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"Die Europäische Krise vom Sommer 2005"

von Dr. Peter R. Weilemann †

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Die Europäische Krise vom Sommer 2005

Die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses ist gekennzeichnet durch Fortschritte und Rückschläge, Krisen und neue Impulse. Aber in der Bilanz ist sie, sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, eine Erfolgsgeschichte die ihresgleichen sucht. Im Frühjahr des Jahres 2005 schien sie auf einem neuen Höhepunkt zuzusteuern. Die Wiedervereinigung Europas durch die Aufnahme der ehemals kommunistisch beherrschten Länder in die Europäische Union war formal fast vollzogen. Und eine Europäische Verfassung, ausgearbeitet von einem Konvent, war zum Greifen nahe, nachdem der Ratifikationsprozess in den ersten Mitgliedstaaten erfolgreich begonnen hatte. Doch zu Beginn des Sommers sah die Welt auf einmal ganz anders aus. Erfahrene Beobachter sprachen von der „tiefsten Krise“ der Europäischen Union seit langem. Doch wie tief ist die Krise wirklich, was sind ihre Ursachen und was ist zu tun ?

I. Die Krise

1. Die Botschaften der Verfassungsreferenden

Auslöser der Krise war das Scheitern von Volksbefragungen zum Verfassungsvertrag in zwei Gründungsstaaten der heutigen Europäischen Union: Am 29. Mai sprachen sich 55 Prozent der französischen Staatsbürger in einem Referendum gegen die Annahme einer Verfassung aus. Wenige Tage später stimmten die Niederländer bei einer bemerkenswert hohen Wahlbeteiligung mit einer noch deutlicheren Mehrheit von 62 Prozent gegen den Vertrag. Für die Beobachter der aktuellen Diskussion in beiden Ländern in den Wochen und Monaten vor den Referenden kamen die Ergebnisse nicht überraschend. Am Tage der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages durch die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im Herbst 2004 in Rom dürften jedoch nur eine Handvoll Pessimisten eine solche Wende vorausgesehen haben. Es war klar, dass der Ratifizierungsprozess, nach Abschluss der mühsamen und zeitweise ebenfalls vom Scheitern bedrohten Vertragsverhandlungen in der Regierungskonferenz, nicht einfach werden würde. Als unsichere Kandidaten aber galten andere Länder wie Großbritannien mit seiner bekannt euroskeptischen Öffentlichkeit, Polen, mit starken, explizit europafeindlichen Parteien oder auch die Tschechische Republik, wo der Staatspräsident selbst ständig kräftig Stimmung gegen Europa macht. Die Tatsache, dass nun aber Franzosen und Niederländer mit Nein stimmten, wiegt deshalb umso schwerer.

Die Gründe und Motivationslagen für das Nein in Frankreich und den Niederlanden sind sicherlich unterschiedlich akzentuiert. So spielte zum Beispiel die Unzufriedenheit der Franzosen mit ihrem Staatspräsidenten eine viel größere Rolle bei der Entscheidung als in den Niederlanden, wo die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auch nach dem Referendum der Meinung war, die Regierung Balkenende solle weiter im Amt bleiben. Für die Niederländer, die pro Kopf der größte Nettozahler in der Europäischen Union sind, war dieses finanzielle Argument zusammen mit der Unzufriedenheit über die empfundene Teuerung der Lebenshaltung durch die Einführung des Euro ein weit gewichtigerer Faktor als für ihre südlichen Nachbarn. Dort wiederum war der Anteil der Souveränisten, die den europäischen Einigungsgedanken grundsätzlich ablehnen, weit höher als im Land hinter den Deichen, wo selbst weite Teile der Verfassungsgegner sich nach wie vor zur Idee der Europäischen Integration bekennen. Gleichwohl gibt es in beiden Fällen gemeinsame Nenner, aus denen eine klare Botschaft abzulesen ist. Dabei ging es weniger um den Vertrag und seine Ausgestaltung selbst, auch wenn er in Frankreich vor allem detailliert diskutiert wurde und einzelne Artikel zum Stein des Anstoßes werden konnten. Es ging, wie Parlamentspräsident Borrell formulierte, nicht um den Text sondern um den Kontext. Entscheidend war die euroskeptische Grundstimmung. Dass die Europäische Union in der Vergangenheit den Frieden des einstmals sich selbstzerfleischenden Kontinents gesichert hat und sichert, wird als eher selbstverständliche Errungenschaft „konsumiert“. Die Bürger fühlen sich an der Europäischen Politik ungenügend, wenn überhaupt, beteiligt. Vor allem aber liefert diese Union für sie keine Antwort auf die heute drängenden Fragen: Die Sorge um mehr Wachstum und Arbeitsplätze, die Sorge um nationale Identität und Integrität der eigenen Gesellschaft angesichts der Globalisierung und scheinbar unbegrenzter Erweiterung der Union selbst.

2. Die Lehren des Gipfels

Unter dem Eindruck der desaströsen Ergebnisse der Referenden und ihrer Botschaften suchte die amtierende Luxemburgische Präsidentschaft den nur zwei Wochen später geplanten Gipfel der Staats- und Regierungschefs zu einem Signal für Aufbruch und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu machen. Es lag auf der Hand, dass der Europäische Rat zum Fortgang des Ratifizierungsverfahrens Stellung beziehen und Maßnahmen vorschlagen musste. Seit langem stand auf der Tagesordnung für dieses Treffen auch das schwierige Dossier Finanzielle Vorausschau 2007-2013. Jean Claude Juncker, der Vorsitzende der Präsidentschaft und erfahrener Europäer, gab nun die Parole aus, dass eine Einigung in dieser Frage, Europa aus der Krise herausführen könne.

