüchtlinge (max. 72.000) werden gem. dem im Juli 2015 verabschiedeten EU-Umsiedlungsprogramms auf die einzelnen Mitgliedstaaten verteilt. Die Verteilung soll soweit beschleunigt werden, dass jeden Monat 6.000 Personen umgesiedelt werden. Nur Ungarn und die Slowakei sind von den Umsiedlungen ausgenommen.

(4)Griechenland erhält umfangreiche finanzielle und logistische Unterstützung zur Umsetzung der Vereinbarungen. Die Institutionen und Mitgliedstaaten helfen Griechenland mit Grenzschutzpersonal, Asylexperten und Übersetzer aus. Schließlich fließen auch Gelder zur Verbesserung der humanitären Lage.

(5)Die versprochenen Finanzmittel an die Türkei werden beschleunigt ausgezahlt. Die türkische Regierung erstellt eine Liste förderungswürdiger Projekte (z.B. Aufbau von Schulen für Flüchtlingskinder). Bis 2018 erhält die Türkei weitere 3 Mrd. Euro. Zudem wird das Beitrittskapitel 33 (Haushalt) geöffnet und – bei einer Erfüllung aller 72 Kriterien – eine Visaliberalisierung schon im Juni angestrebt. Die EU erwartet von der Türkei im Gegenzug, dass sie die internationalen Standards in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechte (insb. Meinungsfreiheit) einhält.

(6)Stärkung der Kooperation mit den Westbalkanstaaten. Die Europäische Investitionsbank soll auf dem kommenden Juni-Gipfel eine neue Initiative zur Wirtschaftsförderung in der Region vorstellen.

(7)Schließlich mahnten die Staats- und Regierungschefs zur Wachsamkeit und sofortigem Handeln beim Entstehen neuer Flüchtlingsrouten. Der Kampf gegen Menschenschmuggler müsse überall und mit allen angemessenen Mitteln geführt werden. Insbesondere die libysche Einheitsregierung soll unterstützt werden.

Kommentar

Der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu sprach nach dem Ratsgipfel von einem ausbalancierten Abkommen. Auch Ratspräsident Donald Tusk zeigte sich zufrieden. Das EU-Türkei-Abkommen würde von allen Mitgliedsstaaten getragen und wäre mit dem Europa- und Völkerrecht vereinbar. Es stellte sicher, dass jeder Migrant in Europa individuell und mit Respekt sowie Würde behandelt würde. Bundeskanzlerin Merkel beschrieb das Abkommen als Instrument zur nachhaltigen Lösung der Krise. Sie hoffe, dass irreguläre Migration nun zu einem Ende komme und das Wirtschaftsmodel von Menschenschmuggler nachhaltig gestört werde. Zugleich unterstrich Angela Merkel aber auch die enormen logistischen Schwierigkeiten, die noch zu lösen seien.

Die Einigung steht am Ende wochenlanger Debatten innerhalb der Europäischen Union. Obwohl es auch weiterhin Zweifel an der Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit des Abkommens gibt, ist die Einigung ein Erfolg der Kanzlerin. Angela Merkel hat sich seit Herbst für eine Einbeziehung der Türkei zur Lösung der Migrationskrise stark gemacht. Während das erste Abkommen mit der Türkei im November 2015 nur finanzielle Hilfen für einen verstärkten Grenzschutz vorsah, hat das neue Abkommen das Potential zur (zumindest partiellen) Lösung. Die effiziente Umsetzung erfordert erhebliche Anstrengungen der griechischen und türkischen Regierung, wobei es bestürzt, dass Beobachter das der Türkei eher als dem EU-Mitgliedsstaat Griechenland zutrauen. Die Türkei muss innerhalb von wenigen Tagen seine Gesetze und Asylverfahren an die völkerrechtliche Standards anpassen. Griechenland muss logistisch zur Rückführung aufrüsten und neue rechtliche Voraussetzungen schaffen. Da das Land, insbesondere nach Übernahme der Regierung durch die Partei Syriza, wirtschaftlich sehr schwach ist und sich immer dramatischer verschuldet (die Prognosen von Bundesbank, IWF und Kommission liegen für 2016 jeweils bei über 200% des Jahresbruttoinlandsprodukts), ist es auf substanzielle Hilfen sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Durchführung der Vereinbarungen angewiesen. Die Europäische Union versprach nach dem Gipfel hierfür umgehend ein Team aus 4.000 Personen bestehend aus Vertretern der EU-Institutionen, internationalen Organisationen und inländischem Personal zusammenzustellen. Kommissionspräsident Juncker bezeichnete die Umsetzung des Abkommens als eine Herkulesaufgabe für Griechenland und Europa. Die Umsetzung des Abkommens wäre die größte Aufgabe mit der die EU in ihrer Geschichte bisher konfrontiert gewesen sei.

