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"Der alte Kontinent gibt sich eine Verfassung - Der Reformkonvent hat eine EU-Verfassung auf den Weg gebracht"

von Anja Hauser
Nach 17 Monaten harten Ringens haben die 105 Konventsmitglieder und ihre Stellvertreter den Entwurf für eine künftige EU-Verfassung unter Dach und Fach gebracht. Unter Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Valery GISCARD D’ESTAING ist es dem Konvent gelungen, das bislang 80000 Seiten umfassende Brüsseler Regelwerk zu entschlacken.Insgesamt 460 Artikel in vier Teilen sind es geworden, die das künftige Europa der 25 auf eine festere Grundlage stellen sollen. Das Ziel lautete, die Gemeinschaft demokratischer, transparenter und effizienter zu gestalten, die Zuständigkeiten der EU besser aufzuteilen und die Instrumente der Union zu vereinfachen. Nun gilt es zu prüfen, ob der Europäische Konvent dieser Aufgabe gerecht werden konnte

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I. Bilanz

Nachdem der erste und zweite Teil des Textes (Verfassungsrechtliche Kern-vorschriften; Charta der Grundrechte) mit grundlegenden Artikeln einer künftigen EU - Verfassung bereits am 13. Juni 2003 von allen Konventsmitgliedern in Brüssel gebilligt worden war, wurde am 9. und 10. Juli 2003 ebenfalls in Brüssel die endgültige Fassung des dritten und vierten Teils (Vorschriften über die Politiken der Union; allgemeine Schlussbestim-mungen) fertiggestellt.

Letztere enthalten die nicht weniger wichtigen Ausführungsbestimmungen. Sie führen entsprechend für jeden Bereich die Art der Zuständigkeit und die anwendbaren Rechtsakte und Verfahren an.

Erste Weichen für eine umfassende Reform der Europäischen Union hatten die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen in Laeken Ende 2001 durch die Einberufung des Konvents gestellt. Ihm wurde zur Aufgabe bemacht, den „Weg zu einer Verfassung für die Europäischen Bürger“ aufzuzeigen. Erstmals im Rahmen der europäischen Integration wurde in einem offiziellen Dokument des Europäischen Rates auf die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Ausarbeitung einer „Verfassung“ für die Union hingewiesen. Ein erstes umfassendes Konzept für eine Europäische Verfassung wurde von der Europäischen Volkspartei (EVP) bereits im Sommer 2002 vorgelegt. Dieser Basisentwurf diente als erste Arbeitsgrundlage für den gesamten Konvent

Entstanden ist daraus ein von Kompromissen geprägter Verfassungsentwurf, der den Versuch wiederspiegelt, einen Interessenausgleichs für viele Zukunftsfragen der EU zu finden. Von allen Beteiligten wird er als wesentlich größerer Schritt nach vorn angesehen, als ihn die Staats- und Regierungschefs in den zuletzt geschlossenen EU-Verträgen von Nizza und Amsterdam je gewagt haben.

Einiges wurde erreicht, was vor Jahresfrist noch unmöglich schien: Die Europäische Union erhält als Institution eine Rechtspersönlichkeit, die es ihr erlaubt, internationale Abkommen in eigenem Namen einzugehen. Das selbst für Experten kaum noch überschaubare europäische Vertragswerk wurde zu einem Gesamtdokument zusammengeführt, welches auch die Grundrechtecharta als integralen Teil übernimmt. Darüber hinaus wurden die Aufgabenverteilung der Zuständigkeiten der Union und der Mitgliedstaaten klarer geordnet, vereinfachte Handlungsinstrumente ausgearbeitet und die Funktionsweise sowie die Rolle aller Organe der Union verbessert und neu gewichtet. Die Mehrheitsentscheidung im Ministerrat wurde auf weitere Politikbereiche ausgedehnt und das Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments als Regelfall in der Gesetzgebung festgelegt. Diese Punkte heben die bestehenden Verträge auf ein neues Niveau.

Bei detaillierter Betrachtung des Verfassungsentwurfes finden sich jedoch noch einige Defizite, die im Laufe der Debatte nicht behoben werden konnten. Dazu zählen die nach wie vor komplexe Struktur und mangelnde Lesbarkeit des Gesamttextes. So führt die Aufnahme der Grundrechtecharta als Teil II der Verfassung vielfach zu Überschneidungen mit Bestimmungen des ersten Teils – vor allem in Bezug auf die Titel Grundrechte, Unionsbürgerschaft und demokratischen Leben. Im Ergebnis schränkt dies nicht nur die Übersichtlichkeit des Textes ein. Voneinander abweichende Formulierungen dürften auch zu Auslegungsschwierigkeiten bei der Rechtsetzung und –sprechung führen.