In der Frage des weiteren Schicksals des Verfassungsvertrages, dem Auslöser der Krise, hatten sich die Staats- und Regierungschefs am ersten Verhandlungstag schnell verständigt. „Es gibt keine Alternative zum vorliegenden Verfassungsvertrag – Der Ratifikationsprozess braucht mehr Zeit – Plan D soll es richten“. So lauteten die Schlüsselelemente ihrer „Strategie“ zur Rettung des Vertrages. Es gibt keinen besseren. Er ist die Lösung und nicht das Problem. Das Problem vielmehr sei, dass noch nicht jeder Europäer dies richtig verstanden habe und einige Länder bei einem Referendum die Gefahr eines negativen Votums liefen. Deshalb solle der ursprünglich avisierte Termin für den Abschluss des Ratifikationsverfahrens, der 1. November 2006, auf unbestimmte Frist verschoben werden um Zeit für eine Denkpause zu haben. Wie lange diese dauere blieb offen, Mitte 2007 könnte man soweit sein, schätzte der Präsident. Unter österreichischer Präsidentschaft (1. Halbjahr 2006) solle der Stand der Diskussion überprüft werden. Den Ländern stehe es allerdings offen, souverän und autonom über den Zeitpunkt des Referendums zu entscheiden. Auch könne, wer wolle, das parlamentarische Ratifizierungsverfahren weiter fortsetzen.

Die klare Absage an ein Nachverhandeln oder gar Fallenlassen des Verfassungstextes kam nicht überraschend, trotz vieler Ideen im politischen Umfeld, wie Teile des Vertrages ohne Ratifikation zu retten seien, neue Gremien dem Vorhaben neue Legitimation verleihen könnten etc. Die Entscheidung für eine Pause allerdings war keineswegs unumstritten im Kreise der Regierungschefs. Die meisten hatten sich noch bis kurz vor dem Gipfel für eine Fortsetzung des Ratifizierungsverfahrens ausgesprochen. Nach Auffassung von Beobachtern kam die Initiative für den Schwenk von luxemburgischer Seite. Nach längerer Diskussion hatte sie sich auch der EVP-Gipfel zu Eigen gemacht. Am Ende erwies sich die Entscheidung als geglückter Kunstgriff, der alle Optionen offen ließ.

Weniger Erfolg war der luxemburgischen Präsidentschaft mit dem zweiten Thema beschieden. Wie in der Vergangenheit hatte die Europäische Union mit zeitigem Vorlauf begonnen, sich auf einen Finanzrahmen für die Jahre 2007-2013 zu verständigen. Damit soll Planungssicherheit gegeben werden um den künftigen internen und externen Herausforderungen begegnen zu können. Noch die alte Kommission Prodi hatte im Frühjahr 2004 einen ersten Haushaltsentwurf vorgelegt, der ein Gesamtvolumen der Bewilligungen über sieben Jahre von rund Euro1022 Mrd. vorsah und die Aufgabenfelder der Union in fünf Rubriken neu zusammenfasste: 1.Wettbewerbfähigkeit im Dienste von a)Wachstum und Beschäftigung - und b) Kohäsion im Dienste von Wachstum und Beschäftigung; 2. Nachhaltige Bewirtschaftung und Schutz der natürlichen Ressourcen - im Klartext Landwirtschaft -; 3. a) Freiheit, Sicherheit und Recht b) Andere interne Politikbereiche; 4. Die EU als globaler Partner; 5. Verwaltung. Dieses Ausgabevolumen, das ungefähr 1.24 Prozent des gesamten Bruttoinlandsproduktes der Europäischen Union (BNE) entsprach, war sofort auf Ablehnung der sechs sogenannten Nettozahler (Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweden, Niederlande und Großbritannien) gestoßen, die in einem gemeinsamen Schreiben mitgeteilt hatten, die Ausgaben dürften 1 Prozentpunkt des BNE nicht überschreiten. Das neu gewählte Parlament hatte im Herbst 2004 einen nichtständigen Ausschuss eingesetzt und dessen Empfehlungen im sogenannten Böge-Bericht mit einem Gesamtvolumen entsprechend 1.18 Prozent des BNE kurz vor dem Gipfel mit großer Mehrheit angenommen.

Angesichts dieser erheblichen Differenzen schon bei den globalen Kennziffern wurden die Chancen, unter Luxemburgischer Präsidentschaft zu einer Einigung zu kommen, allgemein als gering eingeschätzt. Warum die Präsidentschaft nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden eine Chance sah doch noch zu einem Abschluss zu kommen und damit Handlungsfähigkeit der EU zu demonstrieren bleibt ihr Geheimnis, auch wenn es gut gemeint war. Ihre Vorbereitung des Gipfels in dieser Frage war gut und ihre Verhandlungsführung war so, dass Juncker zu Recht sagen konnte, dass am Schluss die Differenzen minimal gewesen seien.

Über die Gesamthöhe der Ausgaben - nunmehr bei rund 1.06 Prozent - wie auch die Ausstattung der einzelnen Titel (Rubrik la Euro 61.8Mrd; Rubrik 1b Euro 306,5 Mrd.; Rubrik 2 Euro 377,8 Mrd.; Rubrik 3a Euro 6,6 Mrd.; Rubrik 3b Euro 11,0 Mrd.; Rubrik 4 Euro 50,0 Mrd.; Rubrik 5 Euro 50,3 Mrd.) schien weitgehender Konsens zu herrschen, nachdem die Sechser-Koalition, wie vorausgesagt, auseinandergebrochen war. Doch noch blieb das Problem der sogenannten Eigenmittel zu lösen. Die Einnahmen der Union setzen sich aus Abgaben und Zöllen, Beiträgen der Mitgliedsstaaten gemäß Wirtschaftskraft und Abgaben aus den nationalen Mehrwertsteueraufkommen zusammen. Einige Staaten zahlen deshalb mehr in die EU-Kasse ein, als sie als Rückflüsse erhalten. Zum Ausgleich dieser Diskrepanz hatte Großbritannien 1984 in Fontainebleau einen Korrekturmechanismus (AKM) durchgesetzt, der im Prinzip für alle betroffenen Staaten gelten konnte, aber nur London zugebilligt wurde, der sogenannte Britenrabatt. Was damals gerechtfertigt schien ist heute allen anderen Mitgliedstaaten ein Dorn im Auge. Zudem wollten Schweden und die Niederlande, Nettozahler mit den höchsten Pro-Kopfanteilen, dass auch sie eine Entlastung bei ihren Beitragszahlungen erhielten; die deutsche Bundesregierung hatte sich schon vorher kompromissbereit gezeigt. Im Laufe der Verhandlungen schlug die Luxemburgische Präsidentschaft vor, dass der Britenrabatt auf dem Niveau von 2006, was einer Festschreibung auf rund Euro 5 Mrd. statt künftig 8 Mrd. entsprochen hätte, eingefroren werden sollte. Den Niederländern wurden Nachlässe auf die Beiträge bis über Euro 700 Mio. angeboten.

