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"Der Türkei-Gipfel - Die Tagung des Europäischen Rates vom 16./17. Dezember 2004"

von Dr. Peter R. Weilemann †

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Der Türkei-Gipfel

Die Tagung des Europäischen Rates vom 16./17. Dezember 2004

Das letzte Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unter niederländischer Präsidentschaft war beherrscht von der – erwarteten – Entscheidung zugunsten einer Aufnahme von Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei. Sie bedeutetet eine historische Zäsur in der europäischen Integrationspolitik, angesichts der die anderen Themen der Gipfelagenda – Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien, Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien, Kampf gegen den Terrorismus, Finanzielle Vorausschau und außenpolitische Fragen - zurückstehen.

1. Türkei

Die erste Vorentscheidung verkündigte der Präsident des Europäischen Rates (ER), der niederländische Premierminister Peter Balkenende.

Kurz vor Mitternacht des ersten Verhandlungstages: Die 25 Staatschefs der EU „sagen ja zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei“. Die Verhandlungen sollen am 3. Oktober 2005 beginnen mit dem Ziel einer Mitgliedschaft. Sie seien allerdings ergebnisoffen, das heißt, ihr „Ausgang ist nicht garantiert“. Im Falle eines Scheiterns sollte der „Beitrittskandidat fest in den europäischen Strukturen verankert bleiben“. Ungeklärt zu diesem Zeitpunkt war noch das Zypernproblem und ob der türkische Premier das Angebot annehme.

Erdogan ließ sich Zeit. Es war nicht zu erwarten, dass er den griechischen Teil Zyperns sofort diplomatisch anerkennen würde. Doch er war noch nicht einmal willens, seine Absicht schriftlich zu fixieren bzw. seine Unterschrift unter ein Protokoll über die Ausdehnung des Zollabkommens mit der EU auf die neuen Mitgliedsstaaten zu setzen, was die EU als eine indirekte diplomatische Anerkennung interpretiert. Die türkische Delegation hatte auch erhebliche Schwierigkeiten mit dem sogenannten Verhandlungsrahmen, den der ER auf Empfehlung der Kommission beschloss. In den Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzenden wird unter anderem festgehalten, dass lange Übergangsfristen bzw. sogenannte permanente – d.h. jederzeit anwendbare – Sicherheitsklauseln in den Bereichen Freizügigkeit, Strukturpolitik und Landwirtschaft sowie temporäre „safeguards“ auf den Feldern Wettbewerb und Gemeinsamer Mark möglich sind. Außerdem können die finanziellen Aspekte der Beitrittsverhandlungen erst nach Festlegung der Finanziellen Vorausschau 2014 ff. abgeschlossen werden. Schließlich behält der ER sich das Recht vor, mit qualifizierter Mehrheit über die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen zu entscheiden, wenn schwerwiegende dauerhafte Verletzungen demokratischer oder rechtsstaatlicher Verfahren vorliegen.

Nach schwierigen Gesprächen, bei denen angeblich auch ein Scheitern des Gipfels auf dem Spiel stand, begnügten die 25 sich mit der Zusage Erdogans, das Protokoll zum sogenannten Ankara-Abkommen vor Aufnahme der Beitrittsverhandlungen zu unterschreiben. Wie viel die von der Kommission vorgeschlagenen Kautelen und die Zusage Erdogans wert sind, muss sich erst noch erweisen.

Der Zug von Ankara nach Brüssel hatte sich schon mit der Entscheidung von Helsinki 1999 in Bewegung gesetzt. Mit dem Angebot der Europäischen Union, mit den Verhandlungen über einen Beitritt zu beginnen, hat er beträchtlich an Fahrt aufgenommen und vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen im Umgang mit der Türkeifrage ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Verhandlungsprozess noch mehr an Momentum gewinnt und schwer zu stoppen sein wird.