2. Europäisches Semester

Im Vorfeld des Gipfels befand Parlamentspräsident Martin Schulz: „Die wirtschaftliche Situation in der EU ist nicht gut.“

Insbesondere die Eurozone liegt deutlich hinter den selbst gesteckten Erwartungen. Das Wachstum lahmt, die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ist schwach. Schulz forderte vor allem wachstums- und konsumfördernde Maßnahmen bei gleichzeitiger Steigerung der Einkommen Dieser Ansatz ist nicht mehr als ein frommer Wunsch. Künstlich hohe Einkommen (durch die Festlegung von Mindestlöhnen) und die massive Überregulierung des Arbeitsmarkts führen exakt zu dem beobachteten Phänomen. Die französische Volkswirtschaft ist dafür ein beredtes Beispiel.

Die deutsche Bundeskanzlerin verwies auf die „klassische“ Themenbesetzung im Märzgipfel und unterstrich die Bedeutung der Stärkung der „wirtschaftlichen Fundamente der Europäischen Union“.

Im Zentrum der (wirtschaftlichen) Beratungen stand das Europäische Semester. Hierbei ging es vor allem um die Bereiche Beschäftigung bzw. Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit.

Was im Rahmen des Europäischen Semesters beschlossen wurde:

1. Wiederankurbelung der Investitionstätigkeit

2. Fortsetzung der Umsetzung der Strukturreformen und

3. Bestärkung zur Führung einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik

Im Kern ging es um die Überprüfung der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen durch den Rat. Ebenso definierte man die Prioritäten für das laufende Europäische Semester. Der Rat – gestützt durch die Kommission – motivierte die Mitgliedsstaaten dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die die Wirtschaft stabilisieren. Vornehmlich soll dies mithilfe von Strukturreformen geschehen. Viel konkreter wurde man nicht. Die Mitgliedsstaaten wurden dazu aufgefordert, der Kommission in der zweiten Aprilhälfte entsprechende Vorschläge vorzulegen. Die Institutionen werden im Mai sodann länderspezifische Empfehlungen hierzu veröffentlichen.

Hintergrund: Der Rat hat in den letzten Monaten kontinuierlich auf die Stärkung der wirtschaftlichen Basis der EU und insbesondere der WWU hingearbeitet. Die von der Kommission im Oktober 2015 veröffentlichten Binnenmarktstrategie stellte bereits entsprechende Weichen: Bspw. Verringerung von Regulierungs- und Verwaltungsaufwand, Förderung von grenzüberschreitenden Tätigkeiten von KMU’s sowie Abbau ungerechtfertigter und unverhältnismäßiger (nicht-) regulatorischen Beschränkungen. Dem Jahreswachstumsbericht 2016 legte im Januar diesen Jahres die politischen Prioritäten für Beschäftigung und Wachstum in der EU fest. Im Zentrum steht hier eine verantwortungsvolle Fiskalpolitik. Wie die genaue Definition für verantwortungsvoll lautet, wird unterschiedlich interpretiert.

So beklagte sich der italienische Ministerpräsident, Matteo Renzi, über das von der Kommission initiierte Vertragsverletzungsverfahren gegen sein Land. Auch, respektive insbesondere, wäre das Vertragswerk zu wenig flexibel hinsichtlich nationale Spezifika, verursacht z. B. durch die Flüchtlingskrise. Dass die Stimulation des Wachstums durch schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme erfolgen soll, rief innerhalb des Rates einigen Unmut hervor.