Doch Blair, Balkenende und Persson lehnten ab. Im Grunde ging es nicht mehr um Zahlen. Der Britenrabatt ist angesichts der geänderten wirtschaftlichen Lage sicherlich nicht mehr haltbar. Aber für London, dem der extrem hohe Anteil der Landwirtschaft von rund 40 Prozent ein Ärgernis ist, sollte er einmal der Hebel in eine Reform der Ausgabenstruktur der Europäischen Union insgesamt sein. Zukunftsinvestitionen statt Subventionen, lautet das Sach-Argument, das von vielen geteilt wird; selbst der Böge-Bericht signalisiert, dass das Parlament sich einen Einstieg in die Kofinanzierung der Agrarausgaben vorstellen könne. Zum anderen wurde die Debatte über den Haushalt zum Forum, politische Rechnungen zu begleichen und den Kampf um Meinungsführerschaft zu Hause wie in der Europäischen Union auszutragen.

Es waren Deutschland und Frankreich, die sich 2002 auf die Festschreibung des hohen Agraranteils von rund 40 Prozent am EU-Haushalt verständigt hatten. Sie, die alten Rivalen aus dem Irakkonflikt, betrieben nun alles den britischen Premier weiter zu „outen“. Warum sollte der den beiden, nur noch auf Abruf amtierenden Politikern, nachgeben, ohne Punkte für die noch anstehende Europadebatte zu Hause zu holen ? Jan Peter Balkenende, der das heimische „Nee“ zur Verfassung gerade auch als ein Nein zu den hohen Nettozahlungen der Niederlande und als Vorwurf der Schwäche gegenüber Brüssel interpretieren musste, hatte angesichts der Koalitionslage zu Hause kaum eine andere Wahl. Auch den schwedischen Premier, der ja die Verfassung ratifizieren möchte, hätte ein Finanzkompromiss zu seinen Lasten zu Hause nicht populärer gemacht.

Das Projekt einer europäischen Verfassung schien somit vorerst gerettet. Der erhoffte erste Befreiungsschlag in Form einer Einigung über die künftige Mittelausstattung und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union aber war gescheitert.

Der Präsident des Europäischen Rates bewertete das Scheitern als Ausdruck einer tiefen Krise Europas und gab, wie Bundeskanzler Schröder und andere Regierungschefs, die Schuld an der fehlenden Einigung vor allem dem britischen Premier Blair. Von der Sache her ist das Scheitern der Budgetverhandlungen weniger dramatisch. Die haushaltstechnisch relevante Deadline ist der Frühsommer 2006 und theoretisch kann die Europäische Union auch mit jährlichen Budgets leben, wenn auch sicherlich schlechter. Die Krise wird bereits die Beratungen des Etats 2006 beeinflussen. Andererseits ließen einige Mitgliedstaaten wie auch die Kommission Erleichterung erkennen, denn nicht alle waren mit den Ausgabenprioritäten im Luxemburger Kompromissvorschlag zufrieden. Ebenso hatte sich schon das Parlament zu Wort gemeldet, um seine Forderungen durchzusetzen, die einerseits Machtanspruch und höhere Ausgaben implizieren. Vor allem aber sucht es den Hebel zu nutzen, qualitative Veränderungen, wie eine Reform der Haushaltsordnung und der Entbürokratisierung der Mittelvergabe, durchzusetzen.

Der Kern der Krise hat zuerst mit Problemen der handelnden Akteure zu tun. Die öffentlichen Schuldzuweisungen, das „Nachtreten“ nach dem Spiel, belegen, dass nicht nur die Chemie zwischen maßgebenden Regierungschefs nicht mehr stimmt. Sie sind auch Ausdruck einer schon seit längerem evidenten Führungskrise. Selten waren zentrale Akteure auf einem Gipfel politisch so angeschlagen. Der französische Staatspräsident hatte die blamable Niederlage beim Referendum im Gepäck. Der deutsche Bundeskanzler hatte kurz zuvor eingestehen müssen, dass er mit seiner Politik gescheitert sei und Neuwahlen wolle. Blair hatte seine Wahl wenige Wochen vorher zwar gewonnen, aber mit erheblichen Blessuren und den Königsmördern im Nacken. Der niederländische Premier, auch er nicht in der Lage, eine Mehrheit für die Verfassung hinter sich z u scharen, kämpfte während der Tagung mit mehreren Koalitionsbränden zu Hause. Selbst der Präsident des Europäischen Rates hatte, indem er sein Schicksal als Ministerpräsident mit dem Ausgang des Referendums in Luxemburg verknüpft hat, seinen eigenen Manövrierraum beeinträchtigt. Nach außen hin aber stellte er nun das Scheitern als Schicksalsfrage dar. Es gehe jetzt um die grundsätzliche Entscheidung zwischen einer Politischen Union und einer Freihandelszone und um die Zukunft des europäischen Gesellschaftsmodells, beschwor Juncker in einer emotionalen Rede zum Abschluss seiner Präsidentschaft die Europaparlamentarier. Keineswegs, erwiderte Premierminister Toni Blair tags darauf zum Amtsantritt der britischen Präsidentschaft vor dem selben Auditorium. Auch er wolle ein politisch geeintes und handlungsstarkes Europa und keine Freihandelszone. Aber die Europäische Union brauche einen „reality check“, sie müsse sich fragen, ob angesichts von zwanzig Millionen Arbeitslosen ihr Sozialmodell noch richtig sei. Wurde Juncker mit stehenden Ovationen vor seiner Rede empfangen, so wurde Blair in ähnlicher Weise nach seiner Rede verabschiedet. Die Parameter der künftigen Debatte waren somit gesetzt.

II. Die Krise als Chance

In einem Schreiben an die Präsidenten von Parlament, Rat und Kommission nach dem Gipfel, mahnte der Vorsitzende der stärksten Fraktion im Europäischen Parlament, Hans-Gert Pöttering, wie schon so oft in der Vergangenheit müsse Europa auch dieses Mal aus der Krise gestärkt hervorgehen. In diesem Sinne sei sie auch Chance. Sie zu nutzen dazu bekennt sich fast jeder. Doch wie, darüber muss ein Konsens sich erst herausbilden. Fasst man die derzeitigen Überlegungen in Brüssel zum weiteren Fortgang zusammen, so stehen zwei Schlüsselbegriff im Vordergrund: Konsolidierung und Reform. Konsolidierung des bisher Erreichten im Europäischen Einigungsprozess und Reform der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen in der Europäischen Union.