Zudem werden viele wichtige Bestimmungen wie zur Rolle der nationalen Parlamente, zur Verhältnismäßigkeit und zur Subsidiarität, die gerade für den Bürger von großem Interesse sind, in Protokollen verlagert. Die Gefahr besteht hierbei, dass die Staats- und Regierungschefs auf der Regierungskonferenz weitere Bestimmungen und Relativierungen als Protokolle anhängen und somit erneut ein undurchschaubares Dickicht an Vertragsbestimmungen entstehen würde.

Derartige Schwächen konterkarieren den Anspruch auf Bürgernähe, Transparenz sowie die Handlungsfähigkeit eines großen Europas und verhindern, dass die erweiterte Union ihr Potenzial voll ausschöpfen kann. Ob sich die Bürger mit diesem Vertrag als ihrer Verfassung identifizieren können, wird sich zeigen müssen.

In der Summe sind die Konventsergebnisse dennoch als ein signifikanter Fortschritt zu bewerten. Viele der seit Jahren diskutierten Reformen konnten umgesetzt worden. Denn schon in der gegenwärtig 15 Länder umfassenden EU erwiesen sich die Entscheidungsmechanismen als zu kompliziert, intransparent und so schwerfällig, dass Stillstand statt Fortschritt drohte.

Auch der Wechsel von der bisherigen „intergouvernementalen“ Methode zur „Konvents“-Methode kann als zukunftsweisendes Verfahren angesehen werden.

Mit dieser Verfassung wird die Europäische Union in die Lage versetzt, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, u.a. der Erweiterung der EU auf 25 bzw. 27 Mitgliedsstaaten, besser stellen zu können.

Nun gilt es vor allem Sorge dafür zu tragen, dass diese neue Stufe der Integration auch Verfassungswirklichkeit wird und in Kraft treten kann. Die erste Hürde ist die im Oktober beginnende Regierungskonferenz in Rom. Gelingt es ihr nicht den Konventsentwurf in seiner integralen Substanz zu erhalten, droht die gesamte Arbeit des Konvents als Blaupause ins Archiv der Integrationsgeschichte zu wandern.

II. Die Ergebnisse des Konvents im Einzelnen

Wie soll das künftige Europa aussehen? Ein Staatenbund oder ein Bundesstaat? Wie soll die Aufgabenverteilung zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten strukturiert werden? Sollen die Nationalstaaten mehr Macht an Brüssel abgeben? Wie können die unübersichtlichen einzelnen Vertragswerke der Europäischen Union zu einem einheitlichen Verfassungsvertrag zusammengefügt werden?

Wenngleich aus politischen Gründen und als Versuch eines „agenda setting“ nur als Fragenfolge formuliert, kam diesem Mandat des Europäischen Konvents eine besondere Bedeutung zu.

Es galt, die europäische Einigung auf eine Grundlage zu stellen, die eine reibungslose Integration der Neumitglieder ermöglicht, die Handlungsfähigkeit der Union nach außen garantiert und die Akzeptanz der Union bei den Bürgern stärkt.

Identität schaffen

Ein zentrales Ziel des laufenden Reformprozesses war und ist, den Bürgern das Projekt Europa näher zu bringen. Daher war für den Konvent von größter Bedeutung, ein Grundlagendokument zu erstellen, das von Bürgern nachvollziehbar ist und ihm ermöglicht, sich mit dem gemeinschaftlichen Europa zu identifizieren.

Durch die Übernahme der europäischen Grundrechtecharta (Teil II), die bereits 2001 beim EU Gipfel in Nizza proklamiert wurde, aber noch keine Rechtsgültigkeit hatte, erhält die EU einen rechtsverbindlichen Grundrechtekatalog. Somit wird den EU-Bürgern ein individueller Zugang zum Europäischen Gerichtshof in Luxemburg eröffnet.

Die Verleihung einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit an die EU ermöglicht es, dass sie bei internationalen Verhandlungen geschlossener auftreten und selbst bei internationalen Abkommen agieren kann.

Die Werte und Ziele in diesem Dokument spiegeln das christliche Menschenbild sowie die Grundsätze von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Solidarität wider. Die kryptisch geratene Präambel aus der Feder von GISCARD D´ESTAING lässt zwar den Gottesbezug vermissen, führt jedoch eine Kompromissformel ein, die auf die „kulturelle, religiöse und humanistische Überlieferung Europas“ hinweist.