Die Auseinandersetzung um den Türkei-Beitritt hatte seit November an Schärfe zugenommen. Doch bei den vorbereitenden Verhandlungen im Rat wurde rasch deutlich, dass außer Österreich, Dänemark, zeitweise Frankreich, sowie Zypern aufgrund seiner bekannten Vorbehalte, kein anderes Mitgliedsland ein Interesse daran hatte, den Lauf der Dinge noch einmal zu ändern. Auch die Verhandlungen im Europäischen Parlament über den Entwurf des Türkeiberichts des niederländischen Abgeordneten Camille Eurlings (EVP) und die anschließenden Abstimmungen belegten zwar, dass die deutsche und französische Gruppe nicht isoliert waren – immerhin erzielten ihre Änderungsanträge das vierfache ihrer Stärke –

doch die große Mehrheit der Parlamentarier votierte für die Aufnahme der Verhandlungen. Auch die Spitzen aller EU-Institutionen, allen voran die niederländische Präsidentschaft in Person ihres Außenministers, der Parlamentspräsident sowie der Kommissionspräsident sprachen sich für die Eröffnung von Verhandlungen mit Nennung eines Datums auf der Basis der Kommissionsempfehlung aus.

Selbst innerhalb des sogenannten EVP-Gipfels konnte die Option eines dritten Weges – privilegierte Partnerschaft –, für den insbesondere die deutsche Oppositionsführerin und französische und deutsche Parlamentarier der EVP-Fraktion sich eingesetzt hatten, nur verklausuliert als eine Rückfallposition festgeschrieben werden, sollte die Türkei selbst ihre Chance nicht wahrnehmen.

Art und Weise wie die bisherigen Türkeientscheidungen getroffen wurden verheißen nichts gutes für die Zukunft. Schon der Kommissionsbericht hatte erhebliche Defizite bei der Erfüllung der Kriterien konstatiert, das Parlament hat mit der Annahme des Eurlings-Berichts diese Mängel - Stichworte sind unter anderem: Minderheitenrechte, Religionsfreiheit, nicht-systematische Folter, Gewerkschaftsrechte, Frauenrechte, Rolle der Armee - bestätigt und weitere - Armenien -genannt. In der Frage der Anerkennung Zyperns, eines Mitgliedslandes der EU, konnte Erdogan seine ablehnende Haltung durchsetzen. Unthematisiert blieb auch, dass die Türkei einen Teil der Insel militärisch besetzt hält. Bei all diesen Fragen ist die Europäische Union bereit einen Wechsel auf die Zukunft auszustellen. Der Antragsteller reiste nicht nur mit einer Delegation von fast 150 Mitgliedern zum Gipfel an (Deutschland 20) sondern baute im Vorfeld eine Verhandlungskulisse auf, die nicht frei von Drohgebärden war.

Das Parlament hatte in seiner Entschließung deshalb empfohlen, die Verhandlungen mit einer Überprüfung der Erfüllung der politischen Kriterien zu beginnen. Auch die Möglichkeit die Verhandlungen auszusetzen, wenn Verletzungen der Menschenrechte festzustellen sind, werden dort explizit erwähnt. Präsident Chirac hat am Vorabend des Gipfels nochmals ausdrücklich das Veto-Recht eines jeden Mitgliedsstaates erwähnt und die Schlussfolgerungen des ER enthalten die genannten Sicherheitsklauseln. Die Anwendung dieses theoretisch möglichen Bremsens in der praktischen Politik des Verhandlungsprozesses zu einem späteren Zeitpunkt, dürfte von der Europäischen Union aber noch mehr Kraft und Willen erfordern als bei diesem Gipfel gezeigt.

2. Bulgarien, Rumänien und Kroatien

Der ER hat auf seiner Sitzung den Abschluss der Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien bestätigt und den Beitritt der Länder auf Januar 2007 terminiert.