1. Konsolidierung

Unter dem Stichwort Konsolidierung stellen sich vorrangig zwei unterschiedliche Fragen, die im Kern doch eng miteinander verbunden sind. Wie ist das, was an Fortschritten mit dem Verfassungsvertrag erreicht wurde, zu retten? Und wo sind die Grenzen der Europäischen Union?

a) Verfassung und Denkpause

Über die Art und Weise und mit welchem Ergebnis die sogenannte Denkpause genutzt werden soll, was unter „Plan D“ zu verstehen ist, gibt es auch Wochen nach dem Gipfel noch ebenso wenig detaillierte Überlegungen wie feste Vorstellungen über das weitere Schicksal des Verfassungsvertrages.

Der sogenannte Plan D (Dialog, Debatte, Demokratie) war von Kommissionspräsident Barroso einige Tage vor dem Gipfel in die Diskussion gebracht worden. Der Europäische Rat griff die Idee auf. Ausgangspunkt, so Juncker damals, sei die Überlegung, dass nicht über den Vertrag abgestimmt worden sei, sondern über das europäische Umfeld. Man müsse sich dem Bürger intensiver öffnen als früher. Ihm schwebte wohl eine Art gesamteuropäisches Brainstorming von Rat, Parlament, Kommission und Zivilgesellschaft vor. Auch Kommissionspräsident Barroso griff in diese Kiste; es gäbe Probleme und Ängste denen man sich nicht verschließen dürfe. In späteren Äußerungen sprach er von gründlichem Nachdenken und kündigte an, die Kommission werde im Oktober ein Dokument präsentieren, das den „Ausgangspunkt für einen neuen dynamischen Konsens über Europa“ bilden soll. Parlamentspräsident Borrell sah zu Recht eine große Chance und Aufgabe für das Europäische Parlament; genauere Perspektiven zeichnen sich aber auch hier noch nicht ab. Der Verfassungsausschuss diskutierte die Frage Ende Juli und setzte zwei Berichterstatter ein, den Österreicher Johannes Voggenhuber (Grüne) und den Briten Andrew Duff (Liberale). Die EVP (Partei) setzte eine Kommission ein, die bis zum Kongress in Rom im März 2006 (!) Vorschläge erarbeiten soll. Auch aus den nationalen Hauptstädten waren keine Impulse zu hören. Die britische Präsidentschaft kündigte für Ende Oktober einen Sondergipfel an. Aus den anderen nationalen Hauptstädten waren nur schwache Impulse zu hören.

Wenn auch noch nicht geklärt ist, wie die Pause genutzt wird, so ist doch klar wem sie nutzt. Vor allem den sieben Ländern, die sich zu einer Volksabstimmung über den Vertrag entschieden hatten. Dänemark, Portugal, Tschechische Republik, Irland, Polen, England machten sofort von der Möglichkeit Gebrauch, ihre Pläne für ein Referendum vorerst auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Finnland, Schweden und die Tschechische Republik haben das parlamentarische Ratifizierungsverfahren ausgesetzt. Überraschenderweise hatte sich dagegen das Luxemburgische Parlament für ein Festhalten an der geplanten Volksbefragung entschieden. Am 10. Juli 2005 stimmte eine große Mehrheit von 56 Prozent der wahlberechtigten Luxemburger für den Verfassungsvertrag. Damit kann man zwar nicht von einer Trendwende sprechen - mit einer Tasse Tee für den kranken Patienten verglich der Luxemburgische Außenminister das Ergebnis. Aber die dem Plan einer Denkpause inhärente Chance, eine kritische Masse zu Gunsten der Verfassung aufzubauen, wurde verbessert. Von der Öffentlichkeit wenig bemerkt hatte bereits ein Tag nach dem niederländischen Referendum das lettische Parlament mit einer Mehrheit von über zwei Dritteln der Stimmen den Vertrag ratifiziert. Wenige Tage später folgten Zypern und Malta. In Belgien, wo aufgrund der föderalen Besonderheiten alle sieben Parlamente (Bund, Gemeinschaft, Region) ratifizieren müssen, fehlt nur noch das Votum des flämischen Parlamentes und der Wallonen, das aber als sicher gilt. Somit hat eine Mehrheit von 13 Staaten (ohne Belgien) und numerisch auch der Bevölkerung (227 Millionen) der EU dem Verfassungsprojekt zugestimmt. Das in einem Zusatzprotokoll zum Vertrag genannte Quorum 20 Staaten, welches den Weg zu einer Nachverhandlung eröffnet, ist damit noch keineswegs erreicht. Und natürlich bedeutet diese Rahmenverbesserung zugunsten des Vertrages noch keine Lösung, wie das Votum der Franzosen und Niederländer zu korrigieren ist - durch ein neues europaweites Referendum, wie der österreichische Bundeskanzler Schüssel es anregt? Im Kontext der französischen Präsidentschaftswahlen oder niederländischen Parlamentswahlen 2007? In Verbindung mit den Europawahlen 2009? etc. Die Frage nach dem weiteren Schicksal des Vertrages als solchem ist weiterhin offen.