Eine Identifikation der Bürger mit dem gemeinschaftlichen Europa kann zudem durch die Symbole der Europäischen Union (Teil IV) erreicht werden. Die blaue Europa-Fahne mit den zwölf Sternen als offizielle EU-Flagge, Ludwig von Beethovens „Ode an die Freude“ als EU-Hymne, der 9. Mai als EU-Feiertag, der Euro als Gemeinschaftswährung und „Vereinigt in Vielfalt“ als Motto, werden in der Verfassung festgeschrieben.

Aufgabenprofil - Kompetentordnung

Um künftigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden zu können, bedarf es einer Kompetenzabgrenzung, die den Handlungsspielraum und die dynamische Entwicklungsfähigkeit der Union nicht einengt, nationale Identität und Vielfalt aber respektiert.

In diesem Sinne ist es als Fortschritt zu werten, dass der Verfassungsvertrag eine völlige Neukonzeption, d.h. eine Vereinfachung der Kompetenzordnung enthält. Sie wird im ersten Teil des Verfassungsentwurfes nach den Grundsätzen „der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit und der loyalen Zusammenarbeit“ vorgenommen. Darin wird festgelegt, in welchen Politikfeldern die EU ausschließliche Befugnisse hat, welche Aufgaben sich die Union und Mitgliedsstaaten teilen und in welchen Bereichen die EU nur ergänzend oder unterstützend tätig werden darf. Während zu den ausschließlichen Befugnissen die Bereiche Wettbewerb, Währungspolitik für Euro-Länder, gemeinsame Handelspolitik, Zollunion, sowie der Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der Fischereipolitik zählen, gehören zu den geteilten Zuständigkeiten u.a.: Binnenmarkt, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Landwirtschaft und Fischerei, Verkehr, Energie, Sozialpolitik, Umwelt und Verbraucherschutz. Ausdrücklich regelt der Entwurf, dass die EU z.B. bei Sport und Kultur nur ergänzend tätig werden darf.

Sonderregelungen werden für die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, für die Außen- und Sicherheitspolitik, Verteidigungspolitik sowie für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durch den Europäischen Rat getroffen, der die strategischen Leitlinien für die legislative und operative Programmplanung festlegt.

Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur in den ihr in der Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten tätig. Alle der Union nicht zugewiesenen Zuständigkeiten verbleiben automatisch bei den Mitgliedsstaaten. Im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips, das bei der Ausübung nicht ausschließlicher EU-Kompetenzen beachtet werden muss, wurde der Wortlaut präzisiert. Künftig darf die Union nur tätig werden, wenn Ziele weder auf nationaler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können. Zur Wahrung der Subsidiarität wurde ein „Frühwarnsystem“ eingerichtet, bei dem jedes nationale Parlament innerhalb von sechs Wochen in einer begründeten Stellungnahme Einspruch gegenüber einem Kommissionsvorschlag erheben kann. Zudem wurde eine Klagerecht gegen die Verletzung der Subsidiarität eingeführt.

Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht die Union inhaltlich wie formal für die Erreichung der Ziele der Verfassung ein.

Positiv in diesem Kontext ist zu vermerken, dass die alte, im Vertrag von Masstricht begründete und im Vertrag von Nizza überarbeitete Pfeilerstruktur, nach der die frühere EG mit dem Binnenmarkt unter das Gemeinschaftsrecht (erste Säule) fiel, während die Innen- und Rechtspolitik (zweite Säule), als auch die Außen- und Sicherheitspolitik (dritte Säule) im Rahmen einer Regierungszusammenarbeit ohne Mitentscheidungsrecht des Parlaments erfolgten, hinfällig wird. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Innen- und Rechtspolitik werden somit nicht mehr ausschließlich intergouvernemental geregelt.

Künftiges Machtgefüge der EU

Die Handlungsfähigkeit einer auf 25 und mehr Staaten erweiterten Union wird maßgeblich von den Fähigkeiten der politischen Institutionen und deren Führungsspitzen abhängen.. Das künftige Machtgefüge der EU soll den gemeinschaftlichen und zwischenstaatlichen Legitimationssträngen der Union als Verbund von Staaten und Bürgern (doppelte Legitimität) gerecht werden. So orientiert sich der Vertragesentwurf an einem „Zwei-Kammer-System“, das prinzipiell einer föderativen Grundstruktur der EU Rechnung tragen soll.