Eine auch immer wieder vorgebrachte Forderung seitens (mediterraner) ausgabenfreudiger Staaten deutet auf die makroökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der EU (und insbesondere der WWU) hin. Der Rat beruft sich bei seiner Analyse dieser Probleme hauptsächlich auf die von der Kommission (am 8. März diesen Jahres) veröffentlichten Ergebnisse der Länderberichte der Eurozone. Hiernach hat es zwar Fortschritte beim Abbau von solchen Ungleichgewichten gegeben, dennoch weisen 12 Länder solche auf, 5 davon gar übermäßige (Frankreich, Italien, Portugal, Bulgarien und Ungarn). Deutschland liegt im Bereich der Länder mit vergleichsweise „akzeptablen“ Ungleichgewichten.

Kommentar

Bahnbrechende Fortschritte im Bereich der Wirtschaft wurden nicht erwartet und sind auch nicht erreicht worden. Es ging vielmehr um die Verbreitung einer (weiteren) politischen „message“: Die EU will die wirtschaftliche Basis stärken.

In der Kommission wird mittlerweile kaum mehr verhohlen eingeräumt, dass die im Nachgang zur Verschuldungskrise eingezogenen Korsettstangen zur Förderung von Haushaltsdisziplin, wie das Europäische Semester, der Fiskalpakt, der Mechanismus zur Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, die erwarteten Resultate nicht erbracht hätten. Zwar hat die Kommission ein Defizitverfahren gegen Italien in Gang gesetzt, das gegen Frankreich steht aus Gründen, die nur die Kommission kennt, aus. Die Mitgliedsstaaten, Herr Renzi ist ein Beispiel, kommen mit immer abenteuerlicheren Entschuldigungen, um den im Stabilitätspakt vorgesehen Konsequenzen zu entgehen. Im Grunde zielt die Strategie der klammen Mitgliedsstaaten darauf ab, sämtliche Vereinbarungen in einer Form zu verwässern, dass Haushaltsdisziplin gar nicht mehr gewahrt werden muss; mit der Konsequenz, dass die soliden Staaten für die Schulden dieser Länder einzustehen haben, was im Art. 136 III AEUV ausdrücklich ausgeschlossen ist. Damit wäre die Transferunion perfekt, was den europakritischen Parteien weiter Vorschub leisten wird. Die niederländische PVV, die FPÖ und die AfD reiben sich schon die Hände sowie manche skandinavische Partei auch.

Der nächste reguläre Ratsgipfel im Juni wird sich – nach jetzigem Stand – mit der vollständigen Überprüfung und Begutachtung der WWU, insbesondere der Bankenunion, dem digitalen Binnenmarkt und der Kapitalmarktunion beschäftigen. Im Juni wird man auch mehr über die Auswirkungen der neuerlichen Leitzinssenkungen und des Quantitative-Easing-Programms (QE) der EZB wissen. Das von der EZB größte jemals aufgesetzte Staatsanleihekaufprogramm (geplant: ca. 1.500 Mrd. € bis März 2017) zur Steigerung der Inflationsrate auf nahezu 2%, zeigt bislang kaum Wirkung. Die jetzt vereinbarten Maßnahmen sind nicht bahnbrechend. Sie stärken das wirtschaftliche Fundament der Union, ohne wegweisend zu sein. Dies kann wohl frühestens beim Juni-Gipfel erwartet werden, wenn es an die „harten“ Themen der WWU geht.

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Türkischer Premierminister Ahmet Davutoðlu, Ratspräsident Donald Tusk, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker | Quelle: Europäischer Rat Rat
Türkischer Premierminister Ahmet Davutoðlu, Bundeskanzlerin Angela Merkel | Quelle: Europäischer Rat Rat
türkisch-europäische Sitzung während des Ratgipfels | Quelle: Europäischer Rat Rat

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