Grundsätzlich bieten sich im weiteren Umgang mit der Verfassung vier Optionen. Am einen Ende des Spektrums steht die Losung, die Verfassung ist tot, am anderen die Hoffnung, dass das Projekt unverändert gerettet werden kann. Zwischen diesen Polen liegen die Überlegungen, nur Teile des Vertrages zur Abstimmung zu bringen oder einzelnen Bestimmungen in ihrem Inhalt ohne primärrechtliche Grundlagen zu praktizieren. Dass keiner der amtierenden Entscheidungsträger der Europäischen Union - nationale Regierungen wie Kommission und Parlament - das Verfassungsprojekt aufgeben möchte, ergibt sich aus den Äußerungen und gefassten Beschlüssen, auch wenn Verfassungsgegner und Antieuropäer Morgenluft wittern. Anderseits ist nicht vorstellbar, dass der Vertrag so wie er ist, nochmals den Niederländern und Franzosen zur Abstimmung vorgelegt werden könnte. Der französische Staatspräsident hat dies ebenso kategorisch ausgeschlossen wie der niederländische Ministerpräsident. Die Überlegungen konzentrieren sich deshalb auf die beiden mittleren Optionen, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern sogar ergänzen können. Die Idee, dass Bestimmungen des Vertrages gewissermaßen schon im Vorgriff angewendet werden, ist keineswegs Ausfluss der derzeitigen Krise sondern zum Teil schon Praxis. Viele führende Politiker, darunter der britische und französische Außenminister, verfolgen sie nun weiter. Jack Straw sprach z.B. von der Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente oder dem Rotationsverfahren bei der Präsidentschaft. Andere haben die Außenpolitik im Auge. Ein verbindlicher Konsens in der Frage, welche Bereiche man auswählt, welche Bestimmungen man vorantreiben möchte, ist derzeit nur schwer erkennbar. Der deutsche Europaabgeordnete Würmeling, Mitglied des Konvents, kommt in einer ersten Analyse zu dem Schluss, dass bis auf wenige Ausnahmen, die Neuregelungen des Vertrages über Auslegung von Primär- und Sekundärrecht, das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit, Änderungen der Geschäftsordnung und interinstitutionelle und außervertragliche Abkommen, in Kraft gesetzt werden könnten. Zu den „Ausnahmen“ gehörten Punkte wie Zusammensetzung und Rolle der Organe der EU, die Regelung von Mehrheitsentscheidungen, die Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union oder auch das erstmals verankerte Recht auf Austritt aus der Union. Ungeachtet geäußerter und zu erwartender unterschiedlicher Rechtsauffassungen zu dieser Interpretation im einzelnen bietet ein entsprechendes Vorgehen sicherlich einen Weg, Stillstand zu vermeiden und Defizite des Nizzavertrages zu beheben. Ohne die Perspektive eines Verfassungsvertrages aber bliebe es Makulatur. Einen Ersatz bietet es nicht. Es könnte sogar kontraproduktiv sein. Das Herauslösen einzelner Elemente schnürt das gesamte, mühsam austarierte Verhandlungspaket wieder auf, zu Lasten der inneren Balance politischer Kompromisse. Auch deshalb sind Vorschläge eine Gruppe von Weisen einzusetzen, oder durch einen - diesmal - gewählten Konvent einen anderen Text zu erarbeiten, nicht sehr weiterführend, zumal aus den gescheiterten Referenden keine klaren, sondern eher widersprüchliche Botschaften, die in konkrete Vertragsänderungen umzusetzen wären, abzulesen sind. Bleibt als letzte Option, an den in den Teilen I (Aufgaben, Institutionen, Entscheidungsverfahren) und II (Charta der Grundrechte) des derzeitigen Vertragstextes festgelegten Kernelementen festzuhalten. Es wäre denkbar, diese Teile auch dort noch einmal zur Abstimmung vorzulegen, wo der Gesamttext gescheitert ist. Gelingen dürfte dies allerdings nur wenn sich die politischen Rahmenbedingungen erheblich verbessern. Doch selbst dann bleiben Unwägbarkeiten.

Die Rettungsoperation des Verfassungsprojektes mutet schon etwas seltsam an. Nicht der Patient wird behandelt, denn er gilt als gesund, sondern das Umfeld in dem er leben soll. Die große Gefahr dieses Vorgehens liegt darin, dass trotz aller Bekenntnisse zum „Kein Weiter so“, die Europäische Union in die klassische Informationsstrategie der Infobroschüren und/oder des Internetdialogs verfällt. Schon in der nächtlichen Pressekonferenz der drei Präsidenten beim Krisengipfel konnte man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass Diagnose wie Therapie zerredet werden. Was dann im Sommer dazu aus der zuständigen Generaldirektion an die Öffentlichkeit drang, vertreibt solche Sorgen nicht. Eine Kommunikationsstrategie à la Wallström - der zuständigen Kommissarin - wird nicht reichen. Der Umschwung kommt nicht durch Aufklärung allein. Voraussetzung für den Erfolg ist die Substanz europäischer Politik. Der Bürger muss die Änderung fühlen, die EU „materiell“ liefern. Der Umgang mit der Erweiterung könnte ein erstes Testfeld sein.

b) Grenzen der Erweiterung

Ungeachtet des Diskussionsverlaufs der Tagung des Europäischen Rates - nur Präsident Chirac soll das Thema kurz angesprochen haben - besteht weitgehend Konsens, dass das Tempo der Erweiterung und insbesondere die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, bei aller unterschiedlicher Motivation in Frankreich und den Niederlanden, wesentlich ausschlaggebend war für das negative Votum in diesen beiden Ländern wie für das wachsende Unbehagen mit der Einigungspolitik in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung allgemein. Der Europäische Rat hatte sich auf dem Gipfel jedoch nicht zu klaren Konsequenzen entscheiden können und die Kommission folgte.

Es stand zu erwarten, dass nach Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit Rumänien und Bulgarien im April diesen Jahres und vorher versäumten Chancen die Entwicklungen zu korrigieren, der Gipfel jetzt keine Kehrtwende einleiten würde. Folgerichtig beschloss er, dass diese Länder nun als aktive Beobachter an den Beratungen des Europäischen Rates, des Rates und seiner Vorbereitungsgremien teilnehmen werden. Das Parlament hat auf seiner letzten Plenarsitzung vor der Sommerpause eine analoge Entscheidung getroffen, nachdem der Parlamentspräsident im Alleingang seine Amtskollegen in Sofia und Bukarest eingeladen hatte, ab dem 26. September Beobachter - 35 von rumänischer und 18 von bulgarischer Seite - nach Straßburg zu entsenden. Der Versuch einiger Parlamentarier diese Entscheidung zumindest bis nach dem Fortschrittsbericht der Kommission im Herbst 2005 zu verschieben, scheiterte mit großer Mehrheit. Natürlich bleibt als letzte große Hürde noch die nationalen Ratifizierungsverfahren.

In der Kroatienfrage hatten die Außenminister schon vor dem Gipfel festgestellt, dass die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen - zufriedenstellende Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal - noch nicht erfüllt seien. In den Schlussfolgerungen wurde Kroatien namentlich gar nicht mehr erwähnt. Statt dessen wurde darauf hingewiesen, dass „die Zusammenarbeit aller Länder der Region mit dem ICTY (dem Haager Jugoslawientribunal) eine wesentliche Voraussetzung für ihre weitere Annäherung an die EU bleibt“. Das Bekenntnis des Europäischen Rates zur vollständigen Umsetzung der Agenda von Thessaloniki, welche den Ländern des Westbalkan eine Beitrittsperspektive eröffnet, wurde zwar - systematisch bezeichnend - in das Kapitel Außenbeziehungen zwischen die Passagen zur UN-Politik und zur Neuen Nachbarschaft gepackt. Doch an der Substanz ändert dies nichts.