Im Rahmen der Neuordnung der EU-Institutionen wurde die Arbeitsweise des Ministerrats grundlegend neu konzipiert. Im Zentrum der Gesetzgebung steht künftig ein öffentlich tagender Legislativrat, der in mehr Bereichen als vorher mit Mehrheit statt Einstimmigkeit entscheiden wird. Er rückt raus in die Rolle einer Ersten Kammer, neben dem Europäischen Parlament als Zweite Kammer.

Anzustreben bleibt, dass die in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, in der Handelspolitik, und in Steuerfragen immer noch geforderte Einstimmigkeit in das Verfahren der qualifizierten Mehrheit überführt wird, damit es durch ein Vetorecht einzelner Mitgliedsstaaten nicht zu Blockaden kommen kann.

Das System des bisher existierenden Rotationsverfahrens bei der Ratspräsidentschaft wird abgeschafft. Stattdessen erhält der Europäische Rat einen hauptamtlichen Präsidenten mit einer verlängerten Amtszeit von 2 ½ Jahren, der die Sitzungen des Europäischen Rates vorbereiten, leiten und darüber Bericht erstatten wird, sowie auf seiner Ebene die Vertretung der EU nach außen sicher stellen soll. Die Kontinuität, Visualität und Kohärenz in der Vertretung der Europäischen Union nach innen und außen soll damit gefördert werden. Allerdings hat der Ratspräsident im Rahmen seiner Zuständigkeit nur begrenzte Befugnisse.

Das außenpolitische Profil der Gemeinschaft wird durch die Einrichtung des Amtes eines europäischen Außenministers gestärkt werden. In einer Doppelrolle soll er als Vizepräsident der Kommission die Aufgaben des EU-Außenkommissars wie des beim Ministerrat verankerten Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik in Personalunion übernehmen. „Doppelhut“ lautet die Brüsseler Umschreibung für diesen Sachverhalt. Er soll ein Initiativrecht in Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben, anderseits Entscheidungen des Außenministerrates ausführen. Um diesen Aufgaben gerecht werden zu können, soll ihm ein europäischer Auswärtiger Dienst unterstellt werden, der durch Vereinbarung zwischen Rat und Kommission unbeschadet der Rechte des Europäischen Parlaments eingerichtet wird. Dadurch wird sichergestellt, dass die institutionelle Balance unter Beteiligung von Kommission und Parlament erhalten bleibt. Dennoch sollte nach Ansicht der EVP Konventsgruppe weiterhin danach gestrebt werden, dass der diplomatische Dienst verwaltungsmäßig in die Kommission integriert wird. Ob die „Zwitterrolle“ des Außenministers gut ausgelotet ist, wird sich in Zukunft zeigen.

Umfassende Veränderungen wird es auch in der Kommission geben. Sie wird in Zukunft weitaus politischer geführt werden können als in der Vergangenheit. Dazu trägt vor allem die Ausweitung der Rolle des Kommissionspräsidenten bei, der künftig über eine Richtlinienkompetenz der Kommissionsaufgaben verfügen und Kommissare aus einer Kandidatenliste mit je drei Anwärtern pro Mitgliedstaaten auswählen kann. Hinzu kommt, dass der Präsident die interne Organisation der Kommission beschließen kann, um die Kohärenz, die Effizienz und das Kollegialitätsprinzip im Rahmen ihrer Tätigkeit sicherzustellen.

Die Wahl des Kommissionspräsidenten erfolgt auf Vorschlag des Europäischen Rates unt er Berücksichtigung der Wahlergebnisse zum Europäischen Parlament. Damit dürfte in Zukunft diejenige Partei den Kommissionspräsidenten stellen, die als stärkste Fraktion aus den Europawahlen hervorgeht.

Die Zahl der Kommissare wird ab 2009 auf 15 stimmberechtigte Mitglieder beschränkt. Zuzüglich benannt werden können bis zu 12 weitere Kommissare, die aber weder ein Portefeuille noch Stimmrecht im Kollegium haben. Sie sollen unterstützende Aufgaben übernehmen. Ob diese „halben Kommissare“ politisch und institutionell einen Sinn ergeben, ist fraglich. Allerdings ist weiterhin gewährleistet, dass jeder Mitgliedsstaat „seinen“ Kommissar hat.

Die Rolle des Europäischen Parlaments ist durch die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahren weiter gestärkt worden. Mit dem Verfassungsvertrag wird das Parlament zu einer vollwertigen Volksvertretung ausgebaut, die sich aus künftig 732 Abgeordneten zusammensetzten wird.