Wie bei Nachkömmlingen die Eltern weniger strenge Maßstäbe in der Erziehung anlegen als bei den Erstgeborenen, so ist auch im Falle Bulgarien und Rumänien eine Lockerung im Umgang mit den Kriterien festzustellen. Insbesondere Rumänien hat erhebliche Defizite im Bereich Rechtsstaat, Korruption, Wettbewerb zu verzeichnen. Man hätte sich gewünscht, dass hier den Verantwortlichen – auch mit Blick auf spätere Präzedenzfälle – die rote Karte gezeigt worden wäre.

Umgekehrt gab es erhebliche Bemühungen, insbesondere von britischer, dänischer und niederländischer Seite, die Aufnahme von Betrittsverhandlungen mit Kroatien zu konditionieren. Gefordert wurde der Nachweis einer engen Zusammenarbeit mit dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, konkret die Ergreifung eines seit 2001 gesuchten kroatischen Kriegsverbrechers mit französischem Pass. Erst unter dieser Voraussetzung will der Rat dem notwendigen Verhandlungsrahmen und der Aufnahme von Verhandlungen zum 17. März zustimmen. Wer entscheidet ob diese Bedingung erfüllt ist lassen die Schlussfolgerungen offen. Es ist bedauerlich, dass der ER in dieser Frage sich nicht die unkonditionierte Formulierung zu Eigen gemacht hat, die auf dem vorgeschalteten EVP-Gipfel am Donnerstag gefunden wurde.

3. Finanzielle Vorausschau

Die Debatte um den Finanzrahmen der Europäischen Union 2007-2014 wird ein beherrschendes Thema der nächsten Monate, wahrscheinlicher der nächsten Jahre sein. Aus der mehr als vierseitigen Passage zu diesem Thema im niederländischen Entwurf für die Schlussfolgerungen sind nur mehr zwei Seiten stehen geblieben, die Prinzipien und Leitlinien wie Solidarität, Subsidiarität und Proportionalität, aber auch nationale Budgetdisziplin festschreiben. Der ER spricht sich allerdings dafür aus, möglichst noch unter Luxemburger Präsidentschaft zu einem Kompromiss zu kommen. Bemerkenswert ist auch die Aussage, dass der ER an dem Kommissionsvorschlag, die Höchstgrenze für Eigenmittel auf das derzeitige Niveau 1.24% des BIP der EU festhalten möchte. Das lässt vermuten, dass es erste Risse in der Koalition der sechs Nettozahler (Deutschland, Niederlande, Großbritannien, Schweden, Österreich, Finnland) gibt, die sich auf die 1% Marke (Anteil des EU-Budgets am BNP der gesamten Union) verschrieben haben. Gleichwohl erlaubt die Formulierung Limits unterhalb des Kommissionsniveaus. Die Frage des sogenannten Briten-Rabatts wurde allgemein angesprochen, ohne dass ein Lösungsweg erkennbar wäre. Eine Einigung bis Mitte des Jahres bleibt daher die optimistische Variante.

4. Außenpolitische Themen

Die Erklärungen zur Außenpolitik enthalten keine Überraschungen. Bei zweitem Hinsehen mit einer transatlantischen Brille scheint es aber bemerkenswert, dass der ER sehr kurzfristig UN-Generalsekretär Kofi Annan die Möglichkeit bot, seinen jüngsten Bericht über „Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ selbst zu erläutern und die knappen Aussagen zur „unersetzlichen transatlantischen Partnerschaft unter dem Kapitel „Arbeiten mit Partnern“ subsummiert sind, unmittelbar gefolgt von den Abschnitten über Russland, ASEM, China, Afrikanische Union.

Erfreulich sind die Unterstützung der Europäischen Verteidigungsagentur sowie die Aufforderung an den Hohen Beauftragten, die Kommission und die Mitgliedsstaaten, die Arbeiten zur Vorbereitung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes (External Action Service) fortzusetzen. Rat und Kommission sollen dazu bis Juni 2005 einen Bericht vorlegen.

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