Auch in der Türkeifrage scheint die Mehrheit der Entscheidungsträger in der Europäischen Union nicht bereit noch einmal innezuhalten. Entgegen der ursprünglichen Absicht nahm der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen noch einmal Bezug auf den Dezember-Gipfel 2004, der grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gegeben hatte, und unterstrich die Notwendigkeit die damaligen Entscheidungen vollständig umzusetzen. Auf dem EVP-Gipfel zuvor hatte man sich verständigt, dass der Verhandlungsrahmen nochmals enger - Aufnahme des Begriffes Privilegierte Partnerschaft - präzisiert werden sollte. Doch dieser Anlauf scheiterte ebenso wie frühere. Auch die Kommission entschied sich, nach einer kurzen aber heftigen Debatte, diese Option nicht in ihren ansonsten restriktiven Entwurf für das Verhandlungsmandat aufzunehmen. Zwar muss dieses noch vom Rat verabschiedet werden. Inhaltlich dürfte sich allerdings wenig ändern. Nur der Zeitpunkt der Befassung wird in Abhängigkeit des diplomatischen Spiels zwischen Ankara und Brüssel lange offen bleiben. Noch immer hat die türkische Seite, trotz beteuernder Zusagen, das Protokoll mit der EU über die Einbeziehung der neuen Mitgliedsländer nicht unterzeichnetet. Dies aber ist Vorraussetzung für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, da es nach Auffassung Brüssels - Ankara will dieser Interpretation in einem Schreiben widersprechen - implizit auch die Anerkennung des EU-Mitgliedes Zypern bedeutet. Gleichwohl sind die britische Präsidentschaft wie auch Erweiterungskommissar Olli Rehn fest entschlossen, die Verhandlungen wie geplant am 3. Oktober zu beginnen.

Wie viel Spielraum der Europäischen Union in der Erweiterungsfrage überhaupt bleibt gehört zu den schwierigsten Fragen der nächsten Zeit. Die Aussage der sechs Staatspräsidenten aus Deutschland, Finnland, Italien, Lettland, Österreich, Polen und Portugal in einem gemeinsamen Zeitungsartikel: Pacta sunt servanda wird sicherlich über den Kreis dieser Länder hinaus geteilt. Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens ist, wenn überhaupt, nur noch eine Frage der Zeit. Gleichwohl könnten ein ungeschminkter Fortschrittsbericht und entsprechende Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten hier wichtige Signale setzen. Die instabile politische wie wirtschaftliche Lage im westlichen Balkan mit seinen ungeklärten Statusfragen verschaffen so gesehen etwas Luft, als realistischerweise - mit Ausnahme Kroatiens - kein Land innerhalb der nächsten Dekade Beitrittsreife erreicht. Dies klar gegenüber den Verantwortlichen auszusprechen ist eine Notwendigkeit. Die Beitrittsperspektive selbst in Frage stellen aber kann zu Recht keiner. Das Schlüsselproblem bleibt die Türkei. Einmal mehr zeigt sich, dass der Beschluss von Helsinki einer der größten strategischen Fehler der Europäischen Union war, ungeachtet der berechtigten Zweifel an der politischen und wirtschaftlichen Integrationsreife der Türkei. Die Sorge, dass die Belastung der Integrationskraft für die Europäische Union - das vierte Kopenhagener Kriterium - zu schwer sein dürfte, bewahrheitete sich in den Referenden mit großer Deutlichkeit. Ebenso bestätigt sich die Vermutung, dass der erhoffte strategische Gewinn viel zu gering ist. Eine stabilisierende Rolle des außenpolitischen Handelns Ankaras auf die Region oder Ausstrahlung in die islamische Welt ist schwer erkennbar. Jetzt hat die Entscheidung den Handlungsspielraum der Union eingegrenzt, gerade in der Erweiterungsfrage. Indirekt ist Kroatien ein erstes Opfer der neuen Erweiterungsdebatte. Das unter osteuropäischem Druck sich aufbauende Thema Ukraine, kann vor diesem Hintergrund nicht mehr mit der notwendigen Unbefangenheit erörtert werden. Ausgeblendet aus der derzeitigen Debatte, werden zudem die Länder, deren Mitgliedschaft - so sie denn wollen - unumgänglich ist, wie zum Beispiel Norwegen.

Eine Europäische Union die ihre Grenzen nicht definiert, verliert ihre Glaubwürdigkeit und ihre Orientierung. Diese Grenzen bestimmen sich durch Raum, Geschichte, gemeinsame Wertebasis, aber auch die eigene Integrationsfähigkeit der Europäischen Union. Wo diese Kriterien nicht erfüllt werden müssen andere besondere Formen der Zusammenarbeit ( wie z.B. privilegierte Partnerschaften oder multilaterale Arrangements wie ein EWR II) gefunden und auch gegenüber den betroffenen Staaten vertreten werden. Wichtiger denn je in der kommenden Debatte wird auch zu unterscheiden sein zwischen Wiedervereinigung Europas und neuen Erweiterungsschritten. Die Einbindung der ehemals totalitär beherrschten Staaten Mittel- und Osteuropas in die Gemeinschaft der Europäischen Union ist nicht nur ein moralisches Gebot, sondern auch eines der sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Vernunft. Die Osterweiterung darf nicht zum Schuldigen für die Konsequenzen versäumter nationaler Reformen gemacht werden. Umgekehrt ist es richtig. Die Wiedervereinigung Europas ist die Voraussetzung um im globalen Wettbewerb bestehen zu können.