Gemeinsam mit dem Ministerrat werden die europäischen Volksvertreter als gleichberechtigte Gesetzgeber tätig werden. Das Parlament erfüllt ferner Aufgaben der politischen Kontrolle und Beratungsfunktion nach Maßgabe der Verfassung. Die wenigen zuletzt noch verbliebenen Bereiche der alleinigen Entscheidung des Ministerrats in der Gesetzgebung wurden somit fast vollständig aufgehoben. Des weiteren erhält das Europäische Parlament die Befugnis, den Präsidenten der Europäischen Kommission zu wählen.

Ein umfassendes Initiativrecht des Europäischen Parlaments konnte allerdings nicht durchgesetzt werden. Defizitär geblieben sind die Beschluss- und Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wie die Budgethoheit.

Flexibilität innerhalb des Verfassungsrahmens

Entscheidend für den Erfolg der europäischen Verfassung wird ihre Fähigkeit sein, Dynamik und Stabilität dauerhaft im Einklang zu halten. So muss die Europäische Union einerseits einen klar umrissenen Grundkonsens definieren, anderseits jedoch Neuerungen und institutionelle Anpassungen an veränderte Verhältnisse zulassen.

Die bereits in Amsterdam und Nizza eingeführten Grundlagen einer möglichen Flexibilität innerhalb des Vertragsrahmens sind nun erweitert worden. Eine verstärkte Zusammenarbeit von Staatengruppen innerhalb der Union in einzelnen Bereichen wird vertraglich geregelt sein. Darüber hinaus gibt es im Bereich der gemeinsamen Verteidigungspolitik zwei neue Differenzierungsmöglichkeiten im Rahmen der Zusammenarbeit: eine „strukturierte Zusammenarbeit“ und eine „engere Zusammenarbeit“. Während letztere im Angriffsfalls zur gegenseitigen Verteidigung eingesetzt wird, findet die strukturierten Zusammenarbeit bei Missionen jeglicher Art ihre Anwendung.

Der Textentwurf stellt auch sicher, dass die Verfassung nach ihrem Inkrafttreten verändert werden kann. In diesem Punkt sieht der Konventsentwurf vor, dass künftige Verfassungsreformen durch einen neu einberufenen Konvent erarbeitet werden müssen, die dann von allen Mitgliedsstaaten zu ratifiziert sind. Sollten hierbei Schwierigkeiten auftreten und nach einer Frist von zwei Jahren nur vier Fünftel der Mitgliedsstaaten die Änderungen unterzeichnet haben, wird der Europäische Rat mit dieser Frage befasst.

Mit Hilfe einer Flexibilitätsklausel kann die Union in den in Teil III festgelegten Politikbereichen ohne erforderliche Befugnis tätig werden, um eines der Ziele der Verfassung zu verwirklichen. Allerdings bedarf es dazu in Zukunft der Zustimmung des Europäischen Parlaments.

Historisch darf nicht übersehen werden, dass das Recht auf Austritt nun durch eine Austrittklausel in der Verfassung festgeschrieben wurde.

III. Vom Entwurf zur Realisierung

Bevor die Verfassung für die Bürger und Staaten der EU Geltung erlangt, muss sie noch eine Reihe von Etappen überstehen.

Der Konventspräsident, Valéry GISCARD D`ESTAING, übergab zunächst das Dokument am 18. Juli 2003 an die italienische Regierung, die derzeit die Ratpräsidentschaft der EU innehat.

Eine endgültige Entscheidung über den EU-Verfassungsentwurf wird die Regierungskonferenz am 4. Oktober diesen Jahres in Rom treffen. Im Rahmen dieser Arbeit sollte der Konventsentwurf als verbindliche Grundlage anerkannt und das Gesamtpaket nicht mehr aufgeschnürt werden.

Besonders wichtig ist der Italienischen Ratspräsidentschaft bei der Unterzeichnung der Verfassung die symbolträchtige Erinnerung an die Römischen Verträge von 1957. Daher ist geplant, die Unterzeichnung des Verfassungsvertrages auf dem Kapitol in Rom vorzunehmen, selbst, wenn die Ratspräsidentschaft im fraglichen Zeitraum (zwischen 1. Mai und Europawahl) dann schon wieder an die Iren übergegangen sein wird.

Anschließend soll der Verfassungsvertrag von allen 25 Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. In Kraft treten dürfte die europäische Verfassung frühestens 2006.

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