2. Das Europäische Sozialmodell - Welche Debatte

Es ist nicht unberechtigt zu vermuten, dass in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität der Ratifizierungsprozess des Verfassungsvertrages ein leichteres Spiel wäre. Die Bürger glauben dann wieder an die Europäische Union, wenn sie Wachstum und Arbeitsplätze schafft. Die Sorge über den wirtschaftlichen Kurs der Europäischen Union spielte, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung, eine prominente Rolle in den Referendumsdebatten in den Niederlanden wie in Frankreich. Dass nun eine Diskussion über die Zukunft des europäischen Sozialmodells in den Mittelpunkt der Diskussion rückt oder rücken soll ist richtig. Doch die Debatte über die ordnungspolitischen Grundvorstellungen und die richtige Wirtschaftspolitik sind so alt wie die Union selbst. Es sind die alten Fragen, wie viel Markt und wie viel staatliche Intervention nötig bzw. erlaubt sind und wie die Kompetenzen zwischen europäischer und nationaler Ebene am besten zu gestalten sind. Was sich verändert hat sind die Rahmenbedingungen und Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung. Der im Jahre 2000 beschlossene Lissabonprozess, in dessen Verlauf Europa sich innerhalb von zehn Jahren zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt entwickeln soll, ist der jüngste Versuch eine Antwort auf diese Fragen zu formulieren. Nach Ablauf der Hälfte der Frist mussten sich die Regierungschefs durch ein von ihnen selbst ernanntes Expertengremium bescheinigen lassen, dass sie ihre Ziele bislang verfehlt hatten. Man schraubt die Ansprüche etwas zurück, doch am eingeschlagenen Wege wollte man festhalten. Bereits auf dem Frühjahrsgipfel 2004 unter irischer Präsidentschaft hatten sich die Mitgliedsstaaten über die Kernelemente eines Konsenses verständigt. Die damaligen Schlussfolgerungen wiesen in die richtige Richtung: Ein klares Bekenntnis zu mehr Wettbewerb als Grundvoraussetzung für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme. Innovationskräfte freisetzen und mehr in Köpfe investieren. Lohn- und Steuersysteme so gestalten, dass Arbeit wieder lohnt. Mehr nationale und europäische Mobilität am Arbeitsmarkt. Ansätze für eine neue Sozialpartnerschaft. Das waren die Schlüsselbotschaften, verbunden mit einer unzweideutigen Kritik am Reformstau in einzelnen Mitgliedsstaaten. Die neue Kommission unter Präsident Barroso trat sogar an, den Lissabon-Prozess zu ihrem Markenzeichen zu machen. Die Prioritäten ihrer Arbeit sollten auf Wachstum und Beschäftigung als Voraussetzung für soziale Kohäsion und nachhaltige Entwicklung liegen. Bei der Vorstellung des Programms erhielt sie Rückendeckung einer großen Mehrheit des Parlaments wie auch der luxemburgischen Präsidentschaft. Doch als es um die Umsetzung ging zeigten sich Risse im Konsens. Erstmals wurde sie augenfällig bei der Auseinandersetzung um die sogenannte Dienstleistungsrichtlinie. Sie war noch von der Vorgängerkommission unter Frits Bolkestein konzipiert und in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden. Doch erst zu Beginn des Jahres wurde die Brisanz für die öffentliche Debatte in einigen Mitgliedsländern deutlich, insbesondere in Frankreich, wo sie in den Strudel der Verfassungsdebatte geriet. 50.000 Menschen aus den Mitgliedsstaaten demonstrierten am Wochenende vor dem Gipfel in Brüssel gegen die sogenannte „Frankenstein-Richtlinie“. Um die hitziger und emotionaler werdende Debatte zu entschärfen verständigte sich der Europäische Rat noch am Abend des ersten Tages darauf, dass der Entwurf der Richtlinie zwar nicht zurückgezogen werde - das kann nur die Kommission. Er müsse aber so geändert werden, dass das europäische Sozialmodell gewahrt bleibe. Es war derselbe Gipfel auf dem unter dem Druck Frankreichs und Deutschlands die Reform - d. h. Lockerung - des Stabilitäts- und Wachstumspaktes beschlossen wurde. Die Finanzielle Vorausschau, die dann im Sommer zum Eklat führte, hatte man damals bewusst nicht vertieft behandelt. Im Grunde also war die angekündigte Debatte inhaltlich schon in vollem Gange.

Die Kommission, als selbsternannter Motor der Reform, musste als erste dabei Federn lassen. Die Versuche, die nationalen Regierungen stärker in die Pflicht nehmen zu können dürften kaum greifen. Die Verantwortung für die notwendigen strukturellen Reformen der Wirtschafts- und Sozialsysteme liegt bei den Nationalstaaten. Auch der Verfassungsvertrag ändert an dieser grundsätzlichen Aufgabenverteilung nichts. Gleichwohl bleibt die Koordinierung und Abstimmung nationaler Projekt untereinander wie mit der Kommission und ihren Vorhaben, ein nicht zufriedenstellend gelöster Bereich. Das Verfahren, das der Europäische Rat zur Verbesserung der Politikgestaltung (Governance) auf der Frühjahrstagung verabschiedet und auf dem letzten Gipfel nochmals bekräftigt hat, reflektiert die Zurückhaltung der nationalen Regierungen sich zu binden. Ausgehend von den sogenannten „integrierten Leitlinien“ (Grundzüge der Wirtschaftpolitik; Leitlinien für Beschäftigungspolitik) die der Rat verabschiedet, sollen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Reformprogramme entwickeln und auf Ersuchen des Europäischen Rates bis Herbst 2005 vorlegen. Als Gegenstück soll die Kommission ein gemeinschaftliches Programm („Lissabon-Programm der Gemeinschaft“) vorlegen. Einmal im Jahr - beginnend im Herbst 2006 - berichten die Mitgliedstaaten über die Umsetzung ihrer nationalen Programme. Die Kommission wertet diesen Bericht aus. Basierend auf dieser Einschätzung zieht der Europäische Rat wiederum im folgenden Frühjahr Bilanz und „äußert“ sich zu eventuellen Anpassungen. Nach drei Jahren, 2008, nimmt die Kommission dann eine umfassende Bewertung der Fortschritte vor. Auf dieser Grundlage werden dann die “integrierten Leitlinien“, die „nationalen Reformprogramme“ und das „Lissabon Programm der Gemeinschaft“ - die beeindruckenden jeweiligen Kürzel der Programme sollen dem Leser erspart bleiben - für den nächsten Drei-Jahres-Zyklus erneuert. Am Ende dieses zweiten Zyklus ist die Lissabon-Dekade allerdings schon ein Jahr vorüber. Wo der europäische Mehrwert dieser Regelungen liegt und wie unter diesen bürokratischen Prämissen ein Ruck durch die Europäische Union gehen sollte erschließt sich nur schwer. Wenn es Tony Blair, der sich mit seiner Rede zum Protagonisten eines grundlegenden Reformkurses der EU stilisiert hat, gelingt diese Verkrustungen aufzubrechen dann hätte sich die Krise gelohnt.

Auf der Suche nach politischer Gefolgschaft aber steht der britische Premier vor einer schwierigen Gemengelage. So wenig wie es ein einheitliches europäisches Gesellschaftsmodell gibt - bei näherer Betrachtung tragen die plakativen Kategorien vom angelsächsischen, kontinentaleuropäischen oder skandinavischen Modell nicht weit - genauso wenig lassen sich die entscheidenden Koalitionen und Mehrheiten im Rat voraussagen. Sie werden sich bei der Finanziellen Vorausschau, sofern das heiße Eisen noch unter britischer Präsidentschaft angepackt wird, anders gestalten als bei der Frage der Akzeptanz von mehr Steuerwettbewerb innerhalb der Union oder wenn es um die Zukunft Dienstleistungs-Richtlinie oder REACH geht. Auch im Parlament sind die Fronten nicht klar; nicht ohne Ironie vermerkte der Parlamentspräsident, dass der Applaus für den Christdemokraten Juncker weit in das Mitte-Links-Lager (sprich Europäische Sozialisten) hineinreichte, während Blair großen Beifall auch von Mitte-Rechts (sprich Europäische Volkspartei) erhielt.

Die guten Vorsätze und klugen politischen Vorstellungen mit denen die Kommission dem Lissabon-Prozess zu neuem Leben verhelfen möchte - Deregulierung und Bürokratieabbau, Vollendung des Binnenmarktes, Stärkung der Wissensgesellschaft z.B.-, zeigen viele Überlappungen mit den britischen Vorstellungen. Doch der Präsident ließ den Zug, den die britische Präsidentschaft in Bewegung gesetzt hat zunächst einmal ohne eigene Standortbestimmung vorüberfahren. Generell steht die Kommission vor dem Dilemma, mit ihrem Bekenntnis zum Lissabon-Prozess, sich einen Schuh anzuziehen, mit dem eigentlich andere, sprich die Mitgliedstaaten, auf dem Reformpfad wandern müssten. Wenn die Europäische Union am Ende nicht liefert, dann wird man nicht den Finger auf die nationalen Hauptstädte richten, sondern nach Brüssel.

Eine Grundsatzdebatte über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft der Europäischen Union ist also leichter zu fordern als zu führen. Die Themen die es zu diskutieren gilt sind tägliches Brot der nationalen Auseinandersetzung. Auch sind die Herausforderungen klar umrissen - die Wachstumsraten der globalen Mitbewerber sind bekannt, ebenso wie ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Standortvorteile oder der schrumpfende Vorsprung der Europäer bei Technologie und Wissenschaft. Doch noch ist die Diskussion ohne richtige europäische Öffentlichkeit, findet sie nur ansatzweise Verkörperung in Führungspersönlichkeiten. Das Europäische Parlament sieht sich in dieser Auseinandersetzung zu Recht gefordert, wird seine Arbeitsweise und internen Strukturen darauf aber besser einstellen müssen. Öffentliche Ratsitzungen, wie einst im Verfassungskonvent vorgeschlagen, könnten ebenfalls einen ersten Beitrag leisten. Sicherlich ist die Kommission der Ort, wo der operative Konsens hergestellt werden muss; aber das braucht nicht nur reaktiv zu geschehen. Sie ist nicht nur Hüter der Verträge, sondern auch Motor der Integration. Daraus erwächst Führungsverantwortung. Sie muss ihre Versprechen zu Bürokratieabbau und Entschlackung des Acquis Communautaire ernst nehmen. Sie kann Zeichen setzen in Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament zur Chemikalien-Richtlinie z.B. Statt mit neuen Verordnungen im Umweltschutz den Lissabon-Prozess zu belasten, soll sie die Chance nutzen alte zu überprüfen und wo nicht zwingend zu verwerfen. Die Kommission braucht dazu das konstruktive Zusammenspiel mit nationalen Regierungen. Das heißt aber auch, Subsidiarität auf beiden Seiten ernst nehmen und die nationalen Spielräume nutzen und nutzen lassen; der Verfassungsvertrag hat hier verbesserte Wege aufgezeigt. Umgekehrt müssen sich die nationalen politischen Eliten in der Pflicht sehen, mit den Brüsseler Institutionen in eine konstruktive Zusammenarbeit zu treten und nicht diese als Sündenbock für eigene politische Fehler abzustempeln. Es sind die nationalen Regierungen, die in den Frühjahrsgipfeln eingegangene Verpflichtungen zur Reform ihrer Wirtschafts- und Sozialsysteme konsequent umsetzen müssen. Sie sind es, die das Tempo der Erweiterung bestimmen. Sie sind es zuerst, die den von ihnen unterzeichneten Vertrag über eine Europäische Verfassung gegenüber ihren Bürgern zu vertreten haben, weil er deren Bedürfnis nach mehr Mitsprache und deren Wunsch nach mehr Handlungsfähigkeit weiter entgegenkommt als es je auf europäischer Ebene der Fall war.

Es ist nicht die erste Krise, welche die Europäische Union in diesem Sommer durchlebt, nicht die schwerste und sicherlich nicht die letzte. Zurecht verweisen langjährige Beobachter auf Parallelen früherer Krisen in den sechziger, achtziger und neunziger Jahren. Seitdem ist viel passi ert in Europa und keineswegs nur zum Schlechteren; eher umgekehrt. Die Basis ist solide. Und es gibt Felder gemeinsamen europäischen Handelns, wie die Außen- und Sicherheitspolitik, die gleichermaßen existenziell sind wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik, auf denen die Entwicklung unerwartete Fortschritte machte. Möglich ist auch, dass Europa am Vorabend eines Wechsels zu einer neuen Führungsgeneration steht, der in Deutschland beginnt. Die Chancen sind gut; aber es muss in vielem ein Neuanfang sein. Denn es wäre falsch, die Dimension des Wandels, den die heutige „Europäische Union der 25 plus“ durchlebt, zu unterschätzen, auch wenn er sich noch nicht genau vermessen lässt